Samstag, 25. Juni 2011

Eine kurze Geschichte des Liberalismus

Von Stefan Sasse

Statue Immanuel Kants
Der Liberalismus gehört zu den großen politisch-ideologischen Hauptströmungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Obwohl seine eigene Blütezeit vergleichsweise kurz war, ist seine Strahlkraft groß. Viele andere politisch-ideologische Hauptströmungen definierten sich in klarer Gegnerschaft zum Liberalismus, etwa der Konservatismus, der Faschismus oder der Sozialismus. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick zum Thema Liberalismus gegeben werden. Zu Beginn möchte ich vier Thesen zum Liberalismus aufstellen.

Vier Thesen zum Liberalismus

1) Liberalismus ist eine historische Grunddeterminante Europas seit der Aufklärung. Zentrales Postulat ist die Freiheit des Individuums, vulgo das Selbstbestimmungsrecht.

2) Die Grundforderung des Liberalismus ist die Beschränkung des staatlichen Interventionsrechts gegenüber der Individualsphäre. Dem liegt die Überzeugung zu Grunde, der Mensch sei ein Wesen, welches sich in Freiheit nach seinen eigenen Vorstellungen entfalten und nach diesen leben wolle. Das 19. Jahrhundert kann als Jahrhundert der Verfassungen gesehen werden. Die faschistischen und kommunistischen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts sind dabei die Umkehrung der liberalen Grundsätze.

3) Der Liberalismus ist eine Gesellschaftsform. Eine bestimmte Gesellschaftsgruppe nimmt dabei für sich Anspruch, das perfekte System zu kennen und etablieren zu wollen. Sie bilden eine Meinung und tragen diese als Forderung an die Politik.

4) Der Liberalismus kann ein Prinzip politischer Organisation sein, dessen Zweck in der Sicherung eines möglichst großen Freiheitsraums für das Individuum ist. Dazu gehören das Repräsentativsystem sowie die Gewaltenteilung als elementare Bestandteile („Nachtwächterstaat“). Damit verbunden ist die Vorstellung, dass Bedrohungen nur von außen kommen und soziale Spannungen oder ähnliches als Bedrohungsszenario nicht existieren. Dabei handelt es sich um eine bis heute lebendige Utopie. Es handelt sich um einen genuinen Topos liberalen Selbstverständnisses.

Europäischer Liberalismus im Vergleich

Zug der Frauen auf Versailles
Der englische Liberalismus beginnt in der Aufklärung mit dem Realismus Lockes. Seine zentrale Abhandlung von 1690 „Treatments of government“ behandelt die Trias „Leben, Eigentum, Freiheit (life, liberty, property)“.
Der französische Liberalismus beginnt mit der französischen Revolution und dem Motto „liberté, egalité, fraternité“. Fraternité bedeutet in diesem Zusammenhang die Abschaffung von Ständen und Klassen. Dadurch entfallen innergesellschaftliche Konflikte.
Der deutsche Liberalismus umfasst die Trias „Freiheit, Gleichheit, Bildung“.

Der englische Liberalismus

„Markt“ ist das entscheidende Moment der Notwendigkeit einer sozialen und politischen Richtung. Er hat dabei die Funktion der Garantie sozialer Mobilität. Es vollzieht sich die soziale Selbstbehauptung des Individuums. Es vollzieht sich also auch sozialer Aufstieg. Die Vorstellung eines Feudalherren mit vielen Rechten und den rechtlosen Bewohnern darunter in Korrelation mit dem „Markt“ sorgt für einen unvereinbaren Widerspruch, so dass die liberale Emanzipationsbewegung der erklärte Feind der Feudalherrschaft ist. Das antifeudale Denken im Ansatz Lockes entriegelt die Festlegung der ständischen Zugehörigkeit eines Menschen, die Grundlegung liberalen Denkens ist vollzogen. Der „Markt“ wird Aktionsfeld derer, die etwas besitzen und es dort handeln, um Gewinn zu erzielen. Ihre Herkunft ist dabei weniger wichtig als das Angebot, das sie präsentieren. Das damit verbundene Grundrecht der Freiheit erlaubt es dem Menschen nun, mit seinem Eigentum nach Gutdünken zu verfahren. Durch einen dadurch möglichen Aufstieg kann der Einzelne einen aristokratischen Lebensstil führen. Der Markt spielt selbst im englischen adeligen Gesellschaftssystem eine entscheidende Rolle, wo nur der Älteste den Adelstitel erbt und der Rest sich auf dem Markt bewähren muss.
Das Lock’sche System dient neben der Entgrenzung des Feudalsystems gleichzeitig der Eingrenzung der bürgerlichen Klassengesellschaft. Diese bürgerliche Klasse emanzipiert sich vom Adelssystem und schottet sich im Prozess ihrer sozialen Emanzipation gleichzeitig gegen die Klassen ab, die zusammen mit ihnen im Prozess der Industrialisierung in Bewegung geraten sind, die „labouring poor“. Die Frage nach der Bedeutung des Nicht-Besitzes im beginnenden industriellen Zeitalter wird bei Marx behandelt und entsteht die Ansicht, dass die „labouring poor“ auf dem „Markt“ nichts als ihre Arbeitskraft anzubieten haben. Nur derjenige, der sie kauft und nutzt kann daraus Gewinn ziehen, nicht aber der Besitzer der Kraft selbst. Das daraus resultierende soziale Problem bedeutet, dass der, der nichts hat, auch nichts erwirbt und die „labouring poor“ somit zu sozialer Immobilität verdammt sind. Aus dieser Fragestellung entsteht später der Sozialismus.
Die Trägerschicht der Idee der liberalen Trias lässt niemanden im Marktgeschehen mitreden, der kein Eigentum hat und damit nicht die Freiheit besitzt, sein Eigentum zu disponieren. Das ist die entstehende Industriearbeiterschaft. Die Theoretiker der „political economy“ und Reform des politischen Systems vertreten diese Abschottung und konstituieren sich selbst als Klasse. Dieser Prozess vollzieht sich zuerst in England und dient dort als Vorbild. Liberalismus und Bürgertum sind im Vorurteil damit untrennbar verbunden. Die Industrialisierung beginnt in England ab 1810 an Tempo und ist in den 1830er Jahren soweit fortgeschritten, dass die bürgerliche Klasse sich als solche begreift und rabiat gegen die Menschenmengen der „labouring poor“ zu kämpfen. Aufgrund der Zeitverzögerung ist die Abschottung des kontinentaleuropäischen Bürgertums gänzlich anderer Natur.

