tag:blogger.com,1999:blog-38768416840693186662024-03-14T13:12:45.560+01:00GeschichtsblogSine ira et studioStefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.comBlogger524125tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-15798039398336791562024-03-11T08:30:00.005+01:002024-03-11T08:30:00.152+01:00Rezension: Lutz Raphael - Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom<p> </p><p><img alt="" cegx66v6c="" height="1" src="https://vg01.met.vgwort.de/na/a4cddab9cbbd4272b18bedc35670bb35" width="1" /><a href="https://www.amazon.de/Jenseits-von-Kohle-Stahl-Gesellschaftsgeschichte/dp/3518587358?crid=3L3PEDPDP0DUQ&keywords=jenseits+von+kohle+und+stahl&qid=1699898730&sprefix=jenseits+von+kohle+und%2Caps%2C174&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=955e1973fc94222e38fcaf3ac762da97&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Lutz Raphael - Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom</a></p><p><img alt="" class="alignleft" height="262" src="https://m.media-amazon.com/images/I/71c-bugiXsS._SL1500_.jpg" width="165" />Ende der 1960er Jahre begann eine der größten Verwerfungen seit der Industriellen Revolution, die häufig unter "Strukturwandel" gefasst wird: die Deindustrialisierung Europas zugunsten eines stark anwachsenden Dienstleistungssektors. Der Typus des "Malochers", der so lange das Bild des Arbeiters bestimmte und der für das Selbstbild der Nachkriegs-Wachstums-Ära so entscheidend war, begann an Strahlkraft zu verlieren. Stattdessen rutschten die westlichen Industriegesellschaften in eine Strukturwandelskrise, aus der sie als Dienstleistungsgesellschaften wieder auftauchten sollten. Lutz Raphael legt mit "Jenseits von Kohle und Stahl" eine vergleichende Sozialgeschichte, die die Entwicklung ab dem Ende der 1960er Jahre bis in die 1990er Jahre hinein in Deutschland, Frankreich und Großbritannien nebeneinderstellt. Forschungsansätze verschiedener Art, die den Umbruch "von unten", aus der Perspektive der Betroffenen, erklären sollen, verknüpft er dabei mit einer klassischen Ereignisgeschichte, die gleichwohl stets die große Thematik im Blick haben soll. Inwieweit dieser Forschungsansatz aufgeht, soll die Rezension klären. <span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Der <strong>erste Abschnitt</strong>, "<em>Die Vogelperspektive: Drei nationale Arbeitsordnungen im Umbruch</em>", beginnt in <strong>Kapitel 1</strong>, "<em>Industriearbeit in Westeuropa nach dem Boom: Die politökonomische Perspektive</em>", erst einmal mit Raphaels Versuch, die wirtschaftlichen Grundzüge der Epoche quasi noch aus der Vogelperspektive zu beschreiben. Er sieht einen grundlegenden Prozess der Deindustrialisierung in Westeuropa ab den 1960er Jahren, der aber regional höchst unterschiedlich verlief. Der grundsätzliche Trend der Tertiärisierung, also des Bedeutungszuwachses der Dienstleistungen, verlief in Großbritannien mit der stärksten Intensität, während in Frankreich und Großbritannien die meisten der neu entstehenden Dienstleistungssektoren an den industriellen Kern gekoppelt blieben. Dieser Prozess lässt sich nur global verstehen, denn er ging Hand in Hand mit der gleichzeitigen Industrialisierung Südostasiens (die gleichwohl außerhalb von Raphaels Studie liegt und daher hier nur referenziert wird). Rapahel bezeichnet dies als eine grundlegende "Neuverteilung" der industriellen Substanz in globalem Maßstab.</p><p>Dies hatte Arbeitsplatzverluste von rund 10% im industriellen Sektor zur Folge, die allerdings zu 20-25% ein Statistikeffekt waren, da die Unternehmen viele Jobs in Tochterfirmen auslagerten, die offiziell Dienstleiter sind. Die grundsätzliche Qualität und Anforderungsprofile dieser Jobs blieben weitgehend erhalten. Rund 50% der Jobverluste entsprachen Verlagerungen in die Billiglohnländer und waren unwiderbringlich verloren, weitere 25% stellten Rationalisierungsopfer dar, die der steigenden Effizienz und dem Siegeszug der Mikroprozessoren geschuldet waren (dazu später mehr).</p><p>Die Globalisierung ab den 1980er, besonders aber den 1990er Jahren war hierbei der größte Treiber der strukturellen Verschiebungen, und in diesen beiden Dekaden fand auch der Großteil der Arbeitsplatzverluste statt. In Großbritannien startete der Trend bereits in den 1970er Jahren und hatte wie bereits erwähnt wesentlich durchschlagenderen Effekt. Dagegen entstanden in Frankreich die relativ geringsten Verluste an Arbeitsplätzen im industriellen Sektor. In der BRD waren die absoluten Zahlen wegen der großen Ausgangsbasis - kein Land im Westen war so stark industrialisiert wie Westdeutschland - hoch, aber nur wenige Sektoren (vor allem Textil- und Schwerindustrie) verschwanden vollständig, die meisten blieben erhalten. Das betraf in allen Ländern Schlüsselsektoren (man denke nur an die Autoproduktion in der BRD!) blieben. Vereinfachend gesagt: Für den Binnenmarkt produzierende Branchen blieben, für den Weltmarkt produzierende Branchen gingen. Eine westdeutsche Besonderheit war der weitgehende Bestandserhalt der Werkzeugmaschinenhersteller, die nur hier als Sektor erhalten blieben, weil sie einen Prozess der Hyper-Spezialisierung unterliefen, der ihnen Marktnischen als Weltmarktführer sicherte. Eine Gemeinsamkeit aller drei Länder dagegen war der Bedeutungszuwachs kleiner und mittlerer Unternehmen, was den Anteil an der Industrie anbelangte. Dieser Zuwachs allerdings wurde durch den gleichzeitigen Prozess der Kapitalkonzentration konterkariert, der den Großunternehmen relativ mehr Macht als je zuvor zugestand.</p><p>Dazu kam, dass der Bedeutungsgewinn von Mikroprozessoren und Robotern eine riesige Investitionswelle bedeutete, die gewaltige Kapitalmengen erforderte, was wiederum die Großunternehmen begünstigte. In jedem Fall sorgte dieser Modernisierungstrend für massive Produktivitätsgewinne auf Kosten der Beschäftigung. Damit ging auch eine Komplexitätssteigerung der Arbeit einher, die unqualifizierten und niedrigqualifizierten Arbeitskräften ihren unsicheren Aufstieg in die untere Mittelschicht abrupt beendete und in vielen Fällen existenziell gefährdete. Die Adaption dieser neuen Technologien fiel in der Produktion sehr unterschiedlich und wurde nach dem Prinzip <em>trial and error</em> durchgeführt. Wesentlich klarer waren Effekt und Umsetzung in den Unternehmensorganisationen: die Hierarchien wurden flacher, es wurden bestehende Tätigkeiten outgesourced, was zu Arbeitsplatzverlusten führte. Auch dieser Trend aber wurde konterkariert, in dem Fall durch den Bedarf an zusätzlicher, neuer Verwaltung für die komplexer werdenden Lieferketten, die allerdings auch größere Fertigkeitsniveaus erforderten.</p><p>Auch die Finanz- und Wirtschaftspolitik spielten eine wichtige Rolle, weil sie die Profitmargen der Unternehmen veränderte. Die Stagflation, der 1970er Jahre und die Rezession der frühen 1980er Jahre etwa hatte große Auswirkungen auf die Unternehmensbilanzen. Der Umschwung in der Wirtschaftspolitik zu Beginn der 1980er Jahre (Thatcher, Mitterand, Kohl) veränderte die Struktur der Wirtschaft ebenfalls grundlegend. In allen drei Nationen führte er zu einer Privatisierungswelle, deren Ausmaß allerdings sehr unterschiedlich war. In Großbritannien waren sie naturgemäß wieder am stärksten, aber hier hatten auch große nationale Unternehmen bestanden, wie es sie etwa in der BRD gar nicht gab. Das Land trieb daher die Entindustrialisierung politisch voran und riss dabei Lücken in die Wirtschaftsstruktur, die durch Importe geschlossen wurden, und setzte auf die Finanzindustrie und den Standort London als neue Wirtschaftstreiber, mit all den bekannten Folgen. Im Gegensatz dazu reagierten die BRD und Frankreich mit Erhaltungssubventionen auf den Prozess und bremsen ihn so sozialverträglich (wenngleich zu hohen Kosten) ab.</p><p>Die Entwicklung zum Finanzmarktkapitalismus mochte zwar in Großbritannien ihren Vorreiter gefunden haben, fand aber grundsätzlich in ganz Westeuropa statt. Die Bedeutung des Kapitals wuchs wie bereits beschrieben massiv an und führte zu einer Unterwerfung der Wirtschaft unter den Primat des Shareholder Value und der Banken. Damit ging ein anderes Mindset einher, das ich als Aufstieg der Manager (gegenüber den Unternehmern) beschreiben würde. Auch bei der Internationalisierung der Unternehmensstrukturen war Großbritannien Vorreiter, während Frankreich und Deutschland erst in den 2000er Jahren diesen Prozess nachvollzogen, da vorher starke Verknüpfungen der Unternehmen mit den nationalen Banken bestanden hatten ("Deutschland-AG"). Dieser Prozess brachte auch ein deutlich gesteigertes Innovationstempo hervor; Raphael geht darauf nicht ein, aber es ist kein Zufall, dass der Ostblock gerade in dieser Epoche wirtschaftlich abgehängt wurde.</p><p>Die beschriebenen Trends bedeuteten für viele Arbeiter*innen das Ende des (möglichen) Aufstiegs in die Mittelschicht und für viele andere den Absturz in die Prekarität. Die Jahre waren von einer deutlichen Zunahme instabiler Erwerbsverläufe gekennzeichnet. In Großbritannien und Frankreich litten besonders die Jugendlichen unter hoher Arbeitslosigkeit; das deutsche duale System integrierte diese im Gegensatz dazu viel besser und hatte daher eine niedrigere Jugendarbeitslosigkeit. Auch die Lage der Frauen ist bemerkenswert: die Textilarbeiterinnen, die den Großteil der Beschäftigten in diesem Sektor ausmachten, verschwanden weitgehend geräuschlos (ganz anders als die männlich dominierte Montanindustrie). Viele der Opfer dieser Arbeitsplatzverluste fanden sich im deutlich schlechter bezahlten und wesentlich weniger angesehenen Dienstleistungssektor wieder. Dieser etablierte sich in allen drei Ländern für alle Gruppen, aber eben besonders für Frauen.</p><p>Zusammengefasst: der Niedergang der traditionellen Industrien schaffte eine Beschäftigungskrise; die Deindustrialisierung war verknüpft mit einer weltweiten Neuverteilung von industriellen Ressourcen; der Finanzmarktkapitalismus übernahm vor allem in Großbritannien das Ruder, während in Frankreich und Deutschland Spielräume und Idiosynkratien erhalten blieben; ein genereller Rückzug der Rolle des Staates in der Wirtschaft war zu beobachten; und Deutungskämpfe um all diese Geschehnisse brachen aus - die Raphael in Kapitel 2 näher untersucht.</p><p><strong>Kapitel 2</strong>, "<em>Der Abschied von Klassenkämpfen und festen Sozialstrukturen</em>", schaut dann näher darauf, wie die Deutungskämpfe um die in Kapitel 1 geschilderten Prozesse abliefen. Grundsätzlich postuliert Raphael eine Problematik, das "Meinungswissen" (also das Wissen der Menschen darüber, wie sie Meinungen bilden, wobei dieses Wissen unterbewusst abgespeichert und abrufbar ist) über lange Zeiträume klar zu erfassen. Das macht jede Untersuchung dieses Gegenstands zwangsläufig schwierig.</p><p>Er rät in jedem Fall zu Vorsicht bei klaren Siegesnarrativen, etwa für den Neoliberalismus; die reale Lage war viel differenzierter und lässt sich nicht so leicht vereinfachen. Der Neoliberalismus war zwar ab den 1970er Jahren im Aufschwung, aufbauend auf der Idee, dass ein jede*r des eigenen Glückes Schmied*in sei, wurde aber in jenen Jahren vor allem durch das allgemein verbreitete Krisengefühl befeuert. Er bot aber keine klaren Handlungsanweisungen, weswegen die mit ihm verbundenen Schlagworte eher diffus waren ("Modernisierung", "Dienstleistungsgesellschaft").</p><p>Nach diesen grundlegenden Überlegungen wechselt Raphael in die nationalen Perspektiven. Die Analysen waren in Großbritannien immer klassenzentriert, mit einer entsprechenden Sprache. In Deutschland (Ost wie West) dagegen zog man aus Weimar die Lektion, keinen Gegensatz von Nation und Proletariat mehr zuzulassen und vermied daher größtenteils solche Sprache in der Mobilisierung der Arbeiterklasse. Die Idee vom "Industriebürger" ersetzte die des "Industriearbeiters". In Frankreich schließlich waren jahrzehntelang Kleinbürger der zentrale Bezugspunkt gewesen. Die Arbeiter rückten nur kurz in der Boomphase in die öffentliche Aufmerksamkeit, und diese Aufmerksamkeit ruhte stets auf einem prekären Kompromiss der Konservativen und der "Klassenparteien", der mit dem Ende des Booms wieder aufgekündigt wurde.</p><p>Daher sind die amtlichen Sozialdaten nur schwer vergleichbar. In Frankreich wurden die Arbeiter durch kommunistische Wahlerfolge aufgewertet, so dass die Gesellschaft ab 1947 in fünf Klassen eingeteilt wurde: <em>cadres</em> (die Elite), <em>professions intermédiaires</em> (höhere Angestellte), <em>employés</em> (Angestellte), <em>ouvriers </em>(Arbeiter), <em>agriculteur/artisans/indépendants</em> (Bauern/Künstler/Unabhängige, oder auch schlicht: Sonstige). Diese Anerkennung einer klaren Klassenstruktur macht die französische Taxonomie der britischen ähnlicher als der westdeutschen. Hier hab es die <em>professional occupations</em>, <em>intermediate occupations</em>, <em>skilled occupations</em>, <em>partly skilled occupations </em>und <em>unskilled occupations</em>. Versuche unter New Labour, diese Struktur zu modernisieren, fanden in der Öffentlichkeit wenig Anklang, weswegen das System grundsätzlich immer noch in Nutzung ist. Die BRD nutzte nur die drei Großkategorien, die bereits Bismarcks Sozialversicherungssystem gestaltet hatten: Arbeiter, Angestellte, Beamte. Die amtlichen Statistiken verfolgten stets das politische Ziel, Klassengegensätze zu negieren ("Nivellierte Mittelstandsgesellschaft").</p><p>Wenig überraschend interpretierte die BRD die Deindustrialisierung auch als eine Auflösung von Klassen und Schichten. Es gab zahlreiche Versuche, Deutungsmuster zu funden ("Risikogesellschaft" (Beck), "Erlebnisgesellschaft" (Schulze), "Informationsgesellschaft" (Bell). Beliebt in der bundesdeutschen Soziologie ist auch die Konstruktion der <a href="https://www.sinus-institut.de/sinus-milieus/sinus-milieus-deutschland">Sinus-Milieus</a>. Diese Entwicklungen untergruben die alte Mobilisierungssprache nachhaltig. In Frankreich und Großbritannien dominierten amerikanische Deutungsmuster, die in der Deindustrialisierung vor allem eine Individualisierung betrachteten. Alle drei Länder erlebten einen Aufschwung kritischer Berichterstattung über "Problemgruppen", die sich diesem neuen Trend zu verweigern schienen (Arbeitslose, das Prekariat, etc.). Die alte Arbeitsgesellschaft verschwand fast völlig aus dem Blickfeld. Stattdessen entstand das Bild einer Gesellschaft, die die Kontrolle über ihre Ränder verloren hatte. Andere Scheidungslinien wie Rassismus und Sexismus wurden immer bedeutsamer. In der Soziologie breitete sich eine generelle Skepsis aus, inwieweit man überhaupt noch Kollektive fassen könne.</p><p>Zu diesem Prozess gehörte auch die Veränderung der politischen Kommunikation. Die Auflösung der traditionellen Milieus einerseits und der Siegeszug des nivellierenden Fernsehens andererseits erzwangen eine Anpassung der Parteien an die neuen Kommunikationsformen, die die alten Mobilisierungssprachen weitgehend verdrängte. In einer gewissen Weise war dem aber ein falscher Frühling der Klassensprachen vorausgegangen, der durch die günstige Beschäftigungssituation und das links-sozialistische Meinungsklima der 1960er Jahre geschaffen worden war. In Frankreich und Großbritannien war dieser Trend aber dank der stärkeren Klassenstrukturen wesentlich weniger ausgeprägt als in Deutschland.</p><p>In Frankreich verloren die sozialistischen Kampfbegriffe angesichts der Repression des Ostblocks 1956/68 massiv an Attraktivität, während umgekehrt die Mittelschicht ins Zentrum sozialdemokratischer Rhetorik zu rücken begann, ein Prozess, den auch New Labour und Schröders SPD rapide nachvollzogen. Die Sozialdemokratie wurde zunehmend zu einer Partei des Öffentlichen Dienstes und der Angestellten, was sich in ihrer Sprache deutlich abzeichnete. Auch hier sticht die deutsche Situation heraus, da der DGB bereits nach 1945 die Klassenrhetorik Weimars abgelegt und sich auf den Catch-All-Begriff "Arbeitnehmer" festgelegt hatte. Um den Bedeutungsverlust der Arbeiter zu kompensieren bemühten sich die Gewerkschaften um die Aufhebung der alten Trennlinie, was final 2003 gelang.</p><p>Mit ihrem Verschwinden wurde die Arbeiterklasse immer zu einem Gegenstand von Kunst und Kultur. Die Produkte von Arbeiter*innen selbst hatten dabei keinen Erfolg; es waren Arbeiten von aus der Mittelschicht stammenden Intellektuellen ÜBER die Arbeiterklasse, die reüssierten. Dadurch wurde sie zunehmend exotisiert. Zwar wurde sie romantisiert; dies führte aber gleichzeitig zu einem Schein des Gestrigen und Vergangenen, was durch die offizielle Erinnerungspolitik (die vielen Zechenmonumente im Ruhrgebiet etwa) noch verstärkt wurde. In Großbritannien entwickelte sich ein eigenes Genre von Spielfilmen, vor allem im komödiantischen Genre, die die Arbeiterklasse thematisierten. Üblicherweise wurde, wie etwa in "Billy Elliot", der Ausbruch aus diesem dem Untergang geweihten Milieu als erstrebenswert dargestellt.</p><p>Zum Abschluss des Kapitels fasst Raphael noch einmal seine wichtigsten Befunde zusammen. (1) Die Sprachen, die Arbeitern eine kollektive Existenz gegeben hatten, wurden leiser. (2) Ihre politischen Repräsentationsformate lösten sich auf. (3) Gesellschaftliche Ungleichheit wurde zwar im Diskurs nur noch als "Kaleidoskop feiner Unterschiede" thematisiert, von den unteren Schichten aber durchgehend als "wir gegen die" wahrgenommen. Raphael wendet sich daher entschieden dagegen, die Arbeiterklasse als verschwunden anzusehen, nur weil dies im öffentlichen Diskurs postuliert wird.</p><p><strong>Kapitel 3</strong>, "<em>Politikgeschichte von "unten": Arbeitskämpfe und neue soziale Bewegungen</em>", beginnt Raphael mit der Feststellung, dass die Arbeiterbewegung bis in die 1970er Jahre ein aktivistisches, progressives Geschichtsverständnis stetigen Fortschritts durch Protest hatte, das sich danach nachhaltig zerschlug. Neue Bewegungen dockten an die Protestmethoden an und machten sich sicht- und hörbar. Da Arbeiter*innen üblicherweise keinen Zugang zu materiellen oder kulturellen Ressourcen haben, bleiben sie ohne schlagkräftige Organisationen wie die Gewerkschaften ungehört. Raphael will deswegen betriebliche Auseinandersetzungen stärker unter die Lupe nehmen, spiegelbildlich zu Kapitel 1 ihren Einfluss auf die Wirtschaftspolitik untersuchen und die "Ereignisse" (große Streiks etc.) betrachten.</p><p>Streiks wurden in den drei Ländern unterschiedlich gehandhabt. In Großbritannien waren sie rechtlich praktisch unreguliert und oblagen einem "anything goes", während die BRD das Streikrecht am schärfsten begrenzte. Frankreich bildete hier den Mittelweg. Gleichwohl betrachteten während des Booms 1948-1973 die Gewerkschaften Frankreichs den Streik als ein regelmäßig anzuwendendes Mittel der Klassenbildung, während die britischen und westdeutschen Gewerkschaften auf Kooperation mit der Sozialdemokratie setzten (und im deutschen Fall auf die Tarifpartnerschaft).</p><p>Sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien gelang es den Gewerkschaften Anfang der 1970er Jahre, gewaltige Erfolge durchzusetzen. Sie erlangten Inflationsausgleiche und andere monetäre Ergebnisse, aber anders als in der Bundesrepublik, wo die Löhne ebenso (und ohne riesige Streiks) stiegen wurden die Streiks von beiden Seiten auch als Kampf um die Wirtschaftsordnung wahrgenommen und geführt. Der britische Bergbaugewerkschaftsführer Arthur Scargill etwa brachte den Konservativen 1972 und 1974 vernichtende Niederlagen bei, die bei den Tories zur Erstellung einer neuen Strategie absoluter Härte und totalen Kampfes führten, die dann 1984 exerziert wurde - mit durchschlagendem Effekt. Auch in Frankreich gelang es den Gewerkschaften zu Beginn der 1980er Jahre nicht, ihre Erfolge zu wiederholen. Zwar versuchte die Regierung Mitterand kurzzeitig, Nationalisierungen durchzusetzen. Jedoch mussten sie unter dem Druck der wirtschaftspolitischen Wende (Neoliberalismus, Monetarismus, Kapitalisierung, siehe Kapitel 1) schnell eine Kehrtwende hinlegen.</p><p>In der Bundesrepublik brach 1987 eine Welle militanterer Streiks im Ruhrgebiet aus, als unerwartete Betriebsschließungen auch junge Arbeitnehmende betrafen. Vor allem die ausgleichende Politik der SPD-Regierung im Land entschärfte den Konflikt. Am relevantesten aber war die beginnende Kampagne für die 35-Stunden-Woche. Diese Forderung war hochumstritten und sollte von Seiten der Gewerkschaften Arbeitsplatzverluste reduzieren. Die Arbeitgeber lehnten sie vehement ab. Auffällig war die starke Politisierung; die CDU/CSU stellten sich emphatisch auf die Seite der Arbeitgeber, und mit Dehnungen und Übertretungen des Streikrechts wurde versucht, die Streikkassen der IG Metall überzustrapazieren. Der resultierende Kompromiss der 38.5-Stunden-Woche ist für Raphael vor allem darin bedeutsam, dass er einerseits einen Trend zur Flexibilisierung von Tarifverträgen begründete, andererseits aber die Wirtschaft auf den Pfad der Produktivitätssteigerung und Rationalisierung festlegte.</p><p>Das Zeitalter der großen Streiks aber war vorüber. Ein Gefühl der Machtlosigkeit machte sich breit, das zusammen mit der demobilisierenden und entmündigenden Massenarbeitslosigkeit die politische Aktion "von unten" drastisch unattraktiver machte. Dazu kam die beschriebene Entwicklung, dass die Schuld für die Deindustrialisierung den arbeitslosen Arbeiter*innen selbst aufgebürdet und so individualisiert wurde; das Thema wurde in den Medien zudem banalisiert und kaum mehr berichtet. Der letzte Faktor war eine Entpolitisierung: die Wende der Linksparteien zu marktbasierten Konzepten ab den 1980er Jahren nahm den Staat als Adressat von Forderungen aus dem Spiel, da die etablierten Alternativen von Verstaatlichung und direkten wirtschaftlichen Eingriffen nicht zur Verfügung standen. Gleichzeitig gab die Politik viel Geld aus, um die Folgen abzudämpfen und das Thema so weiter aus den Schlagzeilen zu halten, mit entsprechenden Folgen für die Schuldenstände.