Der kontinentaleuropäische Liberalismus

Wilhelm von Humboldt
Die französische Entsprechung der englischen Trias entstand während der französischen Revolution und setzte sich durch die Napoleonischen Kriege fort. In Preußen entsteht durch den drohenden Untergang 1806 eine liberale Grundhaltung.
Die Formulierung „Freiheit, Gleichheit, Bildung“ findet sich in ihrer Krassheit nicht bei den zeitgenössischen Autoren, nimmt jedoch praktisch 1:1 die Funktion des englischen Markts ein. Sie wirkt zugleich als gesamtgesellschaftlicher Regelmechanismus. In der vorherigen aristokratischen Ständegesellschaft war Bildung nicht erforderlich, da der Stand vererbt und nicht erarbeitet wurde. Die Aufklärung stellte nun rationales staatliches Handeln in den Vordergrund und der „aufgeklärte Absolutismus“ forderte diese Rationalität von der Verwaltung ein. So konnte nicht nur auf Angehörige der feudal-aristokratischen Schicht zurückgegriffen werden, da diese nicht die nötige Kompetenz in dieser Menge aufwiesen, so dass ein Rückgriff auf nicht-adelige Akademiker nötig war. Bildung wird so zu einem Element antifeudaler Emanzipation. Es gibt interessanterweise kaum eine bekannte Persönlichkeit aus der Verwaltung oder dem öffentlichen Leben in Deutschland, die nicht irgendwann den Adelstitel erhalten hätte, seien es Goethe, Schiller, Ranke oder Siemens. Wer vorher adelig war, wurde erhöht. Bildung wird somit zum Element der Auflösung bestehender Klassengrenzen wie der Ziehung neuer. Bildung wurde somit in Deutschland zu einem Element bürgerlicher Klassenherrschaft. Was man als „Bildungsschatz“ qualifiziert legten die Angehörigen der gebildeten Schicht fest. Damit wurde auch festgelegt, wer und aus welchen Gründen keinen Zugang zum Bildungsschatz haben sollte. Das wurde zum Kern der Ideologie des deutschen Liberalismus’ des 19. Jahrhunderts, der bis heute noch fortwirkt.
Die Schicht der Arbeiter, die zu Sozialdemokratie und Sozialismus auf der einen, dem Nationalsozialismus auf der anderen Seite tendierten, kamen in ihrem Leben nie mit dem genuinen Liberalismus in Berührung. Vermutlich konnte der Nationalsozialismus auch wegen seiner dezidiert antiliberalen Thesen bei den Arbeitern so punkten.

Liberalismus als politisch-soziale Bewegung bis 1830

Der Liberalismus bis 1830 wird als Frühliberalismus bezeichnet. Er grenzt sich gegenüber der ständischen Werteordnung ab und nimmt gegen den Absolutismus Stellung. Er besitzt eine breite Anhängerschaft; die Träger der Bewegung werden europaweit als die „Kräfte der Bewegung“ bezeichnet. Aus dem Versuch der konservativen Kräfte, die „Kräfte der Bewegung“ einzudämmen, entstehen die „Kräfte der Beharrung“, deren Zentralfigur Metternich darstellt. Die Phase des Frühliberalismus ist also von dem langsamen Ausbreiten der fortschrittsorientierten Kräfte, noch sehr langsam und stark begrenzt in den 1820er Jahren, gekennzeichnet.

Liberalismus als politisch-soziale Bewegung bis 1850

Das Paulskirchenparlament 1848
Die Phase vom Umfeld der Julirevolution bis zum Ende der 1848er Revolution ist von der Vollendung der Industrialisierung gekennzeichnet. Damit verbunden sind wirtschaftliche und soziale Bewegungen, konkret werdend zuerst in England, später auf dem Kontinent. Die Wahlrechtsreform in England, Reaktion auf die Julirevolution in Frankreich, wurde eingeführt, um die Bürger, die wirtschaftliche Macht erlangt hatten in das politische System einzubinden um sie sich nicht gegen den Staat entwickeln zu lassen. Deswegen kommt es in England auch nicht zu Revolutionen wie auf dem Kontinent.
1832, auf dem Hambacher Fest, forderten Handwerker und Bürger Freiheitsrechte: liberté, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Wahlrecht und diverse andere. Verbunden wurden diese Forderungen mit der nach einer nationalen Organisation. 1834 wird der deutsche Zollverein gegründet, welcher den freien Wahrenverkehr im von Preußen dominierten Bereich Deutschlands ermöglicht. Man kann den Zollverein als Startdatum der preußisch dominierten Reichsgründung sehen. Gleichfalls 1834 beginnt, noch zaghaft, der Eisenbahnbau.
Die Interessen des aufsteigenden Besitz-, Wirtschafts- und Bildungsbürgertums nahmen in dieser Epoche ein zunehmend stärkeres Gewicht ein. Dieses Gewicht in wirtschaftsliberaler Ausprägung wurde in England dominierend, während die Forderungen in Deutschland lediglich so bedeutend werden, dass gegen die Liberalen nicht mehr regiert werden kann. Aus den Versuchen, dies zu unterbinden, entstand die 1848er Revolution und das Parlament der Paulskirche. Dieses Parlament besteht zum Großteil aus dem Bildungsbürgertum und lässt das Wirtschaftsbürgertum beinahe vollständig außen vor. Programmatisch wurde der Liberalismus zur Partei des Fortschritts. Dies verbindet sich unter dem Topos des Verlaufs mit der im Entstehen begriffenen Geschichtswissenschaft. Dabei ist im liberalen Selbstverständnis nicht vorgesehen, dass Fortschritt nicht im Positiven enden könnte. Dieses Selbstverständnis sieht auch vor, als geschichtlich wirkende Person dem Fortschritt zu dienen.

Liberalismus als politisch-soziale Bewegung bis 1870

Diese Epoche umfasst in Deutschland die Epoche der Reaktion (als Antwort auf 1848) und die Reichsgründung. Parteien spielten nur eine kleine Rolle, das politische Bild wurde von pragmatischen Machtpolitikern des konservativen Lagers bestimmt, von denen Bismarck und Schwarzenberg nur die Bekanntesten sind. Diese Politiker paktieren, wann immer es ihnen notwendig erscheint, mit den Liberalen und übernehmen auch pragmatisch-konservativ beeinflusste liberale Elemente in ihre Politik. Der Liberalismus als solcher jedoch war schwach.
Der zunehmende Wertverlust der Arbeiter durch die Industrialisierung und der Wegfall traditioneller Arbeitsfelder erzeugt Irritation und den Verlust gewohnter Lebensformen. Hier wird der Fortschrittsgedanke auch von der breiten Bevölkerung in Frage gestellt. Dadurch wird ein Prozess angestoßen, der sich Anhänger unter der Industriearbeiterschaft schafft. Dieser Prozess formt eine neue soziale Bewegung, die Sozialdemokratie.
Durch den Bedarf an den Fähigkeiten der bürgerlichen Repräsentanten formt sich bei diesen die Überzeugung, mit dem Fortschritt Schritt zu halten oder ihn gar zu steuern. Dieser Gedanke wird durch die beginnende Wirtschaftskrise 1873 deutlich erschüttert.

Liberalismus als politisch-soziale Bewegung bis 1880

Propagandaplakat, 1911
Die beginnende Große Depression 1873 bringt ans Licht, dass der deutsche Liberalismus nicht über die Integrationskraft verfügt, die Krise politisch zu meistern. Die Fixierung auf das Bürgertum rief hervor, dass er die Erwartungen anderer Gruppen, besonders des Industrieproletariats, nicht erfüllen konnte. Diese Fixierung machte nach außen einen klientel- und interessensfixierten Eindruck, so dass sich die Zukunftshoffnungen der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr auf den Liberalismus gerichtet waren.
Die deutsche Trias „Freiheit, Gleichheit, Bildung“ entsprang einer vorindustriellen, patriarchalisch-feudalistisch geprägten Welt und setzt besonders den vorindustriellen Status für die Utopie der klassenlosen Bürgergesellschaft voraus. Die selbst erlebte Vergangenheit der Liberalen konstruierte so deren Zukunftsentwurf. Die Idee einer in Klassen (Bürger, Arbeiter, …) geteilten Gesellschaft kannten sie nicht und konnten sie sich auch nicht vorstellen, da ihre Realität von einer aristokratischen und einer nicht aristokratischen Schicht dominiert wurde, die aufzulösen ihr Ziel war. In dieser Mittelstandsgesellschaft sollten alle Menschen aufgehoben sein. Explizit ausgenommen sind von dieser Vision Menschen, die keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hatten, weil sie keine Steuern bezahlten. Der Fortschritt, dem sich die Liberalen verschrieben hatten, wurde also nicht als technischer Fortschritt oder soziale Emanzipation verstanden, sondern die Vision der klassenlosen Bürgergesellschaft. Diese Vorstellungen wurden mit der Industrialisierung zu Grabe getragen. 1848 wurden die Liberalen angehalten, ihre Vision in konkrete Politik und Verfassung zu übertragen. Ihre Dominanz in der Paulskirche forderte dies; in der Praxis jedoch scheiterte dieser Prozess. Die Revolution jedoch beschleunigte die Veränderung der sozial-politischen Zustände. Die Industrialisierung setzte nach 1848 voll ein und riss die bürgerliche Gesellschaft voll aus ihrer Verankerung und beseitigte die ehemalige Vision, die nicht mit dem Fortschritt schritthalten konnte. Dadurch ergab sich ein stark verschmälertes Rekrutierungspotenzial aus den Gesellschaftsschichten, die bereits 1848 Bürger gewesen waren. Daraus resultierte wiederum ein Abschottungsprozess gegen Aufsteiger von unten. Dadurch froren auch die programmatischen Komponenten ein und waren 1870/71 nicht mehr zeitgemäß. Die Abschottung im Übrigen war ein informeller Vorgang; mit ihr verbunden war ein detaillierter Katalog filigraner Etikette. Aufgeschlossener bleibt das linksliberale Bildungsbürgertum.