</p><p><strong>Kapitel 4</strong>, "<em>Von Industriebürgern und Lohnarbeitern: Arbeitsbeziehungen, Sozialleistungen und Löhne</em>", geht wesentlich tiefer auf das Konzept des Industriebürgers ein. Raphael konstatiert, dass ein ganzes Bündel von Gesetzen, Sozialleistungen und vertraglichen Vereinbarungen über den eigentlichen Arbeitsvertrag hinaus die Lebensrealität bestimmten. Die Boomphase mit ihrer Stärkung der Gewerkschaften hatte zu einer mehrfachen Absicherung des Lohnarbeitsverhältnisses geführt, die synonym mit "guter Arbeit" geworden war. Das bedeutete für Arbeiter*innen konkret die kollektiv-tarifrechtliche Absicherung von Löhnen und Arbeitsbedingungen, betriebliche Mitbestimmung, Instanzen für die Durchsetzung dieser Rechte und Schlichtung, Mindestlöhne, individuelle Schutzrechte und zuletzt arbeitsbasierte Ansprüche auf Sozialleistungen.</p><p>Raphael weist darauf hin, dass die oft gehörte Lesart, dass dieses Paket fordistischen Produktionsweisen entsprungen sei, in die Irre führe. Es war ein europäisches Unikum, wurde erst in der postfordistischen Ära geschaffen und kam erst nur Facharbeiter*innen und erst später auch Ungelernten zugute. Zwar durchbrach dieses Paket auf der einen Seite die Statusgruppen des 19. Jahrhunderts, schuf aber auf der anderen Seite neue, vor allem im Bereich der Geschlechter (männliches Einernährermodell, Frau als Hausfrau) und des Migrationshintergrunds (ungelernte und Hilfstätigkeiten bei Menschen mit Migrationshintergrund).</p><p>Ab 1975 geriet das Tarifrecht, die wichtigste Stütze des Systems, immer mehr unter Beschuss. Interessanterweise war dieser von konservativer Seite vorgebrachte Angriff mit einer Verrechtlichung der gewerkschaftlichen Erfolge verbunden: eine neue konservative Sozialpartnerschaft nach dem deutschen Modell wurde auch nach Frankreich und Großbritannien übertragen. Die Arbeiter*innen gaben gewissermaßen ihre Macht zugunsten einer Verrechtlichung ab, die den Spielraum der Gewerkschaften massiv einschränkte, gleichzeitig aber den Status Quo sicherte. Dieses interessengeleitete Arrangement erlaubte er der aufstrebenen "<em>new economy</em>", sich weitgehend außerhalb der Strukturen der Industriegesellschaft zu entwickeln.</p><p>An dieser Stelle legt Raphael einen kurzen Exkurs zu gewerkschaftlicher Organisationsmacht ein. In Großbritannien schwand die gewerkschaftliche Macht in den 1970er und 1980er Jahren massiv; die Gewerkschaften verloren über die Hälfte ihrer Mitglieder. In neuen Unternehmen konnten sie sich kaum etablieren. In Frankreich ist eine ähnliche Krise zu beobachten. Die BRD stellt hier die Ausnahme dar; ihre Gewerkschaften kamen glimpflich davon, besaßen allerdings auch ein niedrigeres Ausgangsniveau. Wie in Großbritannien etablierten sie sich in den neuen Bundesländern niemals. Ähnlich sieht die Lage für die Mitbestimmung aus: in Großbritannien wurde sie praktisch pulverisiert, in Frankreich nahm ihr Wirkungsgrad immer weiter ab, während er in der BRD ab 1972 eher ausgebaut und institutionalisiert wurde.</p><p>Als nächstes wendet sich Raphael dem System der Löhne und Entgeltsysteme zu. Bis in die 1970er Jahre waren Akkordlöhne der Normalfall, wurden jedoch zunehmend durch Gruppensysteme abgelöst, die die Rolle von Maschinen und Teamwork stärker einbezogen. Die Gewerkschaftsmacht sorgte in Deutschland dafür, dass die Tariflöhne stets mit der allgemeinen Entwicklung mithielten (und zogen auch den Öffentlichen Dienst mit). Einbrüche erlebte das System erst mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors und der Wiedervereinigung ab 1990, die für die dortigen Beschäftigten wesentlich schlechter waren. In Großbritannien dagegen war das System nie so flächendeckend gewesen und löste sich ab den 1970er Jahren immer mehr zugunsten des von Liberalen vertretenen Systems individueller Aushandlungen auf, so dass Durchschnittslöhne wenig aussagekräftig sind, weil innerhalb von Branchen starke Variationen bestehen. Zudem machen Überstundenregelungen in Großbritannien einen größeren Teil des Lohns aus (bis zu 40%). Frankreich beschritt hier den Mittelweg: das Lohngefälle war wegen der schlechteren gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht viel größer als in der BRD, aber insgesamt gab es mehr branchenweite Regelungen und Mindestlöhne als in Großbritannien.</p><p>Was das Kündigungsrecht anbelangte verbesserte sich die Position der Arbeiter*innen in den 1960er und 1970er Jahren wesentlich: in Deutschland und Frankreich durch klare Kündigungsschutzregeln, die in Deutschland zudem in das System der betrieblichen Mitbestimmung eingebunden waren, in Großbritannien durch Schlichtungs- und Abfindungsverfahren. Der Vergleich bleibt aber laut Raphael schwierig; das deutsche und britische System sind etwa viel flexibler als das französische. Der Schutz vor Kündigungen blieb aber in Großbritannien am schlechtesten ausgeprägt.</p><p>Trendsetter war Großbritannien dagegen in seiner Gesetzgebung gegen geschlechtliche und rassistische Diskriminierung, die bereits in den 1960er Jahren begonnen und in den 1970er Jahren kodifiziert wurde; bis heute funktioniert diese Gesetzgebung auf Basis ihrer ursprünglichen Form weiter. Frankreich begann erst Ende der 1970er Jahre mit ähnlichen Schutzwirkungen und fügte gegenüber Großbritannien starke Regelungen in der Begrenzung der Wochenarbeitszeit hinzu. Die BRD hielt sich hier lange zurück, so dass die 48-Stunden-Woche dominierte (sie galt bis 1994!). Zu Beginn der 1980er Jahre lag durch Tarifverträge in der tonangebenden Metallindustrie die Wochenarbeitszeit bei 40 Stunden, sank dann bis zum Ende des Jahrzehnts auf 38,5 und dann bis 1995 auf 35 Stunden. Gleichzeitig verlängerte sich der Jahresurlaub deutlich. Solche Maßnahmen fehlten in Großbritannien völlig. Die auf europäischer Ebene in den 1980er Jahren eingeführten Sicherheitsstandards wurden in Großbritannien notorisch gebrochen, wo der Staat sie auch praktisch kaum kontrollierte; nicht viel besser sah das Bild in Frankreich aus. In Deutschland war die Lage dank der gesetzlichen Mitbestimmung etwas besser, blieb aber ein Problem.</p><p>Die Sozialpakete waren ebenfalls sehr unterschiedlich konstruiert. Die britischen Lohnnebenkosten waren niedrig, weil die Sozialleistungen steuerfinanziert waren, wodurch die Arbeiter*innen bei Arbeitslosigkeit stark abstürzten (rund 41% des letzten Lohns). Deutschland (etwa 61%) und Frankreich (60-70%) waren deutlich mehr am Modell der Lebensstandardsicherung hin ausgerichtet und banden die Sozialleistungen deswegen direkt an die Löhne. In allen drei Ländern begann in den 1980er Jahren der Sozialabbau, in dem die Regierungen politisch alle gleich vorgingen: sie "kauften sich Zeit", indem sie die bisher abgesicherten Arbeiter*innen massiv im Strukturwandel unterstützten und gleichzeitig neue Beschäftigungsverhältnisse aus den Sozialpaketen heraushielten. Dadurch trat auch das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit auf, bei dem dieses Schleifen der Sozialstandards am deutlichsten sichtbar wurde, weil die Anwartschaften verringert wurden (gleichzeitig aber hoch genug blieben, um das System auf Dauer zu überlasten).</p><p>Dementsprechend veränderte sich auch die Tonlage. Am stärksten war dies wiederum in Großbritannien zu sehen, wo <em>means tests</em> und andere entwürdigende Maßnahmen die Regel wurden, die zu einer deutlichen Erniedrigung von Sozialleistungsempfangenden führten. Auch in Deutschland und Frankreich schwenkten Regierungen in den 2000er Jahren auf diese Linie ein. Die Folge war "eine Rückkehr elementarer Lebensrisiken in den Erfahrungsraum vieler Arbeiterhaushalte", die allerdings sehr ungleich verteilt war: manche Gruppen erlebten sie wesentlich schärfer als andere (vor allem Frauen, Ungelernte und Migrant*innen), während andere Gruppen sie eher als Wetterleuchten am Horizont wahrnahmen.</p><p>Zum Abschluss des Kapitels kommt Raphael auf drei Arbeitswelten. In der ersten besteht das Prinzip der Sozialbürgerschaft weiter, mit all den Absicherungen, die das mit sich bringt. In der BRD findet sich diese Welt noch in großen Teilen der alten Industriebranchen, in Frankreich fast nur in Großunternehmen und in Großbritannien nur in "Inseln". In der zweiten Welt gelten Teile des Systems noch, aber die kollektive Interessenvertretung ist allenfalls noch dysfunktional vorhanden. Klein- und Mittelbetriebe, Investoren aus den USA oder Japan und Neugründungen gehören zu dieser Welt. Die dritte Welt schließlich umfasst alle Betriebe, in denen das System auch <em>de jure</em> aufgekündigt worden war, vor allem Kleinunternehmen und der Dienstleistungsbereich.</p><p><strong>Kapitel 5</strong>, "<em>Facharbeit, Produktionswissen und Bildungskapital: Deutungskämpfe und Neuarrangements</em>", wendet sich dann der Deutung dieser Entwicklungen zu. Im Zentrum steht der viel zitierte "Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft", da in allen drei Ländern in dieser Zeit "Bildung" und "Wissen" zu zentralen Begriffen der Debatte wurden und eine immer größere Rolle spielten. Visionen von der Automatisierung hielten überall Einzug. Die Abwertung von manuellen Tätigkeiten gegenüber geistigen war dabei kein neues Phänomen; schon Karl Marx hatte sie untersucht. Die größte Trennung der Sphären hatte das kapitalistische System des 19. Jahrhundert, in dem alles Wissen beim Fabrikbesitzer lag, während die Arbeiter*innen rein ausführende Tätigkeiten hatten. Die spezialisierte Facharbeit entwickelte sich aus dem Wissen der Handwerker, das diese in die Industrie mitbrachten. Im Verlauf der Industrialisierung nahm die Bedeutung von Wissenstiteln dann immer mehr zu.</p><p>Dadurch stieg die Bedeutung der Facharbeiter*innen, deren Anteil konstant zunahm. In Großbritannien blieb dieser Prozess privat, zwischen Betrieb und Auszubildenden. In Frankreich, das ab 1789 die handwerklichen Traditionen geschliffen hatte, übernahm der Staat die Rolle der Zertifizierung, während Deutschland im Kaiserreich das bis heute gerühmte duale Ausbildungssystem entwickelte, in dem die berufliche Seite bei den Unternehmen und die schulische Seite beim Staat lag.</p><p>In den 1970er Jahren entwickelte sich nun die neue "Bildungsideologie", die Raphael als "Herrschaftswissen" qualifiziert: die Vorstellung, dass man sich in eine "Wissensgesellschaft" bewege, in der "Kompetenzen" statt Bildungstiteln und dazu lebenslanges Lernen dominieren würden, galt als Fakt. Theoretische Grundlage war Gary S. Beckers Theorie vom "Humankapital" (das heute glaube ich nur als Pejorativ vorkommt). Obwohl die Empirie bereits damals gegen diese Vorstellungen sprach, wurden sie aus ideologischen Gründen übernommen und propagierten eine Kombination von öffentlichen Bildungansgeboten mit privaten Zusatzinvestments. Die meinungsbildende Elite modellierte quasi ihren eigenen Status Quo für alle, was angesichts des Fehlens "einfacher" oder "mittlerer" Jobs in den Dienstleistungsbranchen in dieser Ideologie umso augenfälliger ist. Sie galten schlicht als veraltet und unattraktiv.</p><p>Die Bildungssysteme aller drei Länder widersprachen diesen Vorstellungen in den 1960er Jahren massiv. Ihre "Demokratisierung" stand deswegen weit oben auf der Agenda, womit neben einem verbreiterten Zugang auch ein wesentlich größerer Praxisbezug gemeint war. Die prophezeite Neuordnung blieb aber aus: formalisierte Bildungstitel blieben zentral, auch wegen des starken Widerstands der Wirtschaft, die das duale System, die Doktortitel etc. beibehalten wollte. Die "Tertiärisierung" des Bildungssystems war in Frankreich ein großer und eher problematischer Kraftakt, während Großbritannien überhaupt erst in den 1990er Jahren nachzog. Raphael untersucht alle drei Systeme systematisch.</p><p>In Deutschland wurden die Fundamente der Expansion noch in der Großen Koalition gelegt, die noch zur Absicherung des industriellen Booms das korporatistische System zementierte. Die ab den 1970er Jahren einsetzende Bedeutungsverschiebung hin zum sekundären Bildungssektor, vor allem Realschule und Gymnasium, wurde von einer immer größeren Durchlässigkeit des dualen Systems begleitet. Dem stand als Negativum ein immer schwerer Zugang von Hauptschüler*innen und Schulabbrecher*innen gegenüber. Insgesamt bewies das System eine "Modernität des Unmodernen" (Greinert).</p><p>Das britische Lehrlingssystem mit bis zu fünf Jahre währenden Ausbildungszeiten erreichte selbst zu seinen Hochzeiten kaum ein Drittel der Jugendlichen und war in den 1960er Jahren in einer tiefen Krise. Dazu kam, dass die Gewerkschaften das System mit dazu benutzten, ihre Macht zu erhalten, indem sie Zugänge kontrollierten. Die Thatcher-Regierung zerschlug die Macht der Gewerkschaften und reduzierte die Jugendarbeitslosigkeit durch die Einführung eines ein- bis zweijähirgen "Youth Training Schemes", der die Jugendlichen aber nur auf die Wartebank schob und nichts leistete. Die Übertragung der Ausbildung an die Privatwirtschaft scheiterte ebenfalls, weil nur rund ein Fünftel der Betriebe überhaupt ausbildeten. Selbst der unter New Labour betriebene Fokus auf Bildung blieb weitgehend Illusion. Angesichts dieser Lage kam Großbritannien dem bildungsideologischen Ideal einer kompetenzbasierten Gesellschaft am nächsten, in der die Arbeitgebenden bestimmten, welche Fähigkeiten jemand formell besaß. All das hatte den Nebeneffekt, in der Arbeitendenschaft eine Anti-Intellektualität und Ablehnung von Schule festzuschreiben, die das deutsche duale System deutlich verwässern konnte, und so gesellschaftliche Standesgrenzen zu reproduzieren und festzuschreiben.</p><p>Das französische System brachte Schulabgänger*innen mit wesentlich höheren und mit der BRD vergleichbaren Standards an Bildung hervor, was dazu führte, dass die Vermittlung von Wissen und Titeln immer mehr auf die Schulen überging und zu einem Bedeutungsverlust der Facharbeitendenschaft führte. Branche um Branche wurden die alten Ausbildungsgänge komplett abgeschafft und durch neue Strukturen mit eigenen Zugangshürden ersetzt.</p><p>Diese Entwicklungen führten dazu, dass die Öffnung des Bildungssystems paraxoderweise die Lage der Arbeiterklasse als Ganzer verschlechterte, weil sie zu einer zunehmenden Bedeutung formaler Abschlüsse führte. Am schlechtesten schnitt das britische System ab, wo der Ausbildungsgrad aller Arbeitenden durch die Fiktion eines Erwerbs im Beruf am geringsten blieb. In Frankreich war der Bildungserwerb durch die Fokussierung auf das staatliche Schulsystem am größten, aber auch praxisfernsten und hatte wegen der auch rechtlich deutlichen Trennung der verschiedenen Klassen einen wenig durchlässigen Effekt; gleichzeitig war das System aber für die dadurch gebildeten Schichten (wie auch in Deutschland) deutlich besser auf die Herausforderungen der Zukunft eingestellt, weswegen diese Länder anders als Großbritannien auch eher auf exportorientierte Qualitätsproduktion setzten, während die Insel eher versuchte, Wettbewerbsfähigkeit durch niedrigeres Lohnlevel zu erhalten.</p><p>Die Arbeit selbst veränderte sich ebenfalls massiv: von einer tayloristischen Organisation ging der Trend zu flexibleren, aber auch fordernderen Arbeitsorganisationen, in denen das Idealbild angestrebt wurde, nachdem jede*r Arbeiter*in bis zu fünf verschiedene Jobs beherrschte (<em>multiskilling</em>). In der Praxis wurde dieses Ideal wegen der Fluktuation und fehlender Ausbildung im Betrieb vor allem in Großbritannien selten erreicht, aber wo es gelang, entstanden große Produktivitätsgewinne.</p><p>Raphael beschließt das Kapitel mit sieben Feststellungen. Erstens nahmen die fachlichen Anforderungen an ALLE Arbeitenden zu; zweitens wurden Weiterbildung und -qualifikation für ALLE Arbeitenden zu essenziellen Identitäsmerkmalen; drittens die bereits erwähnte Flexibilisierung; viertens die Herausforderung, die darin vor allem für ältere Arbeitnehmende bestand; fünftens der Generationenbruch ("Abschied vom Malocher"); sechstens die Disziplinierung durch eine Null-Fehler-Toleranz und größere Disziplin am Arbeitsplatz; siebtens die Reproduktion von Geschlechterrollen durch die Entindustrialisierung, da die Frauen von den Weiterbildungsangeboten weitgehend ausgeschlossen waren. Zuletzt erinnert Raphael noch einmal an die Bedeutungszunahme der Subjektivierung: was Kompetenzen wert waren und wie Arbeit konkret entlohnt wurde, war immer mehr bilateralen Abkommen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebern unterworfen.</p><p><strong>Abschnitt 2</strong>, "<em>Nahaufnahmen: Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im Wandel</em>", beginnt mit <strong>Kapitel 6</strong>, "<em>Lebensläufe, Berufskarriere und Jobsuche in Umbruchzeiten</em>". In diesem kombiniert Raphael quantitative Biographieforschung mit direkten Lebensdokumenten, um ein möglichst exaktes Bild zu erlangen. In der Epoche des Booms war der Einstieg in das Arbeitsleben oft unqualifizierte Arbeit, der dann eine Nachqualifizierung und beruflicher Aufstieg folgte. Raphael untersucht zuerst die 1935-1949 Geborenen, die direkt in die Nachkriegszeit hinein erwachsen wurden und dort Arbeit finden mussten. Prekäre, wechselnde Beschäftigung in den 20ern mündete mit der Familiengründung gegen Ende dieser Lebensdekade häufig in einer langfristigen Bindung an ein Unternehmen, um so Sicherheit zu erlangen, die für Familien so essenziell ist.</p><p>Auffällig ist, dass die Produktionsgüterindustrie wesentlich jünger geprägt war, weil hier Akkord- und Schichtarbeit vorherrschten, die vor allem für jüngere Arbeitnehmende attraktiv waren. Den Frauen stand diese Berufskarriere praktisch nicht offen; sie blieben auf ungelernten, temporären Arbeitsstellen hängen. Bis zu den 1970er Jahren, so Raphael, näherten sich die Berufswege ungelernter und gelernter Arbeitskräfte an. Dieser umfassende soziale Aufstieg ermöglichte den Eintritt breiter Gruppen in die Mittelschicht. Damit schien das Ende des Proletariats gekommen; zeitgenössisch sprach man vom <em>affluent worker</em>. Wesentlich schlechter allerdings ging es den meist ignorierten Arbeitsmigrant*innen, die in schlecht bezahlten, prekären Stellungen verharrten. In Deutschland und Frankreich war diese Entwicklung dabei deutlich geradliniger als in Großbritannien, wo regionale Unterschiede und solche der Branche schärfer betont blieben und die Wirtschaftskrise Anfang der 1970er Jahre einschneidender als auf dem Kontinent für Massenarbeitslosigkeit sorgte.</p><p>Raphael wendet sich nach dieser Betrachtung der Boomzeit nun wieder der vergleichenden Länderbetrachtung zu, um die Folgen der Deindustrialisierung zu untersuchen. In Frankreich gingen rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren; die Reallohnzuwächse der Arbeiter*innen betrugen in den 1970er und 1980er Jahren nur noch 1% und fielen in den 2000er Jahren auf null. Während der Anteil an Migrant*innen insgesamt stabil blieb, waren vor allem die Frauen Opfer der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation. Durch diese Entwicklungen änderte sich die Altersstruktur der Fabriken massiv. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit bedeutete einen viel späteren Eintritt in das Arbeitsleben, der Strukturwandel mit seinen Frühverrentungen, dass die Menschen bereits in den 1950er Jahren wieder aus dem Arbeitsleben ausschieden. Wegen der schlechten Chancen auf einen neuen Job harrten viele ältere Arbeitnehmende auch bei großen gesundheitlichen Belastungen in der Hoffnung auf Frühverrentung auf ihren tayloristischen Arbeitsplätzen aus. Diese Beharrung der Älteren stand in Kontrast zu den prekären Arbeitsverhältnissen der Jüngeren. Für die Unternehmen bedeutete dies, dass Änderungen und Innovationen schwieriger durchsetzbar waren, weil die Älteren änderungsavers waren (und immer sind).</p><p>Für Großbritannien hält Raphael zuerst fest, dass die Arbeitsplatzverluste dort wesentlich umfassender und einschneidender waren als in Frankreich oder der BRD. Zahlreiche Arbeiter*innen, die ihre Jobs an die um sich greifende Massenarbeitslosigkeit verloren, wurden zu Servicearbeitenden wider Willen. Mitte der 1980er Jahre war fast die Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos, was von der Thatcher-Regierung durch erzwungene "Youth Training Schemes" verschleier wurde. Auch in Großbritannien bedeuteten die Schließungen für ältere Arbeitnehmende üblicherweise das Ende der Erwerbstätigkeit; auch hier förderte die Regierung über Dauerkrankschreibungen und Frühverrentungen ein das soziale Netz nachhaltig belastendes "Ausgleiten" aus dem Arbeitsmarkt. Die Erfahrung war für die Betroffenen sehr ambivalent: einerseits waren die verlorenen Arbeitsplätze, gerade im Bergbau, gesundheitlich massiv schädlich und anstrengend. Andererseits hing ihre Identität daran. Die Liberalisierung sorgte gleichzeitig für eine massiv sinkende Verweildauer in den Betrieben und zu steigender Unsicherheit und gebrochenen Erwerbsbiografien.