Liberalismus als politisch-soziale Bewegung bis 1930

Kapp-Putsch 1920
Die Erfahrung durch die ersten Abschottungen des Liberalismus in der Großen Depression ließ die Liberalen zur Kenntnis nehmen, dass ihre Problemstellungen und Lösungen außerhalb ihres Milieus keine Anziehungskraft besitzen. Der Versuch eines Teils der Liberalen, wieder für mehr Verzahnungen zu sorgen – hier besonders durch Friedrich Naumann – konnte dabei keine bedeutende Revitalisierung herbeirufen. Bis zum Beginn des Dritten Reichs verschwand der Liberalismus in der praktischen Bedeutungslosigkeit.
Der Liberalismus in der bürgerlichen Klassengesellschaft im Kaiserreich ließ manifest werden, dass das bürgerliche Klassenbewusstsein langsam zerfiel. Das Bild der klassenlosen Bürgergesellschaft erwies sich als Utopie; die Liberalen als politische Größe entwickelten keine adäquaten Anpassungsfähigkeiten, woraus auch der Verfall ihres politische Status’ resultierte.
Die Liberalen des Kaiserreichs sind Verfechter einer Vision des von staatlichen Einfluss freien Kapitalismus’ und des unbedingten Primats des Eigentumsrechts. Aus diesem Grund können in Deutschland stärker als in anderen Ländern Konzernkartelle entstehen, da der Manchester-Liberalismus mit seiner Konzentration auf den Wettbewerbsgedanken dies deutlich erschwert. In Deutschland kommt es bereits früh zu einem Kompromiss zwischen Konzernen und Gewerkschaften: die Gewerkschaften erkennen den Besitzanspruch der Unternehmer an, während die Unternehmen die Gewerkschaften als berechtigten Verhandlungspartner bei Tarifverhandlungen anerkennen. Dieser Sachverhalt des entscheidenden Eigentumseinflusses bleibt bis ins Dritte Reich erhalten und wird erst durch die Amerikaner und Engländer beseitigt.
Die Industriearbeiterschaft hatte wie der Neue Mittelstand (Angestellte) im Gegensatz zum Bürgertum, aus dem sich die Unternehmer rekrutierten, keine Möglichkeit, Eigentum zu schaffen, da sie nur so viel erwirtschaften konnten wie sie zum Lebensunterhalt brauchten. Diese informelle Art der Abschottung des Besitzbürgertums nach unten wurde zur Etikette des Bildungsbürgertums hinzugefügt.  
Die Liberalen verkannten die immer wichtiger werdende Soziale Frage lange Zeit als moralisches Problem. Wer in ärmlichen Verhältnissen lebte und viele Kinder hatte war aus liberaler Perspektive selbst schuld. Um dem abzuhelfen, musste man diese Menschen durch restriktive Einschnitte moralisch bessern (dabei wurde verkannt, dass die vielen Kinder nicht einem gesteigerten Sextrieb, sondern existenziellen Bedürfnissen herrührten). Als moralischer Lehrer eignete sich natürlich der liberale Bürger am besten. Aus dieser Sicht entstanden lang anhaftende Vorurteile. Bildung wurde zum elementaren Element des liberalen Selbstverständnisses von der Wahrnehmung der Klassenexistenz. Bildung wurde als Lösung der Sozialen Frage angesehen, ohne die Fragestellung der Kosten dieser Bildung aufzubringen. Eine Annäherung der Sozialdemokratie und der Liberalen in dieser Frage gab es in Einzelversuchen wie Friedrich Naumann; letzten Endes jedoch blieb eine Anerkennung des Problems der Sozialen Frage auf einzelne Individuen unter den Liberalen begrenzt. Naumann (1860-1919) versuchte dabei - nicht erst im Weimarer Verfassungsprozess -, soziale Grundrechte in die Verfassung zu implementieren. Thomas Mann fasste den deutschen Liberalismus im Schlagwort „Dr. von Staat“ zusammen, der die starke Rolle der Obrigkeit, die Privilegierung und den Bildungsfaktor zusammenfasst.

Der Liberalismus im Ersten Weltkrieg

Deutscher Soldat 1916
Der Erste Weltkrieg hat in Europa insgesamt die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts weitestgehend zerstört. Alles, was vor dem WKI mit der bürgerlichen Welt verbunden war – wie fin de siècle (in Deutschland: Wilhelminismus, in England: Victorianismus) -, die enge Verbindung von Liberalismus und bürgerlicher Gesellschaftsform, ist soweit zerstört, dass sie nicht wiederhergestellt werden kann. Damit geht auch das Wertegefüge verloren, das das 19. Jahrhundert zumindest in der zweiten Hälfte dominiert hatte. Die Grundannahme hatte gelautet: man lebt im Fortschritt, und Fortschritt ist positiv. Eine weitere ist, dass die Entwicklung der Industrialisierung als Fortschritt zu bezeichnen, so das entstehende Industrieproletariat in den bürgerlichen Wertekodex eingebunden bleibt, also keine proletarische Revolution zu erwarten ist.
Der Weltkrieg bringt nun die Erfahrung, dass die industriell-urbane moderne Welt nicht den erwarteten Fortschritt bringt, sondern sich in Form industriellen Vernichtungspotenzials entfalten kann. Man wendet sich mit Grausen vom Fortschritt ab. Eine weitere Erfahrung entspringt den Massenheeren und –schlachten. In den Schützengräben entstand eine Gesellschaft der vollkommenen Egalité, da der Tod nicht zwischen Dienstgraden unterscheidet und man gemeinsam im gleichen Schmutz und in der gleichen Angst sitzt. Mit dem Niedergehen des Versorgungsgrades in der Heimat kommt dieser Effekt der Egalité, wenn auch abgeschwächt, in den Städten zum Tragen. Die Bildungsschichten verarmen, Kleinbürgertum und Arbeiterschaft ebenso und nähern sich so stärker aneinander an, während das Besitzbürgertum sich seinen Besitzstand weitestgehend erhält und so entfernt. Die Erfahrung des Frontkämpfers jedoch ist die eines Arbeiters an der Maschine des Krieges. Darüber verläuft eine Heroisierung des Soldaten im Maschinenmassenkrieg. Ein Beispiel ist der Schriftsteller Ernst Jünger, selbst Teilnehmer am Ersten Weltkrieg. Er stellte den Maschinenkrieg in seinem Buch „Im Stahlgewitter“, vor allem an der Westfront, als etwas Großartiges, Positives dar. Der maschinelle Krieg wird als positiver Fortschritt beschworen, jedoch nicht aus liberaler Sicht. Der daraus hervorgehende „Neue Mensch“, eben der Arbeiter an der Tötungsmaschine, ist Repräsentant der technisch-industriellen Welt des Ersten Weltkriegs und weist keinerlei Ähnlichkeit mehr mit irgendwelchen Typen des 19. Jahrhunderts auf.

Der Liberalismus nach dem Ersten Weltkrieg

Woodrow Wilson
Die politische, gesellschaftliche und kulturelle Neuordnung nach dem Krieg erfolgte nach gänzlich anderen Voraussetzungen als das 19. Jahrhundert, an das keine Anknüpfungspunkte bestanden. Das alte, positive Fortschrittsdenken hatte keinen Platz mehr. Viele dominierende Vorstellungen zu einer Neuordnung sind dadurch antibürgerlich - und antiliberal, wo Bürgertum und Liberalismus gekoppelt sind. Im Westen erfahren die liberalen Bewegungen eine Stärkung, während sie im Osten und Mitteleuropa eine Schwächung erfahren. Die Begründung der Entente für ihre Kriegsanstrengungen ist der Kampf für Freiheit und Demokratie gegen Autokratismus und Monarchie. Damit wird aber aus der deutschen Sicht das liberale Grunddenken des 19. Jahrhunderts zum antideutschen Instrument, wodurch die liberale Chance für das Nachkriegsdeutschland vertan ist.
Seit dem 18. Jahrhundert war der Liberalismus das verbindende Element zwischen Europa und Nordamerika. Der angloamerikanische Liberalismus spielt bis 1915/17 auf dem Kontinent praktisch keine Rolle, durch den amerikanischen Kriegseintritt und dessen propagandistische Fokussierung auf Freiheit und Demokratie wird er jedoch bald wichtiger. Die Losung Wilsons vom „making the world safe for democracy“ setzt sich zwar nicht durch, ihre Bedeutungssteigerung in Europa setzt sich jedoch bis zum Zweiten Weltkrieg kontinuierlich fort und gewinnt dann im Krieg selbst rasant an Bedeutung.
Der Liberalismus in Deutschland in der Zwischenkriegszeit marginalisiert sich von rund 22% Wählerstimmen 1919 auf rund 2% im Jahr 1932. Die Koalition, die sich 1941 als „Anti-Hitler-Koalition“ zusammenfindet, bestand aus Staaten angloamerikanisch-liberaler Prägung einerseits und bolschewistischer Einparteiendiktatur andererseits. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs kommen so Allianzen auf, die 1914 vollkommen undenkbar gewesen sind.
Aus den Revolutionen und der Inflation im Zuge des Ersten Weltkriegs erfolgte ein Kollaps und eine Infragestellung der Werte des Liberalismus:
1)      Das Misstrauen gegen Diktatur und Totalitarismus
2)      Das Eintreten für Parlamentarismus und Konstitutionalismus
3)      Verfassungsmäßig verankerte Rechtsstaatlichkeit
4)      Vernunft, Wissenschaft, Fortschritt, Erziehung und individuelle Freiheit im Kontext
Besonders die Auflösung des Kontextes aus 4) macht sich bemerkbar, da Fortschritt nicht mehr zu Freiheit, Erziehung nicht mehr zu Freiheit führen muss (z.B. Ostforschung und Führerkult). Das Phänomen der Loslösung von Vernunft und Wissenschaft von der Freiheit findet sich auch in Frankreich und England, die Loslösung der Erziehung jedoch bleibt den faschistischen und bolschewistischen Staaten vorbehalten.
Diese Infragestellung der liberalen Werte führt zu einem scheinbaren Widerspruch zur politischen Entwicklung, da viele Staaten neu auf Grundlage verfasster parlamentarischer Regierungen entstehen. Um 1920 existierten weltweit 60 Staaten mir freiheitlich gewählten Regierungen – 1944 waren es noch 12. Dieses Phänomen bedarf der Erklärung, nicht das im Zuge von Versailles Entstehen dieser Staaten. Es erklärt sich bei der Betrachtung der Grundlagen, auf die das demokratische System aufgepfropft wurde – eben die Infragestellung der liberalen Werte. Neben Monarchie und Faschismus bietet die bolschewistische Revolution ein weiteres System an, das antiliberal eingestellt ist.

Die Rechten

Miklos Horthy
- Militarismus, so beispielsweise Horty (Ungarn), Mannerheim (Finnland) und Pidulski (Polen). In Deutschland gehören besonders die Freikorps, die Reichswehr und Hindenburg hinzu.

- Konfessionalistische Rechte, orientiert an einem ständischen Staatsideal. Sie findet sich besonders in katholischen Regionen und überlebt auch die Zäsur von 1945, um sich weit in die Nachkriegsgeschichte fortzusetzen, so beispielsweise Salassar (Portugal) oder Dollfuß (Österreich), Angehöriger der deutsch-christlichen Bauernvereine. Dollfuß ist dabei stark antifaschistisch eingestellt und wird 1934 erschossen. Auch Franco (Spanien) kann zu dieser Fraktion gerechnet werden und ist allenfalls faschistoid.