</p><p>In der alten Bundesrepublik war der Arbeitsverlust wesentlich geringer und gradueller als in Frankreich und besonders Großbritannien. Auffällig ist, dass die Arbeitsplatzverluste der Männer (die entweder keine oder schlechter entlohnte Arbeit fanden) durch vermehrte Frauenerwerbstätigkeit aufgefangen wurde, gerade in migrantischen Milieus. Hier dominierten auch die unattraktiven Arbeitsverhältnisse wie Nachtarbeit. Wie überall trafen die Rationalisierungsmaßnahmen aber auch in der BRD ältere Arbeitnehmende, die meist frühverrentet wurden (mit den vorhersehbaren Kosten für die Sozialkassen). Das Muster sich nach hinten verschiebender Familiengründungen findet sich auch in Deutschland. Anders als in den Nachbarländern sorgte das duale System aber in Deutschland für eine wesentlich bessere Qualifizierung und Beschäftigung der jungen Generation. Innerbetrieblicher Aufstieg wurde deutlich schwieriger, blieb aber viel realistischer als in Großbritannien oder Frankreich. Zu beobachten ist auch eine starke Zunahme von Teilzeitarbeit, besonders unter Frauen, denen der Weg in die Qualifizierungen und Karrieren weiter weitgehend verstärkt blieb und die auf den unteren Rängen der Hierarchie festgehalten wurden.</p><p>Raphael wendet sich als nächstes der Erfahrung von Heirat und Familiengründung zu. Die Klassendominanz der Heiraten endete bis zu den 2000er Jahren nicht. Allerdings heiratete der kleiner werdende Pool der Arbeiter häufiger Angestellte, die (dann oft in Teilzeit) in Dienstleistungen oder dem Öffentlichen Dienst arbeiteten. Die sich nach hinten schiebende Familiengründung bedeutete eine längere Verweildauer im elterlichen Haushalt. Die einheimischen Kinder setzten dabei oft den Aufstiegsweg der Eltern, wenngleich eben zeitversetzt fort. Das galt für die migrantischen Familien viel weniger. Sie waren wesentlich größeren Risiken des Arbeitsplatzverlusts (und damit auch erzwungener Umzüge und verschobener Familiengründungen) ausgesetzt und konnten oftmals keine Aufstiege in die Mittelschicht erleben, da sie auf den unteren Rängen der Arbeitshierarchie festhingen. Gleichzeitig konnten die Kinder in allen Arbeitendenhaushalten allerdings oft die Ausfälle des Haupternährers durch eigene Arbeit kompensieren, so dass die Gesamthaushaltseinkommen häufig trotz Arbeitslosigkeit annähernd gleich blieben (um den Preis erhöhter Frauenerwerbstätigkeit und längerer Verweildauer der Kinder).</p><p>Raphael stellt aber abschließend fest, dass die Zeitgenoss*innen wesentlich einschneidendere Wirkungen erlebten, als diese empirisch nachweisbar sind. Einen Grund dafür sieht er im zunehmenden Druck in den Unternehmen selbst, die mit mehr Kontrolle, Weiterentwicklung und Rationalisierung reagierten, die auch Arbeitnehmende ohne Arbeitsplatzverlust als Verschlechterung empfanden. Zudem existierten "Inseln der Beschäftigungsstabilität" auch in stark betroffenen Regionen. Besonders hervor hebt er den gesellschaftlichen Konsens, dass der Generation der "Malocher" das Privileg zustünde, von den "Zumutungen von spätem Jobverlust und Dauerarbeitslosigkeit verschont zu bleiben". Die Beschäftigten reagierten zudem mit größerer Betriebstreue auf die wachsende Unsicherheit. Zudem wurden die ungelernten Jobs weitgehend von Arbeitsmigrant*innen erledigt. Die Lebensphase "Jugend" verlängerte sich deutlich und führte zu einem Perspektivenwandel. Zuletzt weist er noch einmal auf die Bedeutung der Frühverrentung für den Erhalt des sozialen Friedens hin.</p><p>In <strong>Kapitel 7</strong>, "<em>Betriebliche Sozialordnungen im Umbruch</em>", ändert Raphael den Blick von dem auf Familienstrukturen zu denen von Betrieben. Diese erlebten auch organisatorisch einen Umbruch; der alte patriarchalische Unternehmertypus wurde zunehmend von unpersönlicheren Strukturen, Metriken und einer Konzentration auf die Entwicklung von Humankapital verdrängt. Die Innovationen jener Jahre führt Raphael weniger auf Begeisterung seitens der Unternehmer*innen als vielmehr die Strukturkrise und die Überlebensnotwendigkeit zurück. Unter den Schlagwörtern <em>lean production</em> und <em>lean managment</em> wurde versucht, Kosten zu reduzieren und so Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Die Gefahr war, dass dies zu einer raschen Abfolge von Managmentpersonal und Organisationsstrukturen führen konnte, die keinerlei Bezug zum Unternehmen besaßen und rein die Kostenseite im Blick hatten, was zu einem Teufelskreis aus Entlassungen, zunehmender Distanz vom Betrieb und sinkender Arbeits- und Produktqualität führen konnte.</p><p>Diese "negative Betriebsidentität" ist für Raphael ein Beleg der Existenz und Bedeutung der Identität der Belegschaft mit dem eigenen Betrieb. Er sieht die Fabrik als "soziales Handlungsfeld", in Deutschland geprägt von der "Produktionsgemeinschaft" innerhalb der Belegschaft und zwischen ihr und dem Managment, die Konflikte als "empfindliche und vermeidbare Störung" empfindet. Dieser Idee stehen marxistische Entwürfe schroff gegenüber, der (fälschlich) eine Dominanz des neoliberalen, einzig auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Organisationsmodells vorhersagte. Dem stehe eine "überraschende Vielfalt" an Betriebsordnungen gegnüber. Diese ordnet Raphael in eine Matrix zwischen monokratisch-pluralistisch und sozialintegrativ-kontraktuell, aus der er vier Typen synthetisiert: paternalistische Betriebe (sozialintegrativ/monokratisch), "Arbeitshäuser" (kontraktuell/monokratisch), Kooperativ-konsensorientiert oder konfrontativ-konfliktorisch (sozialintegrativ/pluralistisch) sowie "Marktgesellschaften" (kontraktuell/pluralistisch).</p><p>Dazu identifiziert er vier Typen von Sozialbindungen in Betrieben. Zuerst berufsbezogene Verbindungen wie die der Facharbeiter (die besonders in Deutschland dank der betrieblichen Mitbestimmung Einfluss hatten), danach die der konkreten Arbeitszusammenhänge von zusammengehörigen Arbeitsabläufen (mit dem Großtrend der Verselbstständigung von Arbeitsabläufen und der damit einhergehenden "Professionalisierung"), drittens die Fabrik oder das Werk (die an Bedeutung verlor) und viertens die Belegschaft in der Struktur des Konzerns oder der Unternehmensgruppe. Letztere markierten in der betrachteten Episode einen bedeutenden Umschwung durch die Fusionen und Aufkäufe besonders der 1990er Jahre.</p><p>Im Ländervergleich fällt die seit 1919 starke Betonung kooperativer Formen in Deutschland auf, während diese in Großbritannien die Ausnahme darstellen. In Frankreich versuchte die Regierung zwar, Kooperation zu fördern, hatte aber gegen die eher monokratische französische Unternehmertradition wenig Erfolg, weswegen das Land wesentlich konfliktorientierter sei. Gleichzeitig gebe es aber viele Gemeinsamkeiten, etwa die Gemeinschaftsstrukturen der "<em>work crews</em>" in körperlich fordernden Jobs. Dies sei aber branchenabhängig; in der Lebensmittelindustrie bestehe eine starke Trennung zwischen Facharbeitenden und Un- und Angelernten. Konflikte würden oft eher konstruktiv gelöst, wo das Ende patriarchalischer Ordnungen mit Gewerkschaften verhandelt werden konnte, während ansonsten eher der oben beschriebene Teufelskreis eintrete.</p><p>Exemplarisch macht Raphael all dies an der Automobilindustrie deutlich. Entgegen der oft gehörten Behauptung konnten die Unternehmen die Bandarbeit nur parziell durch Automatisierung ersetzen, weswegen halb-autonome Arbeitsgruppen eher die Regel wurden. Besonders hervorzuheben ist hier der Einfluss der japanischen Methoden. Hohe Löhne, hohe Sozialleistungen und hohe Ansprüche an die Belegschaft liefen in Tandem und wurden auf Kosten der Zulieferer und deren Belegschaften realisiert, was eine deutliche Zwei-Klassen-Gesellschaft in den Unternehmen und Arbeitsbedingungen mit sich brachte. Der Strukturwandel brachte einen Wechsel von konfrontativen Methoden zu solchen der passiven Arbeitsplatzerhaltung mit sich. So entstanden zwar kooperative, aber in von oben verordnete Sozialstrukturen eingebettete Sozialordnungen. Der Versuch gerade der japanischen Unternehmen, durch Ansiedlungen in strukturschwachen Regionen Streiks und Konfrontation zu vermeiden, ging nicht immer auf; der erste Streik bei Toyota seit 1950 etwa ereignete sich im gerade deswegen ausgesuchten Valenciennes 2009.</p><p>Der Wettbewerbsdruck führte in der Bundesrepublik zu einer Verdichtung der kooperativen Arrangements. Diese brachten der westdeutschen Wirtschaft einen deutlichen Wettbewersvorteil gegenüber den britischen und französischen Modellen. Dies erlaubte es den Betriebsräten, Sicherheitszusagen durch Steigerungen der Produktivität in modernen Akkordsystemen (die auf ganze Betriebe umgelegt waren) zu erreichen, ein win-win-Szenario. Die längeren Betriebszugehörigkeiten sorgten für ein Investment der Arbeitnehmenden in den Betrieb und seinen Überlebenskampf in der globalen Transformation, der gerade britischen Betrieben häufig abging, die zwar kuzrfristig starke Strukturen besaßen, aber kaum Langfristigkeit.</p><p>Anders als in der Autoindustrie sah die Lage in krisengebeutelteren Branchen aus. Hierbei sieht er drei Problemkonstellationen. Zuerst die Bildung von Notgemeinschaften, die etwa tarifliche Untergrenzen freiwillig unterschritten oder die Produktion demokratisch weiterführten, obwohl die Unternehmensleitung das nicht mehr wollte, alles mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Die zweite Kategorie war der "mühsame Auszug aus dem Patriarchat" (Kotthoff), das Erkämpfen von pluralistischen Beteiligungsrechten. Zum dritten beschreibt er das Auseinanderbrechen bestehender Sozialstrukturen bei zu starken personellen Einschnitten, das dann die Übernahme innovativer Methoden wegen des Misstrauens gegen das ortsfremde Managment nicht ermöglichte.</p><p>Raphael endet das Kapitel mit einer Betonung der Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen für den wirtschaftlichen Erfolg, die oft übersehen werde. Die Anerkennungskämpfe der Deindustrialisierungszeit brachten vor allem Gewinne für bisher marginalisierte Gruppen (vor allem Arbeitsmigrant*innen). Anders als von marxistischen Theorien prophezeit habe es auch keine weitgehende Zerstörung der Sozialordnungen durch die neuen Managmentmethoden gegeben, die zwar oft Druck und Innovation brachten, aber nicht zwangsläufig in neoliberaler Ausbeuterei mündeten. Gleiches gilt für technische Innovationen: sie "gaben den Entwicklungen betrieblicher Sozialordnungen keine Richtung vor". Besonders erfolgreich seien die Bündnisse für Arbeit gewesen, die es in allen drei Ländern gab. Mit das erfolgreichste Modell war das der "Koevolution", der betrieblichen Mitbestimmung.</p><p>Verschlechternde Betriebsordnungen findet Raphael vor allem in krisengebeutelten Betrieben, in denen die Unternehmensleitung autokratisch ("Arbeitshäuser", wir erinnern uns) die Ordnung aufrecht erhielten und ihre Vorstellungen durchsetzten. Hier standen sich Kapital und Arbeit scharf gegenüber und war die Stimmung schlecht. Insgesamt aber macht er, vielleicht überraschend, einen relativen Gewichtsgewinn pluralistisch-kooperativer Betriebsordnungen aus.</p><p>In <strong>Kapitel 8</strong>, "<em>Industriedistrikte, "Problemviertel" und Eigenheimquartiere: Sozialräume der Deindustrialisierung</em>", wirft er dann abschließend den Blick auf die Lebensbedingungen der Arbeitenden außerhalb der Betriebe. Zu Beginn steht die Erkenntnis, dass die Deindustrialisierung die Sozialräume nachhaltig geändert hat (was, anders als in den Industriebrachen der USA, in Europa zu weitgehender Umgestaltung und Orten der Erinnerungskultur geführt hat).</p><p>Besonders einschneidend sei die Schaffung neuer regionaler Disparitäten, besonders einschneidend im Nord-Süd-Gegensatz Großbritanniens. Auch der Gegensatz von Stadt und Land vertiefte sich. In Deutschland war die Lage ähnlich, wo 1990 zum Nord-Süd-Gefälle auch eines zwischen Westen und Osten hinzukam. Der deutsche Süden und Südwesten profitierten indes davon, dass Kohle und Stahl nie eine große Rolle gespielt hatten und die Transformation deswegen leichter zu verkraften war. Ähnliche Divergenzen finden sich auch in Frankreich. Besonders betroffen waren überall die monoindustriell geprägten Gebiete.</p><p>Raphael "zoomt" nun näher an betimmte Industriedestrikte heran. Besonders erfolgreich waren etwa jene, die eine verwurzelte Hochqualitäts-Arbeitskultur besaßen. In anderen Regionen sorgte die Dominanz von Großkonzernen für eine klare Hierarchie mit zahlreichen abhängigen Zuliefererbetrieben. Gleichzeitig brachte die Transformationszeit eine Renaissance kleinerer und mittlerer Betriebe. Diese Neubildungen waren besonders in der BRD signifikant, während Großbritannien und Frankreich stärkere Deindustrialisierung statt Umbildungen erleben mussten. Oft waren die großen Automobilkonzerne die Fixpunkte dieser Entwicklung. Ein weiteres Phänomen dieser Zeit ist auch der Wegzug der Angestellten und Facharbeiter aus den Städten in die Vorstädte (<em>Suburbia</em>).</p><p>Diese Entwicklung nimmt Raphael in einer zweiten Zoomstufe unter die Lupe. Er macht eine bestehen bleibende räumliche Trennung des Bürgertums, der Angestellten und den Arbeitenden aus; lediglich in Einzelfällen sei das Ideal sozialer Durchmischung erreicht worden. Gleichwohl änderten sich die Lebensverhältnisse der Arbeitendenklasse massiv: die alten Elendsviertel verschwanden zugunsten der einheitlichen Betonkomplexe (die zwar unästhetisch, aber wesentlich komfortabler waren). Dieser Aufstieg in den Lebensbedingungen war direkt mit massivem sozialem Wohnungsbau verknüpft. Als dieser in den 1980er Jahren praktisch eingestellt wurde, endete auch der große Auszug des Proletariats in bessere Wohnverhältnisse. Stattdessen förderte der Staat, besonders unter konservativen Regierungen, den Erwerb von Wohneigentum.</p><p>Die Trends verliefen in den Ländern hierbei unterschiedlich: in Großbritannien etwa mit hohen Eigentumsquoten in engen Reihenhaussiedlungen, in der BRD mit Einzelhäusern und Doppelhaushälften bei höherem Mietanteil. Die Deindustrialisierung und das neue Leitbild des Wohneigentums veränderten die Wohnräume radikal. Einerseits entstanden die bürgerlichen Wohngebieten, andererseits die verwahrlosenden "Problemviertel" der Unterschicht in den in der Boomphase errichteten Arbeitendenquartieren (paradigmatisch in den Pariser Banlieus verkörpert). Die soziale Durchmischung existierte zwar, allerdings nicht in den einstigen sozialdemokratischen Mustersiedlungen, sondern in den Randgebieten, in denen der Bausparvertrag regierte. Die alten Wohnviertel wurden ethnisiert, soziale Probleme und Migration untrennbar miteinander verbunden.</p><p>Die Migration war überhaupt ein wichtiger Aspekt. Der rund 15-17% betragende Anteil der Arbeitsmigrant*innen lebte oft lange in Provisorien und schaffte nur langsam, wenn überhaupt, den Aufstieg in bessere Quartiere. Die von den Regierungen erhoffte massenhafte Rückkehr blieb mangels Perspektiven aber auch oft unrealisiert. Je länger diese Zustände dauerten, desto weniger blieb ein Rückkehrwunsch erhalten (bei den türkischen Migrant*innen in Deutschland etwa sank er von 80% 1985 auf 20% 2005). Den Migrant*innen gelang auch nur selten der Weg in die Festanstellung. Diese Entwicklungen waren in Großbritannien sogar noch ausgeprägter und wurden von der Regierungspolitik aktiver befeuert; hier entstanden "Problemzonen der Dienstleistungsgesellschaft".</p><p>Dieser Wandel der Sozialräume und die wachsende Bedeutung der Migrant*innen führte spiegelbildlich zu einem Verschwinden der klassischen Arbeiterkultur, ihrer Vereine, Organisationen und sozialen Netzwerke. Besonders in Krisenregionen lösten sich diese Milieus einfach auf. Die auf Werten ehrlicher Arbeit und Anstrengung beruhende "Malocher"-Kultur verlor vor allem in diesen Krisenregionen an Bedeutung - und gerade in diese zogen mangels Alternativen besonders viele Migrant*innen. In den kleinstädtischen Wohnquartieren blieben Sozialstrukturen eher bestehen, blieben aber regional bezogen und klassenübergreifend. Ebenfalls zerstörerisch auf diese Milieus und Wertestrukturen wirkten Managmentwechsel und Unternehmensreformen, die klassische Patriarchen durch gesichtsloses Managment ersetzte und betriebliche Sozialleistungen abschaffte.</p><p>Industrielle Sozialformen zogen sich so in die Randbereiche zurück, hörten aber nicht komplett zu existieren auf. Besonders, wo eine "untere Mittelschicht" entstand (meist im Dienstleistungssektor beheimatet), blieben starke Strukturen erhalten oder bildeten sich neu. Die erhoffte Durchmischung blieb auch wegen der zunehmenden Bedeutung des Pendelns aus, das immer größere Ausmaße annahm. Das Verschwinden der monoindustriellen Gebiete sorgte auch für ein Verschwinden industrieller Ballungszentren, das nicht ausgeglichen wurde.</p><p>Im <strong>Schluss</strong>, "<em>Die Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung als Problemgeschichte unserer Gegenwart?</em>", fasst Raphael wichtige Aspekte noch einmal zusammen. Erstens habe die Deindustrialisierung zum ersten Mal seit 1945 wieder klare Gewinner und Verlierer produziert; der "Fahrstuhleffekt" des Booms hörte auf. Ab den 1970er Jahren blieben die Reallohnsteigerungen sehr bescheiden, die Qualität der Arbeit aber nahm vielfach zu. Die britische Entscheidung zu radikaler Deindustrialisierung habe den sozialen Gegensatz im Land einerseits, aber auch den zwischen Insel und Kontinent andererseits bereits lange vor dem Brexit vertieft. Industrielle Arbeit sei dort am erfolgreichsten geblieben, wo technische Innovationen die Veränderungen herbeiführten. Die anhaltende Wirkung des Betriebs als positiver Bezugspunkt sei ein Beweis für die Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen, bei denen ein pluralisierend-kooperativer Trend zu beobachten sei. Andererseits war auch die Transformation von Betrieben in "Arbeitshäuser" ein Teil dieser Realität.</p><p>Der "Abschied vom Malocher" sei aber auch als sozialer Prozess zu begreifen, etwa durch die Verbreitung von Wohneigentum und den Abschied vom männlichen Ernährermodell. Der Anteil an Frauen an Fachkräften nahm langsam, aber beharrlich zu. Dazu komme eine Pluralisierung der Kultur durch die Einebnung der Grenzen zwischen Populär- und Hochkultur. Raphael schließt sein Buch mit der Feststellung, dass viel weitere Forschungsarbeit vonnöten sei und verteidigt seine Periodisierung 1970-2000 unter anderem mit dem Generationenargument (viele der ab 1970 Betroffenen gingen in Rente) und der Musealisierung der alten Industriekultur in den 2000er Jahren.</p><p>---</p><p>Lutz Raphaels Werk scheint mir ein ähnliches Grundlagenwerk für die Epoche der Deindustrialisierung zu sein wie <a href="https://www.deliberationdaily.de/2023/10/rezension-juergen-osterhammel-die-verwandlung-der-welt-eine-geschichte-des-19-jahrhunderts/">Osterhammels</a> für das 19. Jahrhundert. Ich halte auch die Prämisse, dass in dieser Zeit eine Deindustrialisierung in Westeuropa (und Nordamerika) stattfand und dass diese einen entscheidenden Umbruch bedeutet, für kaum kontrovers. Die Begrifflichkeit klingt zwar drastisch, weil sie negativ aufgeladen ist; die gleichzeitige Transformation hin zur digitialisierten Dienstleistungsgesellschaft aber (die ja genau der Prozess ist, den der Ostblock genauso wie die Deindustrialisierung verpasste) ist ein elementarer Baustein um Verstehen unserer heutigen Welt. Ich empfehle Raphaels Buch daher vollumfänglich und bitte vorauseilend um Entschuldigung, wenn ich durch das Zusammenfassen vereinfachend oder irreführend war; das Werk ist ziemlich dicht geschrieben und nicht eben für das beiläufig-entspannende Lesen geeignet. Ich möchte die Rezension mit einigen eigenen Beobachtungen beschließen.</p><p>Der Punkt Raphaels, dass trotz des Verlusts des sozialistischen Klassenbewusstseins ("Proletariat") in der Wahrnehmung der unteren Schichten ein eher soziologisches bestehen blieb ("Wir gegen die"), scheint mir gerade im Ignorieren dieser Wahrnehmung ein oft übersehenes Mosaiksteinchen in der Erklärung heutigen Elitenhasses zu sein, aus dem ja die AfD ihre Stärke bezieht. Vor allem sehe ich darin den häufigen Fehler, von der AfD (oder den <em>Republicans</em> oder <em>Tories</em>) als "neuer Arbeiterpartei" zu sprechen; diese finden in jenen Milieus zwar durchaus Zuspruch, aber eben nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil sie es verstehen, diesen Gegensatz zu bedienen, den die Sozialdemokratie durch ihren Schulterschluss mit dem Kapital ("Dritter Weg"), der paradoxerweise ja in den kooperativ-pluralistischen Betriebsordnungen gerade zum Erhalt zahlreicher Arbeitsplätze gführt hat, erst freigegeben hat.</p><p>Ebenfalls unterschätzt scheint mir die Rolle der Frühverrentung als versteckte Subvention zur Erleichterung des sozialen Übergangs. Die Politik der Zeit verstand es, dass die Transformation nur dann möglich war, wenn der Übergang gleitend und abgefedert erfolgte (eine Erkenntnis, die der heutigen Politik mit dramatischen Folgen völlig abgeht). Zwar war die Frühverrentung eine tickende Zeitbombe für das Sozialsystem, an der wir bis heute leiden; gleichzeitig aber halte ich das Fehlen eines Aufstiegs radikaler Parteien durch die gesamte Transformationszeit in nicht unerheblichem Maße auf genau diese Entwicklung zurückführbar. Das erfordert in meinen Augen eine wesentlich intensivere Beschäftigung.