- Faschismus/Nationalsozialismus, die modernste Form der Rechten. Hobspawn bezeichnet ihn als Triumph des Antiliberalismus. Die Faschisten/Nationalsozialisten waren Gegner einer Ideologie des Fortschritts und dadurch Feinde von Liberalismus wie Sozialismus, deren Fortschrittsgedanke im Kern identisch ist und durch ihren Massenaspekt Feinde der konfessionellen Rechten.
Der Vormarsch der rechten Kräfte ist auch eine Gegenbewegung zur bürgerlichen resp. bürgerlich-proletarischen Massengesellschaft, wie sie sich im Grunde 1918 bereits konstituiert hat. „Rechts“ unterteilt sich dabei in mehrere Gruppierungen, die sich je nationalem Kontext und Prägung in ihrer Intensität unterscheiden:

Der Aufstieg der Rechten war keine Reaktion singulär auf den Sozialismus, sondern eine Reaktion auf alle Bewegungen, die die im 19. Jahrhundert herrschenden Gesellschaftsordnungen bedrohten. Dadurch liegt auf der Hand, dass die 1918 aufgrund des Zusammenbruchs der Monarchien zu Tode erschrockenen Konservativen sich zum Schutz vor einer sozialen Bewegung eher gegen die radikale Rechte orientierten als auf einen Verfassungsstaat. Abgesehen von England bestand in Europa also kein Vertrauen der bürgerlichen Konservativen in den Rechtsstaat.

Liberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg

Im Zuge der Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg hat man das als Fehler gesehen. Das englische liberale System schien sich aus seinem Wertekanon heraus als Sieger erwiesen zu haben. Die wenigen überlebenden Demokraten aus der Weimarer Zeit machten das zum bestimmenden Element ihrer Vorstellungen, woraus dann beispielsweise die Kanzlerdemokratie mit einem starken Mann an der Spitze, der jedoch vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist resultierte. Bis zu dieser Einsicht, dass sich der liberale Parlamentarismus seiner Feinde erwehren muss/kann, brauchte es erst den Zusammenbruch von 1945. Das Ideal des Nachtwächterstaats ist damit erledigt.
Wenn man voraussetzt, der Liberalismus in Deutschland sei kollabiert, stellt sich die Frage, ob er sich aus eigener Kraft oder mit fremder Hilfe rekonstruierte. Der Erste Weltkrieg stellt dabei die Voraussetzung, dass die Aufklärung als mächtigste Unterströmung des Liberalismus in Frage gestellt worden war. In den Verfassungen der neuen demokratischen Länder nach dem WWI finden sich die liberalen Elemente des 19. Jahrhunderts, die keine Antwort auf die Frage beinhalten, wie man sich gegen innere Feinde zur Wehr setzen kann; der Staat wird dem Ideal des „Nachtwächterstaats“ weitgehend angelehnt.
Daraus entsteht nach 1945 der Grundgedanke der „wehrhaften“ bzw. „streitbaren“ Demokratie. Dieser Gedanke wird im GG verankert, als die Grundbedingungen für ein Aufleben des Liberalismus durch das angloamerikanisch geprägte Umwelt bereits gelegt sind. Beispiele für diese „wehrhafte Demokratie“ sind die Verbote von KPD und einer NSDAP-Nachfolgepartei. Der Radikalenerlass gehört ebenfalls in diese Tradition. Dies dient auch und besonders im Fall der KPD dem Verhindern eines territorialen Vordringens des feindlichen Blocks.
Die Entwicklung in USA und UdSSR sind dabei nicht vergleichbar, gleichwohl es Parallelen gibt. An die UdSSR richtete man zu Beginn der 30er Jahre die Erwartung, es werde einen Fortschritt zu einer Sozialdemokratisierung geben. Das öffentliche Interesse in den USA an den Nachkriegsordnungen ist nicht übermäßig hoch, da Versailles einen schalen Nachgeschmack hinterlassen hatte. Durch den Nicht-Beitritt zum Völkerbund bekundet Amerika Desinteresse am politischen Europa, behält jedoch Interesse am wirtschaftlichen Europa. Da es dadurch keinen Austausch mehr zwischen den USA und Europa gibt, entwickelt sich in den USA ein vollkommen anderer Liberalismus. Diese Entwicklung wirkt nach 1945 massiv auf Europa zurück.

Liberalismus in den USA in der Zwischenkriegszeit

Das Kapitol in Washington
Es entstanden zahlreiche Ideen, die Gesellschaft zu begreifen und steuerbar zu machen. Eine wichtige Komponente war die Idee des pragmatism und des consensus liberalism. Der consensus liberalism prägte die Roosevelt-Ära, wichtigster Ausdruck dieser Ära ist der pragmatism. Im folgenden wird sich auf die intellektuellen liberalen Zirkel an der Ostküste. Die Überlegungen zur Steuerung der Gesellschaften haben einen großen Einfluss auf den 1932 gewählten Präsidenten Roosevelt, der sich diese Menschen als Fachleute ins Weiße Haus holt. Der Börsenkrach hat dabei gezeigt, dass die liberale Welt nicht von selbst auf den Fortschritt zuläuft, sondern tatsächlich Steuerung bedarf. Der Versuch, die Schuldenprobleme des Ersten Weltkriegs mit den traditionellen Methoden zu lösen scheitert; die Gesellschaften Amerikas und Europas geraten in eine tiefe Krise. Die Kenntnisnahme der Industrialisierung und der damit verbundenen Konsequenzen wie Arbeitslosigkeit, Kapitalakkumulation oder Verschmutzung können nicht länger mit dem laissez-faire-Prozess geregelt werden. Es bedarf spezieller Konzepte. Dabei stellte sich der US-Liberalismus der Prägung des 19. Jahrhunderts selbst in Frage.
Dem republikanischen Liberalismus der USA ging es um das Individuum und nicht die Gesellschaft; staatliche und legislative Dinge berühren das Individuum nicht. In der Zeit des Kolonialismus konnte dabei jeder weitestgehend wirtschaften, wie er wollte, ohne einen anderen großartig zu stören. Trotz aller Brutalität des Prozesses waren genügend Ressourcen und Raum verfügbar. Dies änderte sich nach der vollständigen Erschließung des Westens. Der Fokus des neuen Liberalismus legte seinen Fokus auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung. Man musste nun komplett neu darüber nachdenken, was die Einzelnen tatsächlich in ihrem Erwerbsstreben taten. Der entstehende consensus liberalism ist dezidiert etatistisch, und das in einem Land, das bisher praktisch keine Staatlichkeit in diesem Ausmaß kannte. Das Vertrauen in die wissenschaftliche Planbarkeit seit der Jahrhundertwende war gewachsen, die Notwendigkeit durch den Ersten Weltkrieg bewiesen. So gibt es eine Verschmelzung von wissenschaftlicher Theorie und praktischer Umsetzung. Dabei bezieht sich diese neue Strömung nicht nur auf die Rüstungspolitik, sondern auf die gesamte Gesellschaft. Umgesetzt wird dieses Prinzip avantgardistisch in den Ford-Werken. Die Elemente der alten liberalen Trias Freiheit und Eigentum sollen nun auch vom Staat geplant und in die tagespolitische Realität implementiert werden. Diese Veränderung der liberalen Theorie ist revolutionär. Faktisch hatte sich der Liberalismus nach links verschoben, aufgrund der Oktoberrevolution auf der einen und, hauptsächlich, der neuen Dynamik der industriellen Entwicklung auf der anderen Seite.
Die so genannte „New Deal Order“ stellt dabei den Regierungsaspekt dieses Transformationsprozesses. Motor dieser Entwicklung waren die democrats, ohne dass die Entwicklung an eine Partei gebunden wäre. Diese New-Deal-Bewegung überwölbt dabei die relevante Zeit für den Zweiten Weltkrieg vom Beginn der Wirtschaftskrise. Sie wehrt sich gegen den klassischen Liberalismus und seine Theoretiker, die sich in den 40er Jahren formieren und ab den 70er Jahren die Führung übernehmen. Der New Deal läuft dabei vorrangig nach Keynes auf. Als Reaktion baut sich eine Gruppe Anti-Keynesianer auf, der die Idee vertritt, eine Einmischung des Staates führe automatisch zum Totalitarismus. Dies basiert auch auf den Erfahrungen von Nationalsozialismus und Kommunismus. Gebündelt wird dabei im New Deal die organisierte Arbeiterschaft, die im Bereich tätigen Intellektuellen, das Finanzkapital und Außenseiter wie die Schwarzen. Deren Gruppierung um die Demokraten macht deren Dominanz in der US-Politik jener Zeit aus. Für annähernd 35 Jahre prägen die New Dealer die USA.

Wirkungskraft des atlantischen Liberalismus auf Europa nach 1945

Ludwig Erhard 1957
Bis zu den 60er Jahren ist in West wie Ost eine Aufwärtsbewegung der Produktion zu beobacht, ebenso eine Expansion der kapitalistischen Staaten. Dieser Boom endet mit dem ersten Ölpreisschock. Die Schlagworte des Booms sind dabei Technisierung, Verwissenschaftlichung und Automatisierung.
Nach 1945 wurde der Liberalismus nirgendwo so restauriert, wie er vor dem WWII bestanden hatte. Die neue Trias des Post-1945-Booms lautet „Kapitalismus, Staat, Planung“. Sie erklärt, warum die Wirtschaft so außerordentlich lange erfolgreich war.
Es bestand eine Verbindung zwischen diesem Liberalismus und der sozialen Demokratie, mit der bereits vor dem Ersten Weltkrieg experimentiert wurde. In seiner Konsequenz konnte es jedoch erst jetzt durchgeführt werden. Der entstehende Liberalismus in Westeuropa (minus GB) bietet eine gesamtgesellschaftliche akzeptierte staatliche Steuerung. Eine wichtige Rolle nimmt dabei der Marshall-Plan ein, in dem der consensus liberalism eine entscheidende Rolle spielt, der mit dem deutschen oder auch nur europäischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit nichts gemein hat. Die Voraussetzungen für den Marshal-Plan bieten das Plateau für den Sieg des consensus liberalism. Diese Voraussetzungen bestehen in der Bereitschaft, gemeinsam über die Mittel zu beraten und auch die Besiegten mit ins Boot zu nehmen, eine parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft. Der Osten lehnt das Angebot ab; dadurch wird die Spaltung wirtschaftlich zementiert. Das Resultat besteht in einem homogenen, zum amerikanischen kompatiblen Wirtschaftsraum, abgeschottet gegenüber dem Ostblock und dadurch Element des Kalten Kriegs. Der consenus liberalism scheint dabei lange ohne parteipolitische Heimat, besteht jedoch subversiv entscheidend fort. Ab der zweiten Hälfte der 50er Jahre findet er jedoch Eingang in alle Parteien der BRD, besonders stark spürbar in der CDU und der Programmschrift „Wohlstand für alle“ von Ludwig Erhard. Die SPD rückt 1959 mit Godesberg nach. Der Marshall-Plan dient dabei gleichzeitig auch dazu, den Europäern den Kommunismus auszutreiben und gleichzeitig die Sozialisten hin zur Marktwirtschaft zu öffnen.
Diejenigen, die das marode Wirtschaftssystem der 20er Jahre kritisierten wurden von den Nationalsozialisten in die Emigration getrieben. Sie gehen häufig in die USA und geraten dort in den vom New Deal beeinflussten akademischen Bereich, den sie in sich aufnehmen. Dabei werden sie vom Funktionieren einer freiheitlich-libertären Gesellschaft überzeugt. Einige besondere Europakenner werden ab 1943/44 in die Nachkriegsplanungen einbezogen. In amerikanischer Uniform tauchen sie 1945 wieder in Europa auf und organisieren Rundfunk und Presse sowie ab 1948 die FU Berlin. Ihre Ideen kommen 1957 mit der EWG zum Durchbruch.