</p><p>Ebenfalls auffällig ist für mich das Wechselspiel zwischen der Expansion des Bildungssektors und der Transformation der Wirtschaft. Beide verstärkten sich wechselseitig. Die Wirtschaft erforderte einen immer besseren Ausbildungsstand, weil die Tätigkeiten individueller, verantwortlicher und komplexer wurden, während gleichzeitig das allgemeine Bildungsniveau immer weiter anstieg und einen Aufwärtsdruck erzeugte, der vermutlich auch maßgeblich dazu beigetragen haben dürfte, dass die marxistischen Verarmungsprognosen nicht eintraten und eben nicht eine monokratische "Arbeitshaus"-Kultur entstand, sondern die Betriebsordnungen sich eher pluralisierten.</p><p>Bemerkenswert ist für mich zudem, auch wenn Raphael sich jeglicher Wertung enthält, dass das britische Modell im Vergleich nicht besonders gut aussieht. Die rapide Entmachtung der Gewerkschaften und forcierte Deindustrialisierung führte zu einem so großen Wohlstandsverlust, dass er von den Gewinner*innen der Transformation nicht wirklich aufgeholt werden kann. Demgegenüber ist es auffällig, welche positiven Effekte auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplatzerhalt das deutsche Mitbestimmungssystem besaß, weil es Exzesse beider Seiten - krassen Kahlschlag oder massive Streiks - vermied.</p><p>Auch ein wichtiger Punkt, gerade im Hinblick auf den heutigen Aufstieg der Rechtspopulisten, ist die Ambivalenz zwischen dem "Verlust" schlechter Arbeit - also körperlich anstrengender, monotoner und gesundheitsschädlicher Arbeit - einerseits und der Identität als "Malocher" andererseits. Die Deindustrialisierung und Frühverrentungswelle hatte für die körperliche Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen mit Sicherheit positive Auswirkungen, auf die mentale Gesundheit aber nicht zwingend, weil die Identität als männlicher Alleinernährer und "Macher" verschwand und dazu noch von Randgruppen wie Frauen und Migranten übernommen wurde.</p><p>Zuletzt halte ich Raphaels Betonung der Bedeutung der Betriebsordnungen für wichtig, weil diese gerne hinter Kennzahlen verschwinden. Zwar mag es durchaus sein, dass man die Belegschaft eines Standorts um zwei Drittel kürzen kann und auf dem Papier trotzdem die Produktion aufrechterhalten wird; gleichzeitig führt dies aber zu einem solchen Moralverlust, dass eben diese Produktion gefährdet ist und dass die Arbeitenden zu passiven bis sogar widerständigen Elementen werden, die zwar "Arbeitshaus"-Abläufe leisten können, aber die in der globalisierten Wirtschaft der Wissensgesellschaft zunehmend gefragten individuellen und kooperativen Strukturen nicht leisten können und wollen.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-82108897984286550202024-03-08T06:30:00.001+01:002024-03-08T06:30:00.134+01:00Rezension: Lutz Raphael - Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom (Teil 5)<p> </p><p><img alt="" height="1" kp58c3jff="" src="https://vg06.met.vgwort.de/na/c4c77de8cd49472d9849e8746692db01" width="1" />Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-1/">hier</a>, Teil 2 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-2/">hier</a>, Teil 3 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-3/">hier</a>, Teil 4 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/03/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-4/">hier</a>.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Jenseits-von-Kohle-Stahl-Gesellschaftsgeschichte/dp/3518587358?crid=3L3PEDPDP0DUQ&keywords=jenseits+von+kohle+und+stahl&qid=1699898730&sprefix=jenseits+von+kohle+und%2Caps%2C174&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=955e1973fc94222e38fcaf3ac762da97&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Lutz Raphael – Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom</a></p><p><img alt="" class="alignleft" height="262" src="https://m.media-amazon.com/images/I/71c-bugiXsS._SL1500_.jpg" width="165" />Anders als in der Autoindustrie sah die Lage in krisengebeutelteren Branchen aus. Hierbei sieht er drei Problemkonstellationen. Zuerst die Bildung von Notgemeinschaften, die etwa tarifliche Untergrenzen freiwillig unterschritten oder die Produktion demokratisch weiterführten, obwohl die Unternehmensleitung das nicht mehr wollte, alles mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Die zweite Kategorie war der "mühsame Auszug aus dem Patriarchat" (Kotthoff), das Erkämpfen von pluralistischen Beteiligungsrechten. Zum dritten beschreibt er das Auseinanderbrechen bestehender Sozialstrukturen bei zu starken personellen Einschnitten, das dann die Übernahme innovativer Methoden wegen des Misstrauens gegen das ortsfremde Managment nicht ermöglichte.<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Raphael endet das Kapitel mit einer Betonung der Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen für den wirtschaftlichen Erfolg, die oft übersehen werde. Die Anerkennungskämpfe der Deindustrialisierungszeit brachten vor allem Gewinne für bisher marginalisierte Gruppen (vor allem Arbeitsmigrant*innen). Anders als von marxistischen Theorien prophezeit habe es auch keine weitgehende Zerstörung der Sozialordnungen durch die neuen Managmentmethoden gegeben, die zwar oft Druck und Innovation brachten, aber nicht zwangsläufig in neoliberaler Ausbeuterei mündeten. Gleiches gilt für technische Innovationen: sie "gaben den Entwicklungen betrieblicher Sozialordnungen keine Richtung vor". Besonders erfolgreich seien die Bündnisse für Arbeit gewesen, die es in allen drei Ländern gab. Mit das erfolgreichste Modell war das der "Koevolution", der betrieblichen Mitbestimmung.</p><p>Verschlechternde Betriebsordnungen findet Raphael vor allem in krisengebeutelten Betrieben, in denen die Unternehmensleitung autokratisch ("Arbeitshäuser", wir erinnern uns) die Ordnung aufrecht erhielten und ihre Vorstellungen durchsetzten. Hier standen sich Kapital und Arbeit scharf gegenüber und war die Stimmung schlecht. Insgesamt aber macht er, vielleicht überraschend, einen relativen Gewichtsgewinn pluralistisch-kooperativer Betriebsordnungen aus.</p><p>In <strong>Kapitel 8</strong>, "<em>Industriedistrikte, "Problemviertel" und Eigenheimquartiere: Sozialräume der Deindustrialisierung</em>", wirft er dann abschließend den Blick auf die Lebensbedingungen der Arbeitenden außerhalb der Betriebe. Zu Beginn steht die Erkenntnis, dass die Deindustrialisierung die Sozialräume nachhaltig geändert hat (was, anders als in den Industriebrachen der USA, in Europa zu weitgehender Umgestaltung und Orten der Erinnerungskultur geführt hat).</p><p>Besonders einschneidend sei die Schaffung neuer regionaler Disparitäten, besonders einschneidend im Nord-Süd-Gegensatz Großbritanniens. Auch der Gegensatz von Stadt und Land vertiefte sich. In Deutschland war die Lage ähnlich, wo 1990 zum Nord-Süd-Gefälle auch eines zwischen Westen und Osten hinzukam. Der deutsche Süden und Südwesten profitierten indes davon, dass Kohle und Stahl nie eine große Rolle gespielt hatten und die Transformation deswegen leichter zu verkraften war. Ähnliche Divergenzen finden sich auch in Frankreich. Besonders betroffen waren überall die monoindustriell geprägten Gebiete.</p><p>Raphael "zoomt" nun näher an betimmte Industriedestrikte heran. Besonders erfolgreich waren etwa jene, die eine verwurzelte Hochqualitäts-Arbeitskultur besaßen. In anderen Regionen sorgte die Dominanz von Großkonzernen für eine klare Hierarchie mit zahlreichen abhängigen Zuliefererbetrieben. Gleichzeitig brachte die Transformationszeit eine Renaissance kleinerer und mittlerer Betriebe. Diese Neubildungen waren besonders in der BRD signifikant, während Großbritannien und Frankreich stärkere Deindustrialisierung statt Umbildungen erleben mussten. Oft waren die großen Automobilkonzerne die Fixpunkte dieser Entwicklung. Ein weiteres Phänomen dieser Zeit ist auch der Wegzug der Angestellten und Facharbeiter aus den Städten in die Vorstädte (<em>Suburbia</em>).</p><p>Diese Entwicklung nimmt Raphael in einer zweiten Zoomstufe unter die Lupe. Er macht eine bestehen bleibende räumliche Trennung des Bürgertums, der Angestellten und den Arbeitenden aus; lediglich in Einzelfällen sei das Ideal sozialer Durchmischung erreicht worden. Gleichwohl änderten sich die Lebensverhältnisse der Arbeitendenklasse massiv: die alten Elendsviertel verschwanden zugunsten der einheitlichen Betonkomplexe (die zwar unästhetisch, aber wesentlich komfortabler waren). Dieser Aufstieg in den Lebensbedingungen war direkt mit massivem sozialem Wohnungsbau verknüpft. Als dieser in den 1980er Jahren praktisch eingestellt wurde, endete auch der große Auszug des Proletariats in bessere Wohnverhältnisse. Stattdessen förderte der Staat, besonders unter konservativen Regierungen, den Erwerb von Wohneigentum.</p><p>Die Trends verliefen in den Ländern hierbei unterschiedlich: in Großbritannien etwa mit hohen Eigentumsquoten in engen Reihenhaussiedlungen, in der BRD mit Einzelhäusern und Doppelhaushälften bei höherem Mietanteil. Die Deindustrialisierung und das neue Leitbild des Wohneigentums veränderten die Wohnräume radikal. Einerseits entstanden die bürgerlichen Wohngebieten, andererseits die verwahrlosenden "Problemviertel" der Unterschicht in den in der Boomphase errichteten Arbeitendenquartieren (paradigmatisch in den Pariser Banlieus verkörpert). Die soziale Durchmischung existierte zwar, allerdings nicht in den einstigen sozialdemokratischen Mustersiedlungen, sondern in den Randgebieten, in denen der Bausparvertrag regierte. Die alten Wohnviertel wurden ethnisiert, soziale Probleme und Migration untrennbar miteinander verbunden.</p><p>Die Migration war überhaupt ein wichtiger Aspekt. Der rund 15-17% betragende Anteil der Arbeitsmigrant*innen lebte oft lange in Provisorien und schaffte nur langsam, wenn überhaupt, den Aufstieg in bessere Quartiere. Die von den Regierungen erhoffte massenhafte Rückkehr blieb mangels Perspektiven aber auch oft unrealisiert. Je länger diese Zustände dauerten, desto weniger blieb ein Rückkehrwunsch erhalten (bei den türkischen Migrant*innen in Deutschland etwa sank er von 80% 1985 auf 20% 2005). Den Migrant*innen gelang auch nur selten der Weg in die Festanstellung. Diese Entwicklungen waren in Großbritannien sogar noch ausgeprägter und wurden von der Regierungspolitik aktiver befeuert; hier entstanden "Problemzonen der Dienstleistungsgesellschaft".</p><p>Dieser Wandel der Sozialräume und die wachsende Bedeutung der Migrant*innen führte spiegelbildlich zu einem Verschwinden der klassischen Arbeiterkultur, ihrer Vereine, Organisationen und sozialen Netzwerke. Besonders in Krisenregionen lösten sich diese Milieus einfach auf. Die auf Werten ehrlicher Arbeit und Anstrengung beruhende "Malocher"-Kultur verlor vor allem in diesen Krisenregionen an Bedeutung - und gerade in diese zogen mangels Alternativen besonders viele Migrant*innen. In den kleinstädtischen Wohnquartieren blieben Sozialstrukturen eher bestehen, blieben aber regional bezogen und klassenübergreifend. Ebenfalls zerstörerisch auf diese Milieus und Wertestrukturen wirkten Managmentwechsel und Unternehmensreformen, die klassische Patriarchen durch gesichtsloses Managment ersetzte und betriebliche Sozialleistungen abschaffte.</p><p>Industrielle Sozialformen zogen sich so in die Randbereiche zurück, hörten aber nicht komplett zu existieren auf. Besonders, wo eine "untere Mittelschicht" entstand (meist im Dienstleistungssektor beheimatet), blieben starke Strukturen erhalten oder bildeten sich neu. Die erhoffte Durchmischung blieb auch wegen der zunehmenden Bedeutung des Pendelns aus, das immer größere Ausmaße annahm. Das Verschwinden der monoindustriellen Gebiete sorgte auch für ein Verschwinden industrieller Ballungszentren, das nicht ausgeglichen wurde.</p><p>Im <strong>Schluss</strong>, "<em>Die Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung als Problemgeschichte unserer Gegenwart?</em>", fasst Raphael wichtige Aspekte noch einmal zusammen. Erstens habe die Deindustrialisierung zum ersten Mal seit 1945 wieder klare Gewinner und Verlierer produziert; der "Fahrstuhleffekt" des Booms hörte auf. Ab den 1970er Jahren blieben die Reallohnsteigerungen sehr bescheiden, die Qualität der Arbeit aber nahm vielfach zu. Die britische Entscheidung zu radikaler Deindustrialisierung habe den sozialen Gegensatz im Land einerseits, aber auch den zwischen Insel und Kontinent andererseits bereits lange vor dem Brexit vertieft. Industrielle Arbeit sei dort am erfolgreichsten geblieben, wo technische Innovationen die Veränderungen herbeiführten. Die anhaltende Wirkung des Betriebs als positiver Bezugspunkt sei ein Beweis für die Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen, bei denen ein pluralisierend-kooperativer Trend zu beobachten sei. Andererseits war auch die Transformation von Betrieben in "Arbeitshäuser" ein Teil dieser Realität.</p><p>Der "Abschied vom Malocher" sei aber auch als sozialer Prozess zu begreifen, etwa durch die Verbreitung von Wohneigentum und den Abschied vom männlichen Ernährermodell. Der Anteil an Frauen an Fachkräften nahm langsam, aber beharrlich zu. Dazu komme eine Pluralisierung der Kultur durch die Einebnung der Grenzen zwischen Populär- und Hochkultur. Raphael schließt sein Buch mit der Feststellung, dass viel weitere Forschungsarbeit vonnöten sei und verteidigt seine Periodisierung 1970-2000 unter anderem mit dem Generationenargument (viele der ab 1970 Betroffenen gingen in Rente) und der Musealisierung der alten Industriekultur in den 2000er Jahren.</p><p>---</p><p>Lutz Raphaels Werk scheint mir ein ähnliches Grundlagenwerk für die Epoche der Deindustrialisierung zu sein wie <a href="https://www.deliberationdaily.de/2023/10/rezension-juergen-osterhammel-die-verwandlung-der-welt-eine-geschichte-des-19-jahrhunderts/">Osterhammels</a> für das 19. Jahrhundert. Ich halte auch die Prämisse, dass in dieser Zeit eine Deindustrialisierung in Westeuropa (und Nordamerika) stattfand und dass diese einen entscheidenden Umbruch bedeutet, für kaum kontrovers. Die Begrifflichkeit klingt zwar drastisch, weil sie negativ aufgeladen ist; die gleichzeitige Transformation hin zur digitialisierten Dienstleistungsgesellschaft aber (die ja genau der Prozess ist, den der Ostblock genauso wie die Deindustrialisierung verpasste) ist ein elementarer Baustein um Verstehen unserer heutigen Welt. Ich empfehle Raphaels Buch daher vollumfänglich und bitte vorauseilend um Entschuldigung, wenn ich durch das Zusammenfassen vereinfachend oder irreführend war; das Werk ist ziemlich dicht geschrieben und nicht eben für das beiläufig-entspannende Lesen geeignet. Ich möchte die Rezension mit einigen eigenen Beobachtungen beschließen.</p><p>Der Punkt Raphaels, dass trotz des Verlusts des sozialistischen Klassenbewusstseins ("Proletariat") in der Wahrnehmung der unteren Schichten ein eher soziologisches bestehen blieb ("Wir gegen die"), scheint mir gerade im Ignorieren dieser Wahrnehmung ein oft übersehenes Mosaiksteinchen in der Erklärung heutigen Elitenhasses zu sein, aus dem ja die AfD ihre Stärke bezieht. Vor allem sehe ich darin den häufigen Fehler, von der AfD (oder den <em>Republicans</em> oder <em>Tories</em>) als "neuer Arbeiterpartei" zu sprechen; diese finden in jenen Milieus zwar durchaus Zuspruch, aber eben nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil sie es verstehen, diesen Gegensatz zu bedienen, den die Sozialdemokratie durch ihren Schulterschluss mit dem Kapital ("Dritter Weg"), der paradoxerweise ja in den kooperativ-pluralistischen Betriebsordnungen gerade zum Erhalt zahlreicher Arbeitsplätze gführt hat, erst freigegeben hat.</p><p>Ebenfalls unterschätzt scheint mir die Rolle der Frühverrentung als versteckte Subvention zur Erleichterung des sozialen Übergangs. Die Politik der Zeit verstand es, dass die Transformation nur dann möglich war, wenn der Übergang gleitend und abgefedert erfolgte (eine Erkenntnis, die der heutigen Politik mit dramatischen Folgen völlig abgeht). Zwar war die Frühverrentung eine tickende Zeitbombe für das Sozialsystem, an der wir bis heute leiden; gleichzeitig aber halte ich das Fehlen eines Aufstiegs radikaler Parteien durch die gesamte Transformationszeit in nicht unerheblichem Maße auf genau diese Entwicklung zurückführbar. Das erfordert in meinen Augen eine wesentlich intensivere Beschäftigung.</p><p>Ebenfalls auffällig ist für mich das Wechselspiel zwischen der Expansion des Bildungssektors und der Transformation der Wirtschaft. Beide verstärkten sich wechselseitig. Die Wirtschaft erforderte einen immer besseren Ausbildungsstand, weil die Tätigkeiten individueller, verantwortlicher und komplexer wurden, während gleichzeitig das allgemeine Bildungsniveau immer weiter anstieg und einen Aufwärtsdruck erzeugte, der vermutlich auch maßgeblich dazu beigetragen haben dürfte, dass die marxistischen Verarmungsprognosen nicht eintraten und eben nicht eine monokratische "Arbeitshaus"-Kultur entstand, sondern die Betriebsordnungen sich eher pluralisierten.</p><p>Bemerkenswert ist für mich zudem, auch wenn Raphael sich jeglicher Wertung enthält, dass das britische Modell im Vergleich nicht besonders gut aussieht. Die rapide Entmachtung der Gewerkschaften und forcierte Deindustrialisierung führte zu einem so großen Wohlstandsverlust, dass er von den Gewinner*innen der Transformation nicht wirklich aufgeholt werden kann. Demgegenüber ist es auffällig, welche positiven Effekte auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplatzerhalt das deutsche Mitbestimmungssystem besaß, weil es Exzesse beider Seiten - krassen Kahlschlag oder massive Streiks - vermied.</p><p>Auch ein wichtiger Punkt, gerade im Hinblick auf den heutigen Aufstieg der Rechtspopulisten, ist die Ambivalenz zwischen dem "Verlust" schlechter Arbeit - also körperlich anstrengender, monotoner und gesundheitsschädlicher Arbeit - einerseits und der Identität als "Malocher" andererseits. Die Deindustrialisierung und Frühverrentungswelle hatte für die körperliche Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen mit Sicherheit positive Auswirkungen, auf die mentale Gesundheit aber nicht zwingend, weil die Identität als männlicher Alleinernährer und "Macher" verschwand und dazu noch von Randgruppen wie Frauen und Migranten übernommen wurde.</p><p>Zuletzt halte ich Raphaels Betonung der Bedeutung der Betriebsordnungen für wichtig, weil diese gerne hinter Kennzahlen verschwinden. Zwar mag es durchaus sein, dass man die Belegschaft eines Standorts um zwei Drittel kürzen kann und auf dem Papier trotzdem die Produktion aufrechterhalten wird; gleichzeitig führt dies aber zu einem solchen Moralverlust, dass eben diese Produktion gefährdet ist und dass die Arbeitenden zu passiven bis sogar widerständigen Elementen werden, die zwar "Arbeitshaus"-Abläufe leisten können, aber die in der globalisierten Wirtschaft der Wissensgesellschaft zunehmend gefragten individuellen und kooperativen Strukturen nicht leisten können und wollen.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-2464259321015850912024-03-06T13:43:00.001+01:002024-03-06T13:43:00.145+01:00Rezension: Lutz Raphael – Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom (Teil 4)<p> </p><p>Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-1/">hier</a>, Teil 2 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-2/">hier</a>, Teil 3 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-3/">hier</a>.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Jenseits-von-Kohle-Stahl-Gesellschaftsgeschichte/dp/3518587358?crid=3L3PEDPDP0DUQ&keywords=jenseits+von+kohle+und+stahl&qid=1699898730&sprefix=jenseits+von+kohle+und%2Caps%2C174&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=955e1973fc94222e38fcaf3ac762da97&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Lutz Raphael – Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom</a></p><p><strong><img alt="" class="alignleft" height="262" src="https://m.media-amazon.com/images/I/71c-bugiXsS._SL1500_.jpg" width="165" />Abschnitt 2</strong>, "<em>Nahaufnahmen: Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im Wandel</em>", beginnt mit <strong>Kapitel 6</strong>, "<em>Lebensläufe, Berufskarriere und Jobsuche in Umbruchzeiten</em>". In diesem kombiniert Raphael quantitative Biographieforschung mit direkten Lebensdokumenten, um ein möglichst exaktes Bild zu erlangen. In der Epoche des Booms war der Einstieg in das Arbeitsleben oft unqualifizierte Arbeit, der dann eine Nachqualifizierung und beruflicher Aufstieg folgte. Raphael untersucht zuerst die 1935-1949 Geborenen, die direkt in die Nachkriegszeit hinein erwachsen wurden und dort Arbeit finden mussten. Prekäre, wechselnde Beschäftigung in den 20ern mündete mit der Familiengründung gegen Ende dieser Lebensdekade häufig in einer langfristigen Bindung an ein Unternehmen, um so Sicherheit zu erlangen, die für Familien so essenziell ist.<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Auffällig ist, dass die Produktionsgüterindustrie wesentlich jünger geprägt war, weil hier Akkord- und Schichtarbeit vorherrschten, die vor allem für jüngere Arbeitnehmende attraktiv waren. Den Frauen stand diese Berufskarriere praktisch nicht offen; sie blieben auf ungelernten, temporären Arbeitsstellen hängen. Bis zu den 1970er Jahren, so Raphael, näherten sich die Berufswege ungelernter und gelernter Arbeitskräfte an. Dieser umfassende soziale Aufstieg ermöglichte den Eintritt breiter Gruppen in die Mittelschicht. Damit schien das Ende des Proletariats gekommen; zeitgenössisch sprach man vom <em>affluent worker</em>. Wesentlich schlechter allerdings ging es den meist ignorierten Arbeitsmigrant*innen, die in schlecht bezahlten, prekären Stellungen verharrten. In Deutschland und Frankreich war diese Entwicklung dabei deutlich geradliniger als in Großbritannien, wo regionale Unterschiede und solche der Branche schärfer betont blieben und die Wirtschaftskrise Anfang der 1970er Jahre einschneidender als auf dem Kontinent für Massenarbeitslosigkeit sorgte.</p><p>Raphael wendet sich nach dieser Betrachtung der Boomzeit nun wieder der vergleichenden Länderbetrachtung zu, um die Folgen der Deindustrialisierung zu untersuchen. In Frankreich gingen rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren; die Reallohnzuwächse der Arbeiter*innen betrugen in den 1970er und 1980er Jahren nur noch 1% und fielen in den 2000er Jahren auf null. Während der Anteil an Migrant*innen insgesamt stabil blieb, waren vor allem die Frauen Opfer der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation. Durch diese Entwicklungen änderte sich die Altersstruktur der Fabriken massiv. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit bedeutete einen viel späteren Eintritt in das Arbeitsleben, der Strukturwandel mit seinen Frühverrentungen, dass die Menschen bereits in den 1950er Jahren wieder aus dem Arbeitsleben ausschieden. Wegen der schlechten Chancen auf einen neuen Job harrten viele ältere Arbeitnehmende auch bei großen gesundheitlichen Belastungen in der Hoffnung auf Frühverrentung auf ihren tayloristischen Arbeitsplätzen aus. Diese Beharrung der Älteren stand in Kontrast zu den prekären Arbeitsverhältnissen der Jüngeren. Für die Unternehmen bedeutete dies, dass Änderungen und Innovationen schwieriger durchsetzbar waren, weil die Älteren änderungsavers waren (und immer sind).</p><p>Für Großbritannien hält Raphael zuerst fest, dass die Arbeitsplatzverluste dort wesentlich umfassender und einschneidender waren als in Frankreich oder der BRD. Zahlreiche Arbeiter*innen, die ihre Jobs an die um sich greifende Massenarbeitslosigkeit verloren, wurden zu Servicearbeitenden wider Willen. Mitte der 1980er Jahre war fast die Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos, was von der Thatcher-Regierung durch erzwungene "Youth Training Schemes" verschleier wurde. Auch in Großbritannien bedeuteten die Schließungen für ältere Arbeitnehmende üblicherweise das Ende der Erwerbstätigkeit; auch hier förderte die Regierung über Dauerkrankschreibungen und Frühverrentungen ein das soziale Netz nachhaltig belastendes "Ausgleiten" aus dem Arbeitsmarkt. Die Erfahrung war für die Betroffenen sehr ambivalent: einerseits waren die verlorenen Arbeitsplätze, gerade im Bergbau, gesundheitlich massiv schädlich und anstrengend. Andererseits hing ihre Identität daran. Die Liberalisierung sorgte gleichzeitig für eine massiv sinkende Verweildauer in den Betrieben und zu steigender Unsicherheit und gebrochenen Erwerbsbiografien.</p><p>In der alten Bundesrepublik war der Arbeitsverlust wesentlich geringer und gradueller als in Frankreich und besonders Großbritannien. Auffällig ist, dass die Arbeitsplatzverluste der Männer (die entweder keine oder schlechter entlohnte Arbeit fanden) durch vermehrte Frauenerwerbstätigkeit aufgefangen wurde, gerade in migrantischen Milieus. Hier dominierten auch die unattraktiven Arbeitsverhältnisse wie Nachtarbeit. Wie überall trafen die Rationalisierungsmaßnahmen aber auch in der BRD ältere Arbeitnehmende, die meist frühverrentet wurden (mit den vorhersehbaren Kosten für die Sozialkassen). Das Muster sich nach hinten verschiebender Familiengründungen findet sich auch in Deutschland. Anders als in den Nachbarländern sorgte das duale System aber in Deutschland für eine wesentlich bessere Qualifizierung und Beschäftigung der jungen Generation. Innerbetrieblicher Aufstieg wurde deutlich schwieriger, blieb aber viel realistischer als in Großbritannien oder Frankreich. Zu beobachten ist auch eine starke Zunahme von Teilzeitarbeit, besonders unter Frauen, denen der Weg in die Qualifizierungen und Karrieren weiter weitgehend verstärkt blieb und die auf den unteren Rängen der Hierarchie festgehalten wurden.</p><p>Raphael wendet sich als nächstes der Erfahrung von Heirat und Familiengründung zu. Die Klassendominanz der Heiraten endete bis zu den 2000er Jahren nicht. Allerdings heiratete der kleiner werdende Pool der Arbeiter häufiger Angestellte, die (dann oft in Teilzeit) in Dienstleistungen oder dem Öffentlichen Dienst arbeiteten. Die sich nach hinten schiebende Familiengründung bedeutete eine längere Verweildauer im elterlichen Haushalt. Die einheimischen Kinder setzten dabei oft den Aufstiegsweg der Eltern, wenngleich eben zeitversetzt fort. Das galt für die migrantischen Familien viel weniger. Sie waren wesentlich größeren Risiken des Arbeitsplatzverlusts (und damit auch erzwungener Umzüge und verschobener Familiengründungen) ausgesetzt und konnten oftmals keine Aufstiege in die Mittelschicht erleben, da sie auf den unteren Rängen der Arbeitshierarchie festhingen. Gleichzeitig konnten die Kinder in allen Arbeitendenhaushalten allerdings oft die Ausfälle des Haupternährers durch eigene Arbeit kompensieren, so dass die Gesamthaushaltseinkommen häufig trotz Arbeitslosigkeit annähernd gleich blieben (um den Preis erhöhter Frauenerwerbstätigkeit und längerer Verweildauer der Kinder).</p><p>Raphael stellt aber abschließend fest, dass die Zeitgenoss*innen wesentlich einschneidendere Wirkungen erlebten, als diese empirisch nachweisbar sind. Einen Grund dafür sieht er im zunehmenden Druck in den Unternehmen selbst, die mit mehr Kontrolle, Weiterentwicklung und Rationalisierung reagierten, die auch Arbeitnehmende ohne Arbeitsplatzverlust als Verschlechterung empfanden. Zudem existierten "Inseln der Beschäftigungsstabilität" auch in stark betroffenen Regionen. Besonders hervor hebt er den gesellschaftlichen Konsens, dass der Generation der "Malocher" das Privileg zustünde, von den "Zumutungen von spätem Jobverlust und Dauerarbeitslosigkeit verschont zu bleiben". Die Beschäftigten reagierten zudem mit größerer Betriebstreue auf die wachsende Unsicherheit. Zudem wurden die ungelernten Jobs weitgehend von Arbeitsmigrant*innen erledigt. Die Lebensphase "Jugend" verlängerte sich deutlich und führte zu einem Perspektivenwandel. Zuletzt weist er noch einmal auf die Bedeutung der Frühverrentung für den Erhalt des sozialen Friedens hin.</p><p>In <strong>Kapitel 7</strong>, "<em>Betriebliche Sozialordnungen im Umbruch</em>", ändert Raphael den Blick von dem auf Familienstrukturen zu denen von Betrieben. Diese erlebten auch organisatorisch einen Umbruch; der alte patriarchalische Unternehmertypus wurde zunehmend von unpersönlicheren Strukturen, Metriken und einer Konzentration auf die Entwicklung von Humankapital verdrängt. Die Innovationen jener Jahre führt Raphael weniger auf Begeisterung seitens der Unternehmer*innen als vielmehr die Strukturkrise und die Überlebensnotwendigkeit zurück. Unter den Schlagwörtern <em>lean production</em> und <em>lean managment</em> wurde versucht, Kosten zu reduzieren und so Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Die Gefahr war, dass dies zu einer raschen Abfolge von Managmentpersonal und Organisationsstrukturen führen konnte, die keinerlei Bezug zum Unternehmen besaßen und rein die Kostenseite im Blick hatten, was zu einem Teufelskreis aus Entlassungen, zunehmender Distanz vom Betrieb und sinkender Arbeits- und Produktqualität führen konnte.</p><p>Diese "negative Betriebsidentität" ist für Raphael ein Beleg der Existenz und Bedeutung der Identität der Belegschaft mit dem eigenen Betrieb. Er sieht die Fabrik als "soziales Handlungsfeld", in Deutschland geprägt von der "Produktionsgemeinschaft" innerhalb der Belegschaft und zwischen ihr und dem Managment, die Konflikte als "empfindliche und vermeidbare Störung" empfindet. Dieser Idee stehen marxistische Entwürfe schroff gegenüber, der (fälschlich) eine Dominanz des neoliberalen, einzig auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Organisationsmodells vorhersagte. Dem stehe eine "überraschende Vielfalt" an Betriebsordnungen gegnüber. Diese ordnet Raphael in eine Matrix zwischen monokratisch-pluralistisch und sozialintegrativ-kontraktuell, aus der er vier Typen synthetisiert: paternalistische Betriebe (sozialintegrativ/monokratisch), "Arbeitshäuser" (kontraktuell/monokratisch), Kooperativ-konsensorientiert oder konfrontativ-konfliktorisch (sozialintegrativ/pluralistisch) sowie "Marktgesellschaften" (kontraktuell/pluralistisch).</p><p>Dazu identifiziert er vier Typen von Sozialbindungen in Betrieben. Zuerst berufsbezogene Verbindungen wie die der Facharbeiter (die besonders in Deutschland dank der betrieblichen Mitbestimmung Einfluss hatten), danach die der konkreten Arbeitszusammenhänge von zusammengehörigen Arbeitsabläufen (mit dem Großtrend der Verselbstständigung von Arbeitsabläufen und der damit einhergehenden "Professionalisierung"), drittens die Fabrik oder das Werk (die an Bedeutung verlor) und viertens die Belegschaft in der Struktur des Konzerns oder der Unternehmensgruppe. Letztere markierten in der betrachteten Episode einen bedeutenden Umschwung durch die Fusionen und Aufkäufe besonders der 1990er Jahre.</p><p>Im Ländervergleich fällt die seit 1919 starke Betonung kooperativer Formen in Deutschland auf, während diese in Großbritannien die Ausnahme darstellen. In Frankreich versuchte die Regierung zwar, Kooperation zu fördern, hatte aber gegen die eher monokratische französische Unternehmertradition wenig Erfolg, weswegen das Land wesentlich konfliktorientierter sei. Gleichzeitig gebe es aber viele Gemeinsamkeiten, etwa die Gemeinschaftsstrukturen der "<em>work crews</em>" in körperlich fordernden Jobs. Dies sei aber branchenabhängig; in der Lebensmittelindustrie bestehe eine starke Trennung zwischen Facharbeitenden und Un- und Angelernten. Konflikte würden oft eher konstruktiv gelöst, wo das Ende patriarchalischer Ordnungen mit Gewerkschaften verhandelt werden konnte, während ansonsten eher der oben beschriebene Teufelskreis eintrete.</p><p>Exemplarisch macht Raphael all dies an der Automobilindustrie deutlich. Entgegen der oft gehörten Behauptung konnten die Unternehmen die Bandarbeit nur parziell durch Automatisierung ersetzen, weswegen halb-autonome Arbeitsgruppen eher die Regel wurden. Besonders hervorzuheben ist hier der Einfluss der japanischen Methoden. Hohe Löhne, hohe Sozialleistungen und hohe Ansprüche an die Belegschaft liefen in Tandem und wurden auf Kosten der Zulieferer und deren Belegschaften realisiert, was eine deutliche Zwei-Klassen-Gesellschaft in den Unternehmen und Arbeitsbedingungen mit sich brachte. Der Strukturwandel brachte einen Wechsel von konfrontativen Methoden zu solchen der passiven Arbeitsplatzerhaltung mit sich. So entstanden zwar kooperative, aber in von oben verordnete Sozialstrukturen eingebettete Sozialordnungen. Der Versuch gerade der japanischen Unternehmen, durch Ansiedlungen in strukturschwachen Regionen Streiks und Konfrontation zu vermeiden, ging nicht immer auf; der erste Streik bei Toyota seit 1950 etwa ereignete sich im gerade deswegen ausgesuchten Valenciennes 2009.</p><p>Der Wettbewerbsdruck führte in der Bundesrepublik zu einer Verdichtung der kooperativen Arrangements. Diese brachten der westdeutschen Wirtschaft einen deutlichen Wettbewersvorteil gegenüber den britischen und französischen Modellen. Dies erlaubte es den Betriebsräten, Sicherheitszusagen durch Steigerungen der Produktivität in modernen Akkordsystemen (die auf ganze Betriebe umgelegt waren) zu erreichen, ein win-win-Szenario. Die längeren Betriebszugehörigkeiten sorgten für ein Investment der Arbeitnehmenden in den Betrieb und seinen Überlebenskampf in der globalen Transformation, der gerade britischen Betrieben häufig abging, die zwar kuzrfristig starke Strukturen besaßen, aber kaum Langfristigkeit.</p><p>Weiter geht's in Teil 5.</p><p><img alt="" be3arsppm="" height="1" src="https://vg02.met.vgwort.de/na/8f9f9f35444442b88d9de3f0cb8f717d" width="1" /></p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-79903159879681057702024-02-26T10:12:00.000+01:002024-02-26T10:12:46.540+01:00Rezension: Lutz Raphael - Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom (Teil 3)<p> </p><p><img alt="" height="1" hf0fne74d="" src="https://vg06.met.vgwort.de/na/73ed4de655b7474fbab2e188c5294567" width="1" />Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-1/">hier</a>, Teil 2 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-2/">hier</a>.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Jenseits-von-Kohle-Stahl-Gesellschaftsgeschichte/dp/3518587358?crid=3L3PEDPDP0DUQ&keywords=jenseits+von+kohle+und+stahl&qid=1699898730&sprefix=jenseits+von+kohle+und%2Caps%2C174&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=955e1973fc94222e38fcaf3ac762da97&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Lutz Raphael – Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom</a></p><p><img alt="" class="alignleft" height="262" src="https://m.media-amazon.com/images/I/71c-bugiXsS._SL1500_.jpg" width="165" />Was das Kündigungsrecht anbelangte verbesserte sich die Position der Arbeiter*innen in den 1960er und 1970er Jahren wesentlich: in Deutschland und Frankreich durch klare Kündigungsschutzregeln, die in Deutschland zudem in das System der betrieblichen Mitbestimmung eingebunden waren, in Großbritannien durch Schlichtungs- und Abfindungsverfahren. Der Vergleich bleibt aber laut Raphael schwierig; das deutsche und britische System sind etwa viel flexibler als das französische. Der Schutz vor Kündigungen blieb aber in Großbritannien am schlechtesten ausgeprägt.<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Trendsetter war Großbritannien dagegen in seiner Gesetzgebung gegen geschlechtliche und rassistische Diskriminierung, die bereits in den 1960er Jahren begonnen und in den 1970er Jahren kodifiziert wurde; bis heute funktioniert diese Gesetzgebung auf Basis ihrer ursprünglichen Form weiter. Frankreich begann erst Ende der 1970er Jahre mit ähnlichen Schutzwirkungen und fügte gegenüber Großbritannien starke Regelungen in der Begrenzung der Wochenarbeitszeit hinzu. Die BRD hielt sich hier lange zurück, so dass die 48-Stunden-Woche dominierte (sie galt bis 1994!). Zu Beginn der 1980er Jahre lag durch Tarifverträge in der tonangebenden Metallindustrie die Wochenarbeitszeit bei 40 Stunden, sank dann bis zum Ende des Jahrzehnts auf 38,5 und dann bis 1995 auf 35 Stunden. Gleichzeitig verlängerte sich der Jahresurlaub deutlich. Solche Maßnahmen fehlten in Großbritannien völlig. Die auf europäischer Ebene in den 1980er Jahren eingeführten Sicherheitsstandards wurden in Großbritannien notorisch gebrochen, wo der Staat sie auch praktisch kaum kontrollierte; nicht viel besser sah das Bild in Frankreich aus. In Deutschland war die Lage dank der gesetzlichen Mitbestimmung etwas besser, blieb aber ein Problem.</p><p>Die Sozialpakete waren ebenfalls sehr unterschiedlich konstruiert. Die britischen Lohnnebenkosten waren niedrig, weil die Sozialleistungen steuerfinanziert waren, wodurch die Arbeiter*innen bei Arbeitslosigkeit stark abstürzten (rund 41% des letzten Lohns). Deutschland (etwa 61%) und Frankreich (60-70%) waren deutlich mehr am Modell der Lebensstandardsicherung hin ausgerichtet und banden die Sozialleistungen deswegen direkt an die Löhne. In allen drei Ländern begann in den 1980er Jahren der Sozialabbau, in dem die Regierungen politisch alle gleich vorgingen: sie "kauften sich Zeit", indem sie die bisher abgesicherten Arbeiter*innen massiv im Strukturwandel unterstützten und gleichzeitig neue Beschäftigungsverhältnisse aus den Sozialpaketen heraushielten. Dadurch trat auch das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit auf, bei dem dieses Schleifen der Sozialstandards am deutlichsten sichtbar wurde, weil die Anwartschaften verringert wurden (gleichzeitig aber hoch genug blieben, um das System auf Dauer zu überlasten).</p><p>Dementsprechend veränderte sich auch die Tonlage. Am stärksten war dies wiederum in Großbritannien zu sehen, wo <em>means tests</em> und andere entwürdigende Maßnahmen die Regel wurden, die zu einer deutlichen Erniedrigung von Sozialleistungsempfangenden führten. Auch in Deutschland und Frankreich schwenkten Regierungen in den 2000er Jahren auf diese Linie ein. Die Folge war "eine Rückkehr elementarer Lebensrisiken in den Erfahrungsraum vieler Arbeiterhaushalte", die allerdings sehr ungleich verteilt war: manche Gruppen erlebten sie wesentlich schärfer als andere (vor allem Frauen, Ungelernte und Migrant*innen), während andere Gruppen sie eher als Wetterleuchten am Horizont wahrnahmen.</p><p>Zum Abschluss des Kapitels kommt Raphael auf drei Arbeitswelten. In der ersten besteht das Prinzip der Sozialbürgerschaft weiter, mit all den Absicherungen, die das mit sich bringt. In der BRD findet sich diese Welt noch in großen Teilen der alten Industriebranchen, in Frankreich fast nur in Großunternehmen und in Großbritannien nur in "Inseln". In der zweiten Welt gelten Teile des Systems noch, aber die kollektive Interessenvertretung ist allenfalls noch dysfunktional vorhanden. Klein- und Mittelbetriebe, Investoren aus den USA oder Japan und Neugründungen gehören zu dieser Welt. Die dritte Welt schließlich umfasst alle Betriebe, in denen das System auch <em>de jure</em> aufgekündigt worden war, vor allem Kleinunternehmen und der Dienstleistungsbereich.</p><p><strong>Kapitel 5</strong>, "<em>Facharbeit, Produktionswissen und Bildungskapital: Deutungskämpfe und Neuarrangements</em>", wendet sich dann der Deutung dieser Entwicklungen zu. Im Zentrum steht der viel zitierte "Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft", da in allen drei Ländern in dieser Zeit "Bildung" und "Wissen" zu zentralen Begriffen der Debatte wurden und eine immer größere Rolle spielten. Visionen von der Automatisierung hielten überall Einzug. Die Abwertung von manuellen Tätigkeiten gegenüber geistigen war dabei kein neues Phänomen; schon Karl Marx hatte sie untersucht. Die größte Trennung der Sphären hatte das kapitalistische System des 19. Jahrhundert, in dem alles Wissen beim Fabrikbesitzer lag, während die Arbeiter*innen rein ausführende Tätigkeiten hatten. Die spezialisierte Facharbeit entwickelte sich aus dem Wissen der Handwerker, das diese in die Industrie mitbrachten. Im Verlauf der Industrialisierung nahm die Bedeutung von Wissenstiteln dann immer mehr zu.</p><p>Dadurch stieg die Bedeutung der Facharbeiter*innen, deren Anteil konstant zunahm. In Großbritannien blieb dieser Prozess privat, zwischen Betrieb und Auszubildenden. In Frankreich, das ab 1789 die handwerklichen Traditionen geschliffen hatte, übernahm der Staat die Rolle der Zertifizierung, während Deutschland im Kaiserreich das bis heute gerühmte duale Ausbildungssystem entwickelte, in dem die berufliche Seite bei den Unternehmen und die schulische Seite beim Staat lag.</p><p>In den 1970er Jahren entwickelte sich nun die neue "Bildungsideologie", die Raphael als "Herrschaftswissen" qualifiziert: die Vorstellung, dass man sich in eine "Wissensgesellschaft" bewege, in der "Kompetenzen" statt Bildungstiteln und dazu lebenslanges Lernen dominieren würden, galt als Fakt. Theoretische Grundlage war Gary S. Beckers Theorie vom "Humankapital" (das heute glaube ich nur als Pejorativ vorkommt). Obwohl die Empirie bereits damals gegen diese Vorstellungen sprach, wurden sie aus ideologischen Gründen übernommen und propagierten eine Kombination von öffentlichen Bildungansgeboten mit privaten Zusatzinvestments. Die meinungsbildende Elite modellierte quasi ihren eigenen Status Quo für alle, was angesichts des Fehlens "einfacher" oder "mittlerer" Jobs in den Dienstleistungsbranchen in dieser Ideologie umso augenfälliger ist. Sie galten schlicht als veraltet und unattraktiv.</p><p>Die Bildungssysteme aller drei Länder widersprachen diesen Vorstellungen in den 1960er Jahren massiv. Ihre "Demokratisierung" stand deswegen weit oben auf der Agenda, womit neben einem verbreiterten Zugang auch ein wesentlich größerer Praxisbezug gemeint war. Die prophezeite Neuordnung blieb aber aus: formalisierte Bildungstitel blieben zentral, auch wegen des starken Widerstands der Wirtschaft, die das duale System, die Doktortitel etc. beibehalten wollte. Die "Tertiärisierung" des Bildungssystems war in Frankreich ein großer und eher problematischer Kraftakt, während Großbritannien überhaupt erst in den 1990er Jahren nachzog. Raphael untersucht alle drei Systeme systematisch.</p><p>In Deutschland wurden die Fundamente der Expansion noch in der Großen Koalition gelegt, die noch zur Absicherung des industriellen Booms das korporatistische System zementierte. Die ab den 1970er Jahren einsetzende Bedeutungsverschiebung hin zum sekundären Bildungssektor, vor allem Realschule und Gymnasium, wurde von einer immer größeren Durchlässigkeit des dualen Systems begleitet. Dem stand als Negativum ein immer schwerer Zugang von Hauptschüler*innen und Schulabbrecher*innen gegenüber. Insgesamt bewies das System eine "Modernität des Unmodernen" (Greinert).</p><p>Das britische Lehrlingssystem mit bis zu fünf Jahre währenden Ausbildungszeiten erreichte selbst zu seinen Hochzeiten kaum ein Drittel der Jugendlichen und war in den 1960er Jahren in einer tiefen Krise. Dazu kam, dass die Gewerkschaften das System mit dazu benutzten, ihre Macht zu erhalten, indem sie Zugänge kontrollierten. Die Thatcher-Regierung zerschlug die Macht der Gewerkschaften und reduzierte die Jugendarbeitslosigkeit durch die Einführung eines ein- bis zweijähirgen "Youth Training Schemes", der die Jugendlichen aber nur auf die Wartebank schob und nichts leistete. Die Übertragung der Ausbildung an die Privatwirtschaft scheiterte ebenfalls, weil nur rund ein Fünftel der Betriebe überhaupt ausbildeten. Selbst der unter New Labour betriebene Fokus auf Bildung blieb weitgehend Illusion. Angesichts dieser Lage kam Großbritannien dem bildungsideologischen Ideal einer kompetenzbasierten Gesellschaft am nächsten, in der die Arbeitgebenden bestimmten, welche Fähigkeiten jemand formell besaß. All das hatte den Nebeneffekt, in der Arbeitendenschaft eine Anti-Intellektualität und Ablehnung von Schule festzuschreiben, die das deutsche duale System deutlich verwässern konnte, und so gesellschaftliche Standesgrenzen zu reproduzieren und festzuschreiben.</p><p>Das französische System brachte Schulabgänger*innen mit wesentlich höheren und mit der BRD vergleichbaren Standards an Bildung hervor, was dazu führte, dass die Vermittlung von Wissen und Titeln immer mehr auf die Schulen überging und zu einem Bedeutungsverlust der Facharbeitendenschaft führte. Branche um Branche wurden die alten Ausbildungsgänge komplett abgeschafft und durch neue Strukturen mit eigenen Zugangshürden ersetzt.</p><p>Diese Entwicklungen führten dazu, dass die Öffnung des Bildungssystems paraxoderweise die Lage der Arbeiterklasse als Ganzer verschlechterte, weil sie zu einer zunehmenden Bedeutung formaler Abschlüsse führte. Am schlechtesten schnitt das britische System ab, wo der Ausbildungsgrad aller Arbeitenden durch die Fiktion eines Erwerbs im Beruf am geringsten blieb. In Frankreich war der Bildungserwerb durch die Fokussierung auf das staatliche Schulsystem am größten, aber auch praxisfernsten und hatte wegen der auch rechtlich deutlichen Trennung der verschiedenen Klassen einen wenig durchlässigen Effekt; gleichzeitig war das System aber für die dadurch gebildeten Schichten (wie auch in Deutschland) deutlich besser auf die Herausforderungen der Zukunft eingestellt, weswegen diese Länder anders als Großbritannien auch eher auf exportorientierte Qualitätsproduktion setzten, während die Insel eher versuchte, Wettbewerbsfähigkeit durch niedrigeres Lohnlevel zu erhalten.</p><p>Die Arbeit selbst veränderte sich ebenfalls massiv: von einer tayloristischen Organisation ging der Trend zu flexibleren, aber auch fordernderen Arbeitsorganisationen, in denen das Idealbild angestrebt wurde, nachdem jede*r Arbeiter*in bis zu fünf verschiedene Jobs beherrschte (<em>multiskilling</em>). In der Praxis wurde dieses Ideal wegen der Fluktuation und fehlender Ausbildung im Betrieb vor allem in Großbritannien selten erreicht, aber wo es gelang, entstanden große Produktivitätsgewinne.</p><p>Raphael beschließt das Kapitel mit sieben Feststellungen. Erstens nahmen die fachlichen Anforderungen an ALLE Arbeitenden zu; zweitens wurden Weiterbildung und -qualifikation für ALLE Arbeitenden zu essenziellen Identitäsmerkmalen; drittens die bereits erwähnte Flexibilisierung; viertens die Herausforderung, die darin vor allem für ältere Arbeitnehmende bestand; fünftens der Generationenbruch ("Abschied vom Malocher"); sechstens die Disziplinierung durch eine Null-Fehler-Toleranz und größere Disziplin am Arbeitsplatz; siebtens die Reproduktion von Geschlechterrollen durch die Entindustrialisierung, da die Frauen von den Weiterbildungsangeboten weitgehend ausgeschlossen waren. Zuletzt erinnert Raphael noch einmal an die Bedeutungszunahme der Subjektivierung: was Kompetenzen wert waren und wie Arbeit konkret entlohnt wurde, war immer mehr bilateralen Abkommen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebern unterworfen.</p><p>Weiter geht es in Teil 4.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-22709502626284689782024-02-19T20:44:00.003+01:002024-02-19T20:44:00.140+01:00Oral History: Corona [Gesamtartikel]<p> </p><p><img alt="" height="1" src="https://vg09.met.vgwort.de/na/339c48b146ac4e8fafd3a223da2267d6" uydctq7tn="" width="1" /><em>Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um die Corona-Pandemie 2020-2023, die einem kollektiven Verdrängungsprozess zum Opfer zu fallen scheint. In diesem Teil betrachten wir die Anfangszeit bis zum Herbst 2020.<span></span></em></p><a name='more'></a><em><br /></em><p></p><p>Ich erinnere mich, dass ich irgendwann im Dezember 2019 zum ersten Mal von Corona gehört habe. In den Nachrichten kam es als beginnende Pandemie in Asien vor. Ich heftete es in derselben Rubrik ab, in der auch die Vogel- und Schweinegrippeepidemien liegen: Ereignisse, die in anderen, weit entfernten Ländern stattfanden und trotz mehrfacher Warnungen und Befürchtungen nie in Deutschland durchschlugen. Die Bilder von Asiat*innen mit Gesichtsmasken gehörten zu dieser Entwicklung dazu. Das änderte sich auch im Januar und Februar 2020 für mich nicht großartig. Die Pandemie breitete sich zwar aus, aber die Nachrichtenlage war immer noch eine, die über ein weit entferntes Ereignis berichtete - und entsprechend, wie alle internationalen Neuigkeiten, ging das größtenteils im allgemeinen Rauschen unter, auch bei mir.</p><p>Das alles änderte sich in der zweiten Märzwoche. Am Dienstag, dem 10.03.2020, war ich zum Kindergeburtstag meiner Tochter in einem Indoorspielplatz. Während die Kids tobten, unterhielt ich mich per Whatsapp (Papa-des-Jahres-Award, absolutes Vorbild) mit einem britischen Freund, der durch seinen Beruf als Politikberater deutlich näher am Puls aktueller Entwicklungen ist, über die Lage. Ich hatte in den Tagen zuvor wesentlich mehr Nachrichten zum Thema konsumiert und konnte seine Frage "<em>How worried are you?</em>" mit "<em>very</em>" beantworten. Er fügte mich einer Gruppe hinzu, die News zur Pandemie teilte und besprach und in der diverse Leute waren, die nah an den Schaltstellen der Macht sind - Kongressmitarbeitende, Berater*innen, etc. Entsprechend hatten diese Kontext und Informationen, die noch gar nicht in den Nachrichten rezipiert wurden.</p><p>Die nächsten Tage waren für mich merkwürdig unwirklich. Ich war der aktuellen Nachrichtenlage immer ungefähr anderthalb Tage voraus. Was wir in der Gruppe am Dienstag diskutierten, schaffte es Mittwoch abend in die allgemeinen Nachrichten. Als ich am Mittwoch Nachmittag, dem 11.03.2020, mit meiner Frau über das Thema redete, war sie noch auf dem Stand, auf dem ich Montag gewesen war: eine Kuriosität aus Asien, weiter nichts. Am Donnerstagmorgen, dem 12.03.2020, schrieb ich eine Mail an meine Schulleitung, dass ich der Überzeugung sei, dass wir die Schule schließen sollten, weil die Gefahr so hoch war (die Antwort war, auf eine offizielle Anweisung des Kultusministeriums zu warten). Meinen Schüler*innen wünschte ich vorsorglich schöne Ferien (Osterferien begannen am 06.04.2020), weil ich nicht davon ausging, sie vorher wiederzusehen. Ungläubiges Gelächter antwortete mir. Ich sollte Recht behalten. Bereits am Donnerstnachmittag begann die aufgeregte Debatte über Schließungen.</p><p>Am Freitag, dem 13.03.2020, war die Aufregung groß. In den meisten Bundesländern verkündeten die Ministerpräsident*innen zwischen 8 und 9 Uhr morgens die Schließung der Schulen. In Baden-Württemberg ließ sich die grün-schwarze Landesregierung bis nachmittags Zeit, um dann (wenig überraschend) zum selben Ergebnis zu kommen wie alle anderen Bundesländer. Mich machte das unglaublich wütend, weil es so absehbar war. Denn durch die Verzögerung war es unmöglich, die Schulschließung logistisch noch am Freitag zu machen. Wir mussten deswegen am Montag alle noch kommen und verloren bereits einen Tag. Unsere Schule selbst war auf die Situation gut eingestellt: da wir bei der Digitalisierung Trendsetter waren, konnten wir direkt in den Fernunterricht wechseln: alle Schüler*innen hatten einen Laptop mit der kompletten Office-Suite, darunter das mittlerweile wesentlich bekanntere (als damals) Microsoft Teams. Ich experimentierte zuerst mit Discord, weil die Schüler*innen das überwiegend kannten, wechselte aber bald ebenfalls auf Teams.</p><p>Wesentlich schlimmer waren die Schulschließungen für die Kinder. Die örtliche Grundschule, deren zweite Klasse mein Sohn besuchte, hatte damals keine Mailadressen für die Lehrkräfte und eine GMX-Adresse (!) für die Schule. Die Aufgaben wurden von der Klassenlehrerin per Fahrrad ausgefahren und an die Türen der Familien gehängt, als ein riesiger Stapel Kopien für die ganze Woche. Während meine Tochter (Kindergartenkind) ohne jede Beschäftigung zuhause war und wir im Fernunterricht arbeiten mussten, sollte mein Zweitklässler sechs Stunden konzentriert am Stück Aufgaben abarbeiten. Ha. Ha. Ha. Die Klassenlehrerin war super engagiert und tat ihr Möglichstes, aber das war sehr wenig. Für meinen Sohn war die Schulschließung ein massiver Knick, unter dem er bis heute leidet - genauso wie viele seiner mittlerweile ehemaligen Klassenkamerad*innen.</p><p>Diese frühen Tage der Pandemie waren wild. Bereits am Samstag, dem 14.03.2020, wurden nach den Schulen auch die Spielplätze geschlossen. Ausgangssperren wurden erlassen, die selbst das Spaziergehen in der freien Natur betrafen. Die aus der Rückschau geradezu groteske Überreaktion jener Tage führte zu einer Isolation, die monatelang anhalten sollte. Besonders für die Kinder war das brutal; für die Eltern quasi als Kollateralschaden. Sie gingen nach zwei Wochen die Wände hoch. Das Muster, dass die Familien und jungen Menschen die größten Belastungen zu tragen hatten (neben den Selbstständigen) setzte sich leider durch die gesamte Pandemiezeit fort.</p><p>Wir wissen heute, dass der Infektionsgrad damals gering war; nur ein niedriger einstelliger Prozentwert infizierte sich. Das lag mit Sicherheit an den harten Maßnahmen, die zwar auch keinen Lockdown darstellten, die sich aber wie einer anfühlten. Die weitere Verwendung des Wortes in den folgenden zwei Jahren hölte den Begriff bis zur Unkenntlichkeit aus. <a href="https://www.zeit.de/gesundheit/2022-07/sachverstaendigenrat-corona-massnahmen-gutachten-faq">Was die Maßnahmen gebracht haben, ist bis heute sehr umstritten.</a> Ich bin aber ziemlich zuversichtlich, dass die Maßnahmen diese erste Welle ziemlich abbrachen. Das deckt sich jedenfalls mit den meisten Expert*innen, wenngleich es abweichende (und sicher auch gut begründete) Ansichten gibt. Dass hier keine Klarheit zu erzielen war, war damals bereits völlig offensichtlich. Ich schrieb bereits am 21.04.2020 einen <a href="https://www.deliberationdaily.de/2020/04/wir-brauchen-einen-corona-untersuchungsausschuss/">Beitrag mit der Forderung, nach der Pandemie einen Untersuchungsausschuss einzusetzen</a>, da es während der Pandemie unmöglich war, in Echtzeit die Sache zu verhandeln. Der Artikel gehört in meinen Augen zu den belastbarsten und hellsichtigsten Prognosen, die ich je gemacht habe (<a href="https://www.deliberationdaily.de/2015/06/warum-2016-ein-duell-clinton-vs-bush-wird/">anders als manche andere</a>).</p><p>Eine Kuriosität der Lockdown-Zeit ist sicherlich der Mangel an Klopapier, der in keiner ordentlichen Rückschau auf die Pandemie fehlen darf. Die Leute kauften in der Lockdown-Panik in einem völlig irrationalen Ausmaß Vorräte, so dass etwa Mehl, Nudeln und Dosennahrung großflächig ausverkauft war, genauso wie Handseife und Desinfektionsmittel (der Irrtum, dass sich Corona als Schmierinfektion verbreiten könnte, wurde zwar schnell widerlegt, aber bis 2023 hielten sich überall die Hinweise zum Desinfizieren der Hände und entsprechenden Spender, obwohl sie zwar für die Hygiene toll, für die Pandemie aber völlig irrelevant waren). Zum Symbol dieses Mangels brachte es aber das Klopapier. Warum es überhaupt zu einem Mangel kam, ist bis heute nicht völlig geklärt; die beste Theorie, die ich kenne, ist, dass durch die viele Fernarbeit und den Fernunterricht die öffentlichen Toiletten nicht mehr benutzt wurden, das Klopapier für diese aber nur im Großhandel zu beziehen war, weswegen die haushaltsüblichen Verpackungsgrößen nicht mehr verfügbar waren. Im Ergebnis gab es zwei oder drei Wochen kein Klopapier; das Zeug ist heute noch wesentlich teurer als vor der Pandemie. Jedenfalls gefühlt, und gefühlte Wahrheiten dieser Art gibt es viele.</p><p>Bisher hatten Masken zur Folklore der Pandemieberichterstattung über Asien gehört. Nun brauchten wir sie plötzlich selbst - aber es gab keine. Die bestehenden Vorräte waren in weiser Voraussicht staatlicherseits für das Gesundheitssystem reserviert worden, um nicht die Klopapiersituation zu wiederholen. In den frühen Tagen wurden deswegen Masken handgenäht; ich bekam mein erstes Paket liebevoll genähter Masken von Ariane (nochmal danke dafür!). Später wurden dann langsam die OP-Masken verfügbar, deren Schutzwirkung aber - wie man bald erfuhr - eher zweifelhaft war. Hier zeigte sich aber ein besorgniserregender Trend der Pandemiebewältigung: dass die OP-Masken nicht sonderlich hilfreich waren, war von Anfang an klar. Da aber FFP2-Masken nicht verfügbar waren, wurde hier gezielt eine Desinformationskampagne betrieben, um wenigstens die halbgare Lösung zu verbreiten. Dem allgemeinen Vertrauen half das wenig. Zudem weigerte sich der Staat, Maskenmandate zu veranlassen, weil es keine Masken gab. Das hätte man so begründen können - man begründete es aber mit deren geringer Schutzwirkung, was die bald folgende 180°-Grad-Wende umso unverständlicher machte. Aber dieses Problem wird uns später mit Macht begegnen.</p><p>Das wohl prägnanteste Phänomen jener Tage war der kometenhafte Aufstieg des Virologen Christian Drosten zum Superstar der Pandemie. Der NDR hatte ihn gebeten, in einem Podcast die Pandemie zu erklären. Das Produkt "<a href="https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html">Coronavirus-Update</a>" brachte es trotz (oder wegen?) des sperrigen Namens, der trockenen Gestaltung des NDR und dem wissenschaftlich belastbaren und korrekt agierenden Drosten zu einer unglaublichen Popularität und entwickelte sich zu einer Sternstunde des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Gleichzeitig zeigten sich aber bereits erste Symptome der Spaltung, die ab dem Herbst immer mehr durchschlagen würde. Die noch recht kleine Fraktion der Kritiker*innen brachte eigene Experten in Stellung (vor allem Alexander Kekulé, der dann im MDR (natürlich) <a href="https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/kekule-corona/index.html">einen eigenen Podcast</a> erhielt und Hendrick Streeck, der mit steilen Thesen für Aufmerksamkeit sorgte); Drosten wurde zum Feindbild der bald unter dem Namen "Querdenker" agierenden Kritiker*innen.</p><p>Der Sommer brachte eine spürbare Entlastung. Dieses Muster sollte sich in den kommenden Jahren wiederholen: deutlich sinkende Inzidenzen im Frühjahr und Sommer, entstehende Sorglosigkeit, massiv steigende Fallzahlen in Herbst und Winter, Einschnitte und mehr Vorsicht, wieder Entlastung. Im Sommer 2020 erschien es, als sei das schlimmste bereits überwunden. Die Fallzahlen blieben verschwindend gering, und die Pandemie und der Lockdown schienen überstanden - ganz egal, wie sehr Christian Drosten bereits davor warnte, dass die Zahlen ab September rapide steigen würden und die Politik und Gesellschaft sich vorbereiten sollten. Die Vorbereitung unterblieb auf allen Ebenen.</p><p>Als dann die Fallzahlen im September wieder wie prognostiziert anstiegen, fanden wieder Schließungen statt. Dieses Mal aber waren sie weit weniger strikt als im Frühjahr, was natürlich niemanden davon abhielt davon zu reden, dass man "wieder in den Lockdown" gehe. Die Schulen schlossen wieder, öffneten dann, schlossen wieder, ohne System, ohne Rhythmus. Die Entscheidungen wurden von den Landkreisen einzeln getroffen, Kriterien im Tagestakt aufgestellt und wieder verworfen, während die Politik den Entwicklungen einerseits und dem sich wandelnden wissenschaftlichen Forschungsstand andererseits hinterherrannte. Das Ergebnis war ein überall greifbarer Vertrauensverlust und eine Erschöpfung mit den Maßnahmen. Noch überwog ersteres; die Querdenker dominierten noch nicht.</p><p>Die Debatte war aber mittlerweile von einem Modus des Berichtens über und Unterstützens von Maßnahmen zu einem "Für oder Wider" gewandelt. Abgesehen von Wissenschaftler*innen wie Drosten, die ein zunehmend hoffnungsloses Rückzugsgefecht für wissenschaftliche Betrachtungen führten, setzte ein allgemeines Cherry-Picking ein. Andere Länder mussten für den Beleg der eigenen Position herhalten, ohne dass die dortigen Umstände sonderlich bekannt wären. Man denke nur an die Dauerdebatte zu Schweden, das zu einer Chiffre der Querdenker wurde (und von dem wir bis heute nicht wirklich wissen, ob der Ansatz besser oder schlechter war oder woraus er eigentlich bestand, siehe etwa <a class="Article__title" href="https://jabberwocking.com/whats-the-real-story-with-sweden-and-covid-19/" rel="noopener noreferrer" target="_blank">hier</a> und <a class="Article__title" href="https://jabberwocking.com/i-guess-sweden-didnt-kill-everyone-after-all/" rel="noopener noreferrer" target="_blank">hier</a>).</p><p>Als dann die Fallzahlen im September wieder wie prognostiziert anstiegen, fanden wieder Schließungen statt. Dieses Mal aber waren sie weit weniger strikt als im Frühjahr, was natürlich niemanden davon abhielt davon zu reden, dass man "wieder in den Lockdown" gehe. Die Schulen schlossen wieder, öffneten dann, schlossen wieder, ohne System, ohne Rhythmus. Die Entscheidungen wurden von den Landkreisen einzeln getroffen, Kriterien im Tagestakt aufgestellt und wieder verworfen, während die Politik den Entwicklungen einerseits und dem sich wandelnden wissenschaftlichen Forschungsstand andererseits hinterherrannte. Das Ergebnis war ein überall greifbarer Vertrauensverlust und eine Erschöpfung mit den Maßnahmen. Noch überwog ersteres; die Querdenker dominierten noch nicht.</p><p>Die Debatte war aber mittlerweile von einem Modus des Berichtens über und Unterstützens von Maßnahmen zu einem "Für oder Wider" gewandelt. Abgesehen von Wissenschaftler*innen wie Drosten, die ein zunehmend hoffnungsloses Rückzugsgefecht für wissenschaftliche Betrachtungen führten, setzte ein allgemeines Cherry-Picking ein. Andere Länder mussten für den Beleg der eigenen Position herhalten, ohne dass die dortigen Umstände sonderlich bekannt wären. Man denke nur an die Dauerdebatte zu Schweden, das zu einer Chiffre der Querdenker wurde (und von dem wir bis heute nicht wirklich wissen, ob der Ansatz besser oder schlechter war oder woraus er eigentlich bestand, siehe etwa <a class="Article__title" href="https://jabberwocking.com/whats-the-real-story-with-sweden-and-covid-19/" rel="noopener noreferrer" target="_blank">hier</a> und <a class="Article__title" href="https://jabberwocking.com/i-guess-sweden-didnt-kill-everyone-after-all/" rel="noopener noreferrer" target="_blank">hier</a>).</p><p>Inzwischen waren auch FFP2-Masken weithin verfügbar. Es war grundsätzlich bekannt, wie sich die Infektion verbreitete und welche Maßnahmen dagegen halfen. Dass Masken nicht überragend vor einer Ansteckung schützten, aber das Risiko wesentlich senkten, eine Infektion <em>weiterzugeben</em>, war das erste allgemeine Versagen der gesellschaftlichen Wissenstransfusion. Es ging nicht in die Köpfe der Leute. Masken nicht zu tragen wurde als persönliche Entscheidung betrachtet, wie das Anlegen eines Sicherheitsgurts, und nicht als eine Verantwortung gegenüber den Mitmenschen. Dieser Trend, die Pandemie zu individualisieren und dem blanken Egoismus Vorschub zu leisten, sollte zu einem bestimmenden Merkmal der Pandemie werden.</p><p>Auch das Lüften war ein wunder Punkt. An und für sich wurde schnell klar, dass Lüftungssysteme den besten Schutz boten. Nur besaß kaum ein öffentliches Gebäude diese, und auch in vielen Firmen waren sie nicht verbreitet. Besonders auffällig war dies einmal mehr in den Schulen: nirgendwo sonst sitzen so viele Menschen auf so engem Raum in so schlecht belüfteten Räumen. Die Reaktion der Landesregierungen war, zu ständigem Lüften zu ermahnen: alle 10 Minuten sollte gelüftet werden. Im Winter bei stundenlangem Sitzen eine groteske Zumutung. Wenig überraschend wurden solche an und für sich sinnvollen Maßnahmen wenn nur widerstrebend umgesetzt.</p><p>In dieser Zeit begann auch der Trend, sich ärztliche Atteste geben zu lassen, keine Maske tragen zu müssen. Viel zu viele Ärzt*innen gaben diese Bescheinigungen freigiebig heraus, manche sogar aus ideologischen Motiven. Zahlreiche Menschen nutzten das medizinische Argument als transparente Ausrede für ihren verantwortungslosen Egoismus und untergruben damit weiter das Vertrauen in die Wirksamkeit der Maßnahmen, die stattdessen immer mehr zu einem identitätspolitischen Marker wurden: das ostentative Nicht-Tragen oder Falsch-Tragen der Maske wurde en vogue.</p><p>Unterstützt wurde das durch das zweite große Wissenstransfusionsversagen: Masken unter der Nase zu tragen war ein verbreiteter Anblick und machte die Übung völlig sinnlos. Dieses falsche Tragen war weit verbreitet und nicht totzukriegen. Die Gesellschaft versagte auch völlig darin, einen Konsens darin zu finden, dass dieses Falschtragen verwerflich war, weil das grundsätzliche Missverständnis nicht zu beseitigen war, dass es sich dabei um eine rein persönliche Entscheidung handle.</p><p>Inzwischen war auch ein zuverlässiger Corona-Test in Massenproduktion gegangen. Waren im Sommer die Tests noch aufwändig und teuer und auf wenige Testzentren beschränkt, wurden die Tests nun weithin verfügbar. Durch eine massive Überbezahlung wurde es zu einem einträglichen Geschäftsmodell, Tests anzubieten, und überall schossen die Teststationen aus dem Boden. Die Verbreitung von Tests in Supermärkten würde dem 2021 ein langsames Ende bereiten, aber Jens Spahn schaufelte zig Millionen an Subventionen für diese improvisierten Teststationen in den Wirtschaftskreislauf (und verdiente nebenbei an Masken, wie auch andere CDU-Abgeordnete, was dem Vertrauen nicht eben weiterhalf).</p><p>Der Herbst 2020 war aber auch aus anderen Gründen frustrierend. Um einen "Lockdown" wie im Frühjahr zu vermeiden und den Bedenken wegen des Föderalismus und exekutiver Machtüberschreitung entgegenzukommen, wurde so viel Entscheidungsmacht wie möglich so weit nach unten wie möglich verlagert. Grenzwerte wurden festgelegt und permanent angepasst, vor allem auf Basis politischer, nicht virologischer Überlegungen. Schulen wurden im einen Landkreis geschlossen und im anderen nicht. Im einen Landkreis gab es eine Testapp, die aber nur in diesem Landkreis akzeptiert wurde (dafür aber einen zweistelligen Millionenbetrag kostete). Zunehmend machte sich Müdigkeit über die Maßnahmen breit, wurden die Konflikte schärfer. Wer die Maßnahmen als rein private, eigenverantwortliche Handlungen begriff, glitt immer mehr ins Lager der Maßnahmengegner*innen ab; die Radikalversion davon waren die Corona-Leugner*innen, die immer mehr Zulauf erhielten und die Gefahr der Pandemie komplett abstritten. Die Einigkeit der Bevölkerung aus dem Frühjahr 2020, als der Lockdown und die Maßnahmen von allen getragen wurden, evaporierte.</p><p>Doch es gab auch gute Nachrichten. Im Frühjahr 2021 wurde bekannt, dass ein Impfstoff entwickelt worden war. Dieses Wunder ist bis heute nicht hinreichend anerkannt. Die drastisch beschleunigten Zulassungsprozesse und die Unterstützung der Forschungslabore stellen ein Musterbeispiel der Zusammenarbeit von Staat und freier Wirtschaft dar. Die Impfstoffe gingen zuerst an medizinisches Personal und ältere Menschen in Risikogruppen, wurden aber schnell auf Gruppen ausgeweitet, die ebenfalls ein hohes Risiko trugen - dazu gehörten auch Lehrkräfte, weswegen ich schnell eine grundsätzliche Berechtigung hatte. Das Erhalten eines Impftermins stellte eine größere Operation dar: man musste eine Hotline anrufen, die permanent besetzt war, und erhielt dann (mit Glück und Berechtigungsnachweis) einen Impftermin in einem der neuen Impfzentren.</p><p>In unserem Fall wurde das in der örtlichen Sporthalle aufgebaut. Der Aufbau dieser Impfzentren war ein weiteres Beispiel überraschender staatlicher Leistungsfähigkeit (die während der Pandemie so oft Seite an Seite mit Komplettversagen lag). Es gab ein Leitsystem, gut geschultes Personal, einen klaren und eng getakteten, funktionierenden Zeitplan, Informationen und Einverständniserklärungen - der ganze Prozess ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie staatliches Handeln in einer Krise funktionieren muss. Perfekt war er natürlich nicht, aber den Umständen entsprechend - und auch im internationalen Vergleich - war es doch erstaunlich.</p><p>Frühjahr und Sommer 2021 folgten abgesehen von dem Roll-Out der Impfungen, die - wesentlich schneller als alle Prognosen es vorhergesehen hatten - demselben Schema wie der 2020. Die Inzidenzen nahmen ab, die Pandemie rückte in den Hintergrund. Die bekannten Dynamiken waren nun vertraut, was das allgemeine Gefühl der Erschöpfung weiter verstärkte. Die Konflikte um das richtige Tragen von Masken und das Ausmaß gegenseitiger Rücksichtsnahme nahmen an Schärfe zu und fanden endgültig ihren Weg in die Politik, wo sie zwar weitgehend entlang parteipolitischer Grenzen verliefen (die FDP versuchte sich teilweise als Anti-Corona-Partei zu profilieren, verlor aber vorhersagbar gegen die Populisten-Partei AfD scheitern musste, während die Grünen die Maßnahmen am stärksten unterstützten, obwohl sie nicht einmal an der Regierung waren), aber letztlich keinen Niederschlag in Parteiprogrammen fanden. Der je nach persönlicher Wertung pragmatische oder chaotische Ansatz der Regierung zu den Maßnahmen verhinderte im Guten wie im Schlechten jede Konsistenz.</p><p>Die Frage, wie lange die Pandemie dauern würde, wurde immer drängender. Die allgemeine Erschöpfung bedeutete, dass sie gefühlt zu Ende sein musste; die Impfungen schienen zudem zu bedeuten, dass das Ende in Sicht war. Die Warnungen etwa Christian Drostens, dass dies ein gefährlicher Irrtum war, drangen erstmals nicht durch. Auch in den Medien wurde das kaum mehr rezipiert; der kurze Frühling der Expert*innen machte wieder den gefühlten Wirklichkeiten Platz. Es würde einen weiteren Infektionsherbst geben - während gleichzeitig Politik, Medien und Öffentlichkeit in seltener Einigkeit erklärten, dass es keinesfalls zu irgendwelchen Schließungen von irgendetwas kommen würde.</p><p>Das passte zur rapiden Politisierung der Impfungen. 2021 war das Jahr der "Querdenker", die in zahlreichen Demonstrationen den Eindruck einer Massenbewegung zu erwecken versuchten, was angesichts der Heterogenität der Bewegung auch ein Einfallstor für die AfD bot, der es recht erfolgreich gelang (erfolgreicher jedenfalls als bei vergleichbaren Protesten wie denen der Landwirte 2023/24), sich an die Querdenker anzudocken. Die Impfquoten blieben deutlich unter den Erwartungen und reichten nicht aus, um der Pandemie den Garaus zu machen. Sie garantierten praktisch eine Fortsetzung der Krankheit über 2021 hinaus.</p><p>In der Debatte um die Impfungen wiederholten sich die Fehler des Vorjahres: sie wurden als rein individuelle Entscheidung geframed, nicht als Schutzmaßnahme für andere. Es wurde zu einer identitätspolitischen Frage, ob man an Impfungen glaubte oder nicht; die Politik verdrehte sich in Knoten, um den Impfgegner*innen entgegenzukommen (die gleichwohl in hysterischen Tönen vor der Impfdiktatur warnten). Dabei waren Personen unter 18 Jahren noch weitgehend von den Impfungen ausgeschlossen und die Risikogruppen immer noch genau das - Risikogruppen. Aber Empathie und Rücksichtnahme waren weitgehend erschöpft. Die Appelle verhallten ungehört.</p><p>Das Schlagwort jener Tage war "Mit Corona leben". Es wurde die Phrase, mit der das Ignorieren der Pandemie und die Forderung nach einer Aufhebung sämtlicher Maßnahmen legitimiert wurden. Die Idee war, dass die Pandemie endemisch werden würde und dass über kurz oder lang ohnehin alle sie bekommen würden. Das war natürlich auch von Anfang an die Vorhersage aller Expert*innen und der langfristige Plan der Politik gewesen; die Frage war lediglich, wie schnell und mit welchen Schutzwirkungen dieser Prozess durchgeführt werden können würde. Jeder Versuch, das konstruktiv und pragmatisch zu lösen, wurde schnell zwischen den immer schärferen Fronten zerrieben: auf der einen Seite jene, die unbedingt alle Maßnahmen am besten gestern abschaffen wollten, und auf der anderen Seite jene, die am liebsten eine Verschärfung sehen würden.</p><p>Indessen waren immerhin Impfungen für Kinder verfügbar geworden. In diesem Zusammenhang ist es an der Zeit, auf die unrühmliche Rolle der StIKo hinzuweisen, der "Ständigen Impfkomission" - einem weiteren dieser vielen Gremien, die vor der Pandemie außer den Profis niemandem bekanntgewesen waren und die völlig unvermittelt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerieten. Ihre Rolle war es, Empfehlungen auszugeben, welche Impfstoffe für welche Bevölkerungsgruppen ausgegeben werden sollten. Diese "Empfehlungen" wurden de facto von sämtlichen Arztpraxen befolgt, weswegen sie einer allgemeinen Regel gleichkamen. Durch die gesamte Pandemie hindurch war die StIKo wesentlich zurückhaltender und vorsichtiger als der internationale Durchschnitt. Während andere Länder ganze Bevölkerungsgruppen bereits impften, empfahl die StIKo noch, abzuwarten und zu testen und die Empirie zu vergrößern. Dasselbe Prozedere galt auch für die Impfungen für Kinder.</p><p>Der Grund lag darin, dass die Chancen, einen schweren Covid-Verlauf zu haben, umso geringer waren, je jünger die Erkrankten waren. Das war auch richtig; allein, bei einer Pandemie werden so viele Menschen infiziert, dass das immer noch zehntausende von Kindern betrag. Ich zumindest war nicht bereit, meine eigenen Kinder darunter zu sehen - besonders, weil das Risiko der Impfung selbst, das immer als Argument vorgebracht wurde, um mehrere Faktoren niedriger war. Zum Glück funktionierte die Impfstruktur des Staates einmal mehr hervorragend: die schon beinahe stillgelegten Impfzentren sprangen wieder in Aktion, man konnte Termine buchen und die Kinder auf eigene Gefahr impfen lassen. Dabei fiel mir direkt auf, wie viel kleiner der Andrang als im Jahr vorher bei den ersten Impfungen. Die Desinformationskampagnen hatten ihre Wirkung getan. Zahllose Menschen hatten völlig überzogene Angstvorstellungen bezüglich der Impfungen.</p><p>Wie viel die Impfungen denn halfen, ist immer schwer zusagen. Vor einer Ansteckung bewahren können sie kaum, aber die Verläufe mindern können sie. Da wir keine Wiederholung ohne machen können und weil alles andere der geistigen Gesundheit kaum zuträglich wäre nehme ich an, dass sie bei uns diese Wirkung taten, als im März 2022 das Schicksal zuschlug. Zuerst wurde mein Sohn krank. Unsere halbherzigen Versuche, zuhause eine Isolation hinzubekommen, scheiterten schnell an der Realität eines kranken 9jährigen. Zwei Tage später zeigte der Test meiner Frau positiv, zwei weitere Tage später meiner. Mein Sohn hatte Glück; er hatte den für Kinder typischen milden Verlauf. Drei Tage lag er waidwund darnieder und litt an den Symptomen einer Grippe, dann war er auf dem Weg der Erholung. Meine Tochter entging mysteriöserweise einer Erkrankung völlig; die Tests blieben negativ (bis zum heutigen Tag).</p><p>Meine Frau erwischte es heftiger: über zwei Wochen war sie bettlägerig. Das war schlimm genug, aber da nach nur zwei Tagen ich ebenfalls flach lag waren in der Eltern nur zu bekannten Situation, schwer krank zu sein, aber trotzdem für die Kinder da sein zu müssen (die teilweise ebenfalls noch pflegebedürftig waren). Es war die Hölle. Ich erlitt nicht das in der Anfangszeit von Corona viel diskutierte Symptom des Geschmacksverlusts (an der Stelle bitte allfälligen Wortwitz über den kulturellen und stilistischen Geschmack einbringen), sondern wurde stattdessen von einer nie erlebten Erschöpfung niedergestreckt. Ich lag den ganzen Tag nur herum, unfähig, mich zu etwas zu motivieren oder zu schlafen. Aufstehen oder Treppen steigen war eine schier unüberwindbare Aufgabe und laugte mich völlig aus. Das ging drei Wochen so, bevor ich soweit genesen war, dass ich wieder zur Arbeit gehen konnte.</p><p>Dachte ich jedenfalls. Im April fanden - wie alljährlich - die Abiturprüfungen statt, und natürlich war ich (wie immer) der Überzeugung, dass man auf mich in dieser schweren Zeit nicht verzichten könne und fühlte mich vom Pflichtgefühl zurück an den Arbeitsplatz gedrängt. Es war katastrophal. Mit Mühe leistete ich die Arbeit des Vormittags ab, um dann völlig kaputt nach Hause zu kommen um den Rest des Nachmittags zu schlafen. Hätte ich nicht mehrere Jahre Berufserfahrung und damit einen Vorrat an Material gehabt wäre selbst diese Grundleistung unmöglich gewesen.</p><p>Auch so ging nicht viel. Ich konnte kaum mehr als anwesend sein und die notwendigsten Funktionen ausführen. Immer wieder trafen mich Erschöpfungsattacken. Mein Tiefpunkt war, als ich in eine Abituraufsicht nur noch liegend absolvieren konnte und alle meine Kraft darauf verwendete, nicht einfach einzuschlafen. An diesem Punkt zog ich die Reißleine, meldete mich wieder krank und informierte meine Schulleitung und den Vorstand über meinen Zustand und bat um Verständnis, wenn Funktionen nicht so erledigt würden, wie sie sollten. Ich war nicht mehr in der Lage zu erkennen, wann ich überhaupt diese Funktionen nicht mehr erfüllte. Filmrisse, Aussetzer, Konzentrationsprobleme bestimmten den Alltag. Ich schrieb auch allen Schüler*innen und den Eltern und informierte sie über meinen Zustand, um Gerüchtebildung oder Unmut zu verärgern. Glücklicherweise brachten alle Seiten viel Verständnis entgegen. So ging es in den Mai, den zweiten Monat nach der Erkrankung.</p><p>Eine Besserung trat nur sehr langsam ein. Die Erschöpfungsattacken, Filmrisse und Unzulänglichkeiten kamen in etwa größeren Abständen, aber sie kamen weiter. Ich begann, alle möglichen Ärzt*innen abzuklappern. Ich hatte in meinem Leben noch nie Fachärzt*innen besucht, immer nur Allgemeinmedizin und fertig. Nun war ich bei Lungenärztin, Kardiologen und Neurologin. Der Befund war überall derselbe: nichts festzustellen. Einerseits war das eine gute Nachricht - schließlich hätte auch ein Hirn-, Herz- oder Lungenschaden verantwortlich sein können, der entweder zeitgleich oder sogar durch Corona entstanden war. Gleichzeitig zeigte sich aber auch die Hilflosigkeit einer ganzen Zunft gegenüber der Krankheit. Es gab nichts, was man tun konnte. Dass ich die ganzen Untersuchungen überhaupt machen und diese Aufmerksamkeit bekommen konnte erfüllt mich - wie übrigens im Alltag immer noch - ständig mit Schuldgefühlen. Ohne die private Krankenversicherung hätte das sicher anders ausgesehen.</p><p>Das galt immerhin nicht für den nächsten Heilungsversuch. Meine Allgemeinärztin verschrieb mir eine Kur, etwas, das in meinem Kopf für die Generation 55+ reserviert gewesen war. Das bezahlen (kurioserweise) die gesetzlichen Krankenversicherungen als einzige Leistung besser als die privaten. Der Antrag ging aber problemlos durch, und - einmal mehr vom Pflichtbewusstsein getrieben - zu Beginn der Ferien nahm ich eine dreiwöchige Auszeit von allem und ging in Kur. Ich war nicht der einzige; Covid-Kuren waren der Grund für sicherlich ein Drittel aller Kurgäste.</p><p>Die Kur selbst war eine sehr zwiespältige Erfahrung. In den drei Wochen fühlte ich mich zunehmend einsam, da ich nur wenig Kontakte knüpfen konnte. Das Essen war so mies, dass die Gags aus "Asterix und der Avernerschild" sich wie eine Doku ausnahmen. Das Programm war generisch: Sport, ein bisschen Untersuchungen, viel frische Luft. Ein echtes Kozept hatte die Klinik nicht, die einfach nur Standardprogramme fuhr und abrechnete. Was es an dedizierten Covid-Behandlungen gab betraf die harten Fälle, die grundlegende Hirnfunktionen wieder lernen mussten. Das zeigte drastisch, welch harschen Wirkungen Covid auf allzuviele Betroffene haben konnte, und machte mich demütig dankbar dafür, "nur" mit den Long-Covid-Symptomen geschlagen zu sein, die ich hatte. Ich glaube nicht, dass die Kur viel zu meiner Heilung beitrug; der Zeitfaktor dürfte hier der entscheidende gewesen sein. Die miese Qualität von Kost und Logis tat zusammen mit den über 1500 Euro, die ich aus eigener Tasche zuschießen musste, ein Übriges, ein sehr zwiespältiges Gefühl zu hinterlassen. Umgekehrt war die volle sportliche Betätigung sehr angenehm, und ich fühlte mich zumindest wieder fit.</p><p>Das änderte nichts daran, dass die Rückschläge immer wieder kamen. Ich sage immer, dass ich inzwischen eine Ahnung habe, wie sich Demenz anfühlt. Denn das schlimme ist, dass ich mich überhaupt nicht erinnern kann, was während der "Ausfälle" passiert ist. Ein besonders drastisches Beispiel: ich musste meine Tochter auf 7.30 Uhr in die Schule bringen. Um 8.20 Uhr rief meine Frau aufgelöst an; die Schule hatte sie angerufen, weil die Tochter noch nicht da war. Ich war gerade am Anziehen mit ihr - um sie auf 8.30 Uhr hinzubringen. Mir war völlig unklar, warum ich von 8.30 Uhr ausgegangen war - oder was mit der einen Stunde passiert war. Es war ein erschreckender Moment, der einen auf eine Art hilflos, unzureichend und defekt erscheinen lässt, der sich tief ins Bewusstsein gräbt.</p><p>Aber die Zeit heilte, langsam, aber stetig. Die Episoden wurden weniger, die Abstände größer. Noch immer war meine Leistungsfähigkeit eingeschränkt, aber im November 2022 erklärte meine Frau, dass sie zum ersten Mal das Gefühl habe, ich sei wieder ich selbst. Dieser Winter war auch der erste, in dem alle offiziell so taten, als sei die Pandemie vorüber. Ich konnte das Gefühl nicht teilen. Für mich ist sie das bis heute nicht. Immer noch leide ich manchmal unter Erschöpfungsattacken und Konzentrationsproblemen. Gerade erst (Janurar/Februar 2024) hat mich eine Grippe für mehr als zwei Wochen ausgeknockt. Ich bin anfälliger für solche Krankheiten als früher.</p><p>Es sind diese Erfahrungen, die mich wütend machen, wenn Leute, die weitgehend ungeschoren durch die Pandemie kamen, große Töne von ihrer Harmlosigkeit spucken oder mir gar Egoismus vorwerfen. Dass gerade versucht wird, <a href="https://www.zeit.de/gesundheit/2022-09/corona-massnahmen-lockdown-kritik-querdenker">die Ereignisse umzudeuten oder sogar zu verdrehen</a>, macht das alles nicht gerade besser. Auch das Kopf-in-den-Sand-Stecken von Politik und Gesellschaft, die geradezu aggressive Weigerung, aus der Pandemie zu lernen oder <a href="https://jabberwocking.com/we-still-dont-know-how-to-stop-a-pandemic/">die nächste vorzubereiten</a>, macht mich wütend, weil es sich anfühlt, als wären Opfer und Leiden vergebens gewesen. Dabei ist es ja nicht so, als <a href="https://www.spektrum.de/news/corona-die-lehren-aus-der-pandemie/2121132">gäbe es keine Schlüsse zu ziehen</a>. Auf eine perverse Art weigern wir uns nur, das zu tun. Stattdessen leben wir alle mit Corona.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-16206431094092280302024-02-16T05:30:00.001+01:002024-02-16T05:30:00.250+01:00Oral History: Corona, Folge 3<p> </p><p> </p><p><i>Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde
erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass
der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr
geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß,
wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte
ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen
haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es
einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen
entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über
Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal
geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen
den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es
trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine
prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet,
werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um die
Corona-Pandemie 2020-2023, die einem kollektiven Verdrängungsprozess zum
Opfer zu fallen scheint. In dieser Folge betrachten wir Zeit ab dem
Herbst 2021. <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/oral-history-corona-teil-1/">Folge 1 hier</a>, <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/oral-history-corona-teil-2/">Folge 2 hier</a>. <span></span></i></p><a name='more'></a><p></p><p>Das
Schlagwort jener Tage war "Mit Corona leben". Es wurde die Phrase, mit
der das Ignorieren der Pandemie und die Forderung nach einer Aufhebung
sämtlicher Maßnahmen legitimiert wurden. Die Idee war, dass die Pandemie
endemisch werden würde und dass über kurz oder lang ohnehin alle sie
bekommen würden. Das war natürlich auch von Anfang an die Vorhersage
aller Expert*innen und der langfristige Plan der Politik gewesen; die
Frage war lediglich, wie schnell und mit welchen Schutzwirkungen dieser
Prozess durchgeführt werden können würde. Jeder Versuch, das konstruktiv
und pragmatisch zu lösen, wurde schnell zwischen den immer schärferen
Fronten zerrieben: auf der einen Seite jene, die unbedingt alle
Maßnahmen am besten gestern abschaffen wollten, und auf der anderen
Seite jene, die am liebsten eine Verschärfung sehen würden.</p><p>Indessen
waren immerhin Impfungen für Kinder verfügbar geworden. In diesem
Zusammenhang ist es an der Zeit, auf die unrühmliche Rolle der StIKo
hinzuweisen, der "Ständigen Impfkomission" - einem weiteren dieser
vielen Gremien, die vor der Pandemie außer den Profis niemandem
bekanntgewesen waren und die völlig unvermittelt ins Rampenlicht der
Öffentlichkeit gerieten. Ihre Rolle war es, Empfehlungen auszugeben,
welche Impfstoffe für welche Bevölkerungsgruppen ausgegeben werden
sollten. Diese "Empfehlungen" wurden de facto von sämtlichen Arztpraxen
befolgt, weswegen sie einer allgemeinen Regel gleichkamen. Durch die
gesamte Pandemie hindurch war die StIKo wesentlich zurückhaltender und
vorsichtiger als der internationale Durchschnitt. Während andere Länder
ganze Bevölkerungsgruppen bereits impften, empfahl die StIKo noch,
abzuwarten und zu testen und die Empirie zu vergrößern. Dasselbe
Prozedere galt auch für die Impfungen für Kinder.</p><p>Der Grund lag
darin, dass die Chancen, einen schweren Covid-Verlauf zu haben, umso
geringer waren, je jünger die Erkrankten waren. Das war auch richtig;
allein, bei einer Pandemie werden so viele Menschen infiziert, dass das
immer noch zehntausende von Kindern betrag. Ich zumindest war nicht
bereit, meine eigenen Kinder darunter zu sehen - besonders, weil das
Risiko der Impfung selbst, das immer als Argument vorgebracht wurde, um
mehrere Faktoren niedriger war. Zum Glück funktionierte die Impfstruktur
des Staates einmal mehr hervorragend: die schon beinahe stillgelegten
Impfzentren sprangen wieder in Aktion, man konnte Termine buchen und die
Kinder auf eigene Gefahr impfen lassen. Dabei fiel mir direkt auf, wie
viel kleiner der Andrang als im Jahr vorher bei den ersten Impfungen.