Bildnachweise:
Kant - Lord Horatio Nelson (gemeinfrei)
Zug der Frauen - Muse Carnavalet (gemeinfrei)
Humboldt - unbekannt (gemeinfrei)
Paulskirche - Leo von Elliott (gemeinfrei)
Plakat - Liberal Publication Department (gemeinfrei)
Kapp-Putsch - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)
Soldat - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)
Wilson - Pach Brothers (gemeinfrei)
Horty - Cserlajos (gemeinfrei)
Kapitol -  Noclip (gemeinfrei)
Ludwig Erhard - Dt. Bundesarchiv (CC-BY-SA 3.0)

Dieser Text basiert auf der zweiteiligen Vorlesung "Politisch-ideologische Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts" von Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel.

6 Kommentare:

  1. Ich habe dieses Blog vor ca. einem Monat entdeckt und sofort von vorne bis hinten durchgelesen, so begeistert war ich.

    Dieser Artikel ist aber unter aller Sau [1]. Z.B. ist im Abschnitt "Die Rechten" der einleitende Absatz ("Der Vormarsch der rechten Kräfte...") hinter die Aufzählung gerückt und in dem Satz "Im folgenden wird sich auf die intellektuellen liberalen Zirkel an der Ostküste." fehlt das Verb und das "sich" ist irgendwie unmotiviert.

    Aber was dem Artikel am meisten fehlt, ist der rote Faden, den du in deinen anderen Beiträgen so gut spinnen kannst.

    [1] Sorry für die Wortwahl, aber meine Kritik fällt deswegen so harsch aus, weil ich dein Blog ansonsten so sehr schätze.

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  2. Danke für Lob wie Kritik, du hast nicht Unrecht. Der Artikel hat auch andere Grundvoraussetzungen als die anderen.

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  3. Ich habe eine roten Faden gefunden) und bin auch sonst mit dem Artikel zufrieden, der zwar einiges nur anreißt, was wiederum aber dem Umfang geschuldet ist.

    Interessant wäre auch eine Geschichte der Entstehung des neuen Liberalismus in den Staaten nach 1945 - Hayek usw.

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  4. Wie immer ein interessanter Artikel - aber diesmal liest er sich wie Sperrholz. Koennen wir bitte den frueheren, fluessigen Stil wiederhaben? :)

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  5. Hi Til,

    ich weiß, ist Sperrholz. Ich bin zur Zeit ziemlich mit anderen Sachen eingespannt. Ich verspreche, es kommen jetzt ein paar holzige, danach wird es wieder besser.

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  6. "Dazu gehören das Repräsentativsystem sowie die Gewaltenteilung als elementare Bestandteile („Nachtwächterstaat“)."

    Soweit stimme ich zu. Man sollte erwähnen, dass bereits der "Urvater" des Liberalismus, Locke, sich Gedanken über Gewaltenteilung machte.

    "Damit verbunden ist die Vorstellung, dass Bedrohungen nur von außen kommen und soziale Spannungen oder ähnliches als Bedrohungsszenario nicht existieren. Dabei handelt es sich um eine bis heute lebendige Utopie. Es handelt sich um einen genuinen Topos liberalen Selbstverständnisses."

    Hier möchte ich widersprechen. Der Liberalismus leugnet mit Nichten, dass es auch Spannungen und Problemfelder im Inneren einer Gesellschaft geben kann!
    Im Gegenteil, grade die Gewaltenteilung, die Betonung der Rechte des Individuums und das Widerstandsrecht gegen eine ungerechte Regierung zeigen doch, dass der Liberalismus sich sehr wohl der Möglichkeit interner Konflikte bewusst ist. Die Staatsskepsis, die sich bei Leuten wie Locke oder den Amerikanischen Gründervätern zeigt, basiert sicherlich auch auf der Sorge, eine bestimmte (religiöse) Gruppe könnte den Staat dazu missbrauchen, ihre Vorstellungen über die aller anderen zu stellen. Deshalb das Einfordern von Religions- und Meinungsfreiheit und die Beschränkung staatlicher Autorität. In gewisser Weise ist dieser Liberalismus das Erbe der Erfahrung des englischen Bürgerkriegs.
    (In Frankreich basierte der Liberalismus wohl auf der Enttäuschung darüber, dass seit der Revolution und Restauration, der Juli-Monarchie usw. die Regierung immer wieder wechselt, so dass es keine "Rechtssicherheit" gab.)

    Auch stimmt es keineswegs, dass der Liberalismus gar keine Antwort auf soziale Fragen bieten will, sondern sich nur auf die Stellung des Staates bezieht. J. S. Mill oder solche Leute wie von Mises hatten sehr wohl konkretere Vorstellungen. Ja schon Smiths "unsichtbare Hand" ist der Versuch einer Antwort.

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