Die Desinformationskampagnen hatten ihre Wirkung getan. Zahllose
Menschen hatten völlig überzogene Angstvorstellungen bezüglich der
Impfungen.</p><p>Wie viel die Impfungen denn halfen, ist immer schwer
zusagen. Vor einer Ansteckung bewahren können sie kaum, aber die
Verläufe mindern können sie. Da wir keine Wiederholung ohne machen
können und weil alles andere der geistigen Gesundheit kaum zuträglich
wäre nehme ich an, dass sie bei uns diese Wirkung taten, als im März
2022 das Schicksal zuschlug. Zuerst wurde mein Sohn krank. Unsere
halbherzigen Versuche, zuhause eine Isolation hinzubekommen, scheiterten
schnell an der Realität eines kranken 9jährigen. Zwei Tage später
zeigte der Test meiner Frau positiv, zwei weitere Tage später meiner.
Mein Sohn hatte Glück; er hatte den für Kinder typischen milden Verlauf.
Drei Tage lag er waidwund darnieder und litt an den Symptomen einer
Grippe, dann war er auf dem Weg der Erholung. Meine Tochter entging
mysteriöserweise einer Erkrankung völlig; die Tests blieben negativ (bis
zum heutigen Tag).</p><p>Meine Frau erwischte es heftiger: über zwei
Wochen war sie bettlägerig. Das war schlimm genug, aber da nach nur zwei
Tagen ich ebenfalls flach lag waren in der Eltern nur zu bekannten
Situation, schwer krank zu sein, aber trotzdem für die Kinder da sein zu
müssen (die teilweise ebenfalls noch pflegebedürftig waren). Es war die
Hölle. Ich erlitt nicht das in der Anfangszeit von Corona viel
diskutierte Symptom des Geschmacksverlusts (an der Stelle bitte
allfälligen Wortwitz über den kulturellen und stilistischen Geschmack
einbringen), sondern wurde stattdessen von einer nie erlebten
Erschöpfung niedergestreckt. Ich lag den ganzen Tag nur herum, unfähig,
mich zu etwas zu motivieren oder zu schlafen. Aufstehen oder Treppen
steigen war eine schier unüberwindbare Aufgabe und laugte mich völlig
aus. Das ging drei Wochen so, bevor ich soweit genesen war, dass ich
wieder zur Arbeit gehen konnte.</p><p>Dachte ich jedenfalls. Im April
fanden - wie alljährlich - die Abiturprüfungen statt, und natürlich war
ich (wie immer) der Überzeugung, dass man auf mich in dieser schweren
Zeit nicht verzichten könne und fühlte mich vom Pflichtgefühl zurück an
den Arbeitsplatz gedrängt. Es war katastrophal. Mit Mühe leistete ich
die Arbeit des Vormittags ab, um dann völlig kaputt nach Hause zu kommen
um den Rest des Nachmittags zu schlafen. Hätte ich nicht mehrere Jahre
Berufserfahrung und damit einen Vorrat an Material gehabt wäre selbst
diese Grundleistung unmöglich gewesen.</p><p>Auch so ging nicht viel.
Ich konnte kaum mehr als anwesend sein und die notwendigsten Funktionen
ausführen. Immer wieder trafen mich Erschöpfungsattacken. Mein Tiefpunkt
war, als ich in eine Abituraufsicht nur noch liegend absolvieren konnte
und alle meine Kraft darauf verwendete, nicht einfach einzuschlafen. An
diesem Punkt zog ich die Reißleine, meldete mich wieder krank und
informierte meine Schulleitung und den Vorstand über meinen Zustand und
bat um Verständnis, wenn Funktionen nicht so erledigt würden, wie sie
sollten. Ich war nicht mehr in der Lage zu erkennen, wann ich überhaupt
diese Funktionen nicht mehr erfüllte. Filmrisse, Aussetzer,
Konzentrationsprobleme bestimmten den Alltag. Ich schrieb auch allen
Schüler*innen und den Eltern und informierte sie über meinen Zustand, um
Gerüchtebildung oder Unmut zu verärgern. Glücklicherweise brachten alle
Seiten viel Verständnis entgegen. So ging es in den Mai, den zweiten
Monat nach der Erkrankung.</p><p>Eine Besserung trat nur sehr langsam
ein. Die Erschöpfungsattacken, Filmrisse und Unzulänglichkeiten kamen in
etwa größeren Abständen, aber sie kamen weiter. Ich begann, alle
möglichen Ärzt*innen abzuklappern. Ich hatte in meinem Leben noch nie
Fachärzt*innen besucht, immer nur Allgemeinmedizin und fertig. Nun war
ich bei Lungenärztin, Kardiologen und Neurologin. Der Befund war überall
derselbe: nichts festzustellen. Einerseits war das eine gute Nachricht -
schließlich hätte auch ein Hirn-, Herz- oder Lungenschaden
verantwortlich sein können, der entweder zeitgleich oder sogar durch
Corona entstanden war. Gleichzeitig zeigte sich aber auch die
Hilflosigkeit einer ganzen Zunft gegenüber der Krankheit. Es gab nichts,
was man tun konnte. Dass ich die ganzen Untersuchungen überhaupt machen
und diese Aufmerksamkeit bekommen konnte erfüllt mich - wie übrigens im
Alltag immer noch - ständig mit Schuldgefühlen. Ohne die private
Krankenversicherung hätte das sicher anders ausgesehen.</p><p>Das galt
immerhin nicht für den nächsten Heilungsversuch. Meine Allgemeinärztin
verschrieb mir eine Kur, etwas, das in meinem Kopf für die Generation
55+ reserviert gewesen war. Das bezahlen (kurioserweise) die
gesetzlichen Krankenversicherungen als einzige Leistung besser als die
privaten. Der Antrag ging aber problemlos durch, und - einmal mehr vom
Pflichtbewusstsein getrieben - zu Beginn der Ferien nahm ich eine
dreiwöchige Auszeit von allem und ging in Kur. Ich war nicht der
einzige; Covid-Kuren waren der Grund für sicherlich ein Drittel aller
Kurgäste.</p><p>Die Kur selbst war eine sehr zwiespältige Erfahrung. In
den drei Wochen fühlte ich mich zunehmend einsam, da ich nur wenig
Kontakte knüpfen konnte. Das Essen war so mies, dass die Gags aus
"Asterix und der Avernerschild" sich wie eine Doku ausnahmen. Das
Programm war generisch: Sport, ein bisschen Untersuchungen, viel frische
Luft. Ein echtes Kozept hatte die Klinik nicht, die einfach nur
Standardprogramme fuhr und abrechnete. Was es an dedizierten
Covid-Behandlungen gab betraf die harten Fälle, die grundlegende
Hirnfunktionen wieder lernen mussten. Das zeigte drastisch, welch
harschen Wirkungen Covid auf allzuviele Betroffene haben konnte, und
machte mich demütig dankbar dafür, "nur" mit den Long-Covid-Symptomen
geschlagen zu sein, die ich hatte. Ich glaube nicht, dass die Kur viel
zu meiner Heilung beitrug; der Zeitfaktor dürfte hier der entscheidende
gewesen sein. Die miese Qualität von Kost und Logis tat zusammen mit den
über 1500 Euro, die ich aus eigener Tasche zuschießen musste, ein
Übriges, ein sehr zwiespältiges Gefühl zu hinterlassen. Umgekehrt war
die volle sportliche Betätigung sehr angenehm, und ich fühlte mich
zumindest wieder fit.</p><p>Das änderte nichts daran, dass die
Rückschläge immer wieder kamen. Ich sage immer, dass ich inzwischen eine
Ahnung habe, wie sich Demenz anfühlt. Denn das schlimme ist, dass ich
mich überhaupt nicht erinnern kann, was während der "Ausfälle" passiert
ist. Ein besonders drastisches Beispiel: ich musste meine Tochter auf
7.30 Uhr in die Schule bringen. Um 8.20 Uhr rief meine Frau aufgelöst
an; die Schule hatte sie angerufen, weil die Tochter noch nicht da war.
Ich war gerade am Anziehen mit ihr - um sie auf 8.30 Uhr hinzubringen.
Mir war völlig unklar, warum ich von 8.30 Uhr ausgegangen war - oder was
mit der einen Stunde passiert war. Es war ein erschreckender Moment,
der einen auf eine Art hilflos, unzureichend und defekt erscheinen
lässt, der sich tief ins Bewusstsein gräbt.</p><p>Aber die Zeit heilte,
langsam, aber stetig. Die Episoden wurden weniger, die Abstände größer.
Noch immer war meine Leistungsfähigkeit eingeschränkt, aber im November
2022 erklärte meine Frau, dass sie zum ersten Mal das Gefühl habe, ich
sei wieder ich selbst. Dieser Winter war auch der erste, in dem alle
offiziell so taten, als sei die Pandemie vorüber. Ich konnte das Gefühl
nicht teilen. Für mich ist sie das bis heute nicht. Immer noch leide ich
manchmal unter Erschöpfungsattacken und Konzentrationsproblemen. Gerade
erst (Janurar/Februar 2024) hat mich eine Grippe für mehr als zwei
Wochen ausgeknockt. Ich bin anfälliger für solche Krankheiten als
früher.</p><p>Es sind diese Erfahrungen, die mich wütend machen, wenn
Leute, die weitgehend ungeschoren durch die Pandemie kamen, große Töne
von ihrer Harmlosigkeit spucken oder mir gar Egoismus vorwerfen. Dass
gerade versucht wird, <a href="https://www.zeit.de/gesundheit/2022-09/corona-massnahmen-lockdown-kritik-querdenker">die Ereignisse umzudeuten oder sogar zu verdrehen</a>,
macht das alles nicht gerade besser. Auch das Kopf-in-den-Sand-Stecken
von Politik und Gesellschaft, die geradezu aggressive Weigerung, aus der
Pandemie zu lernen oder <a href="https://jabberwocking.com/we-still-dont-know-how-to-stop-a-pandemic/">die nächste vorzubereiten</a>, macht mich wütend, weil es sich anfühlt, als wären Opfer und Leiden vergebens gewesen. Dabei ist es ja nicht so, als <a href="https://www.spektrum.de/news/corona-die-lehren-aus-der-pandemie/2121132">gäbe es keine Schlüsse zu ziehen</a>. Auf eine perverse Art weigern wir uns nur, das zu tun. Stattdessen leben wir alle mit Corona.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-19855802901201402992024-02-14T10:11:00.002+01:002024-02-14T10:11:50.522+01:00Rezension: Lutz Raphael - Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom (Teil 2)<p> </p><p><img alt="" height="1" rtpuuv8wu="" src="https://vg05.met.vgwort.de/na/5c421f3f4d634178892f8678f7243c1f" width="1" />Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/rezension-lutz-raphael-jenseits-von-kohle-und-stahl-eine-gesellschaftsgeschichte-westeuropas-nach-dem-boom-teil-1/">hier</a>.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Jenseits-von-Kohle-Stahl-Gesellschaftsgeschichte/dp/3518587358?crid=3L3PEDPDP0DUQ&keywords=jenseits+von+kohle+und+stahl&qid=1699898730&sprefix=jenseits+von+kohle+und%2Caps%2C174&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=955e1973fc94222e38fcaf3ac762da97&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Lutz Raphael - Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom</a></p><p><img alt="" class="alignleft" height="262" src="https://m.media-amazon.com/images/I/71c-bugiXsS._SL1500_.jpg" width="165" />Wenig überraschend interpretierte die BRD die Deindustrialisierung auch als eine Auflösung von Klassen und Schichten. Es gab zahlreiche Versuche, Deutungsmuster zu funden ("Risikogesellschaft" (Beck), "Erlebnisgesellschaft" (Schulze), "Informationsgesellschaft" (Bell). Beliebt in der bundesdeutschen Soziologie ist auch die Konstruktion der <a href="https://www.sinus-institut.de/sinus-milieus/sinus-milieus-deutschland">Sinus-Milieus</a>. Diese Entwicklungen untergruben die alte Mobilisierungssprache nachhaltig. In Frankreich und Großbritannien dominierten amerikanische Deutungsmuster, die in der Deindustrialisierung vor allem eine Individualisierung betrachteten. Alle drei Länder erlebten einen Aufschwung kritischer Berichterstattung über "Problemgruppen", die sich diesem neuen Trend zu verweigern schienen (Arbeitslose, das Prekariat, etc.). Die alte Arbeitsgesellschaft verschwand fast völlig aus dem Blickfeld. Stattdessen entstand das Bild einer Gesellschaft, die die Kontrolle über ihre Ränder verloren hatte. Andere Scheidungslinien wie Rassismus und Sexismus wurden immer bedeutsamer. In der Soziologie breitete sich eine generelle Skepsis aus, inwieweit man überhaupt noch Kollektive fassen könne.<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Zu diesem Prozess gehörte auch die Veränderung der politischen Kommunikation. Die Auflösung der traditionellen Milieus einerseits und der Siegeszug des nivellierenden Fernsehens andererseits erzwangen eine Anpassung der Parteien an die neuen Kommunikationsformen, die die alten Mobilisierungssprachen weitgehend verdrängte. In einer gewissen Weise war dem aber ein falscher Frühling der Klassensprachen vorausgegangen, der durch die günstige Beschäftigungssituation und das links-sozialistische Meinungsklima der 1960er Jahre geschaffen worden war. In Frankreich und Großbritannien war dieser Trend aber dank der stärkeren Klassenstrukturen wesentlich weniger ausgeprägt als in Deutschland.</p><p>In Frankreich verloren die sozialistischen Kampfbegriffe angesichts der Repression des Ostblocks 1956/68 massiv an Attraktivität, während umgekehrt die Mittelschicht ins Zentrum sozialdemokratischer Rhetorik zu rücken begann, ein Prozess, den auch New Labour und Schröders SPD rapide nachvollzogen. Die Sozialdemokratie wurde zunehmend zu einer Partei des Öffentlichen Dienstes und der Angestellten, was sich in ihrer Sprache deutlich abzeichnete. Auch hier sticht die deutsche Situation heraus, da der DGB bereits nach 1945 die Klassenrhetorik Weimars abgelegt und sich auf den Catch-All-Begriff "Arbeitnehmer" festgelegt hatte. Um den Bedeutungsverlust der Arbeiter zu kompensieren bemühten sich die Gewerkschaften um die Aufhebung der alten Trennlinie, was final 2003 gelang.</p><p>Mit ihrem Verschwinden wurde die Arbeiterklasse immer zu einem Gegenstand von Kunst und Kultur. Die Produkte von Arbeiter*innen selbst hatten dabei keinen Erfolg; es waren Arbeiten von aus der Mittelschicht stammenden Intellektuellen ÜBER die Arbeiterklasse, die reüssierten. Dadurch wurde sie zunehmend exotisiert. Zwar wurde sie romantisiert; dies führte aber gleichzeitig zu einem Schein des Gestrigen und Vergangenen, was durch die offizielle Erinnerungspolitik (die vielen Zechenmonumente im Ruhrgebiet etwa) noch verstärkt wurde. In Großbritannien entwickelte sich ein eigenes Genre von Spielfilmen, vor allem im komödiantischen Genre, die die Arbeiterklasse thematisierten. Üblicherweise wurde, wie etwa in "Billy Elliot", der Ausbruch aus diesem dem Untergang geweihten Milieu als erstrebenswert dargestellt.</p><p>Zum Abschluss des Kapitels fasst Raphael noch einmal seine wichtigsten Befunde zusammen. (1) Die Sprachen, die Arbeitern eine kollektive Existenz gegeben hatten, wurden leiser. (2) Ihre politischen Repräsentationsformate lösten sich auf. (3) Gesellschaftliche Ungleichheit wurde zwar im Diskurs nur noch als "Kaleidoskop feiner Unterschiede" thematisiert, von den unteren Schichten aber durchgehend als "wir gegen die" wahrgenommen. Raphael wendet sich daher entschieden dagegen, die Arbeiterklasse als verschwunden anzusehen, nur weil dies im öffentlichen Diskurs postuliert wird.</p><p><strong>Kapitel 3</strong>, "<em>Politikgeschichte von "unten": Arbeitskämpfe und neue soziale Bewegungen</em>", beginnt Raphael mit der Feststellung, dass die Arbeiterbewegung bis in die 1970er Jahre ein aktivistisches, progressives Geschichtsverständnis stetigen Fortschritts durch Protest hatte, das sich danach nachhaltig zerschlug. Neue Bewegungen dockten an die Protestmethoden an und machten sich sicht- und hörbar. Da Arbeiter*innen üblicherweise keinen Zugang zu materiellen oder kulturellen Ressourcen haben, bleiben sie ohne schlagkräftige Organisationen wie die Gewerkschaften ungehört. Raphael will deswegen betriebliche Auseinandersetzungen stärker unter die Lupe nehmen, spiegelbildlich zu Kapitel 1 ihren Einfluss auf die Wirtschaftspolitik untersuchen und die "Ereignisse" (große Streiks etc.) betrachten.</p><p>Streiks wurden in den drei Ländern unterschiedlich gehandhabt. In Großbritannien waren sie rechtlich praktisch unreguliert und oblagen einem "anything goes", während die BRD das Streikrecht am schärfsten begrenzte. Frankreich bildete hier den Mittelweg. Gleichwohl betrachteten während des Booms 1948-1973 die Gewerkschaften Frankreichs den Streik als ein regelmäßig anzuwendendes Mittel der Klassenbildung, während die britischen und westdeutschen Gewerkschaften auf Kooperation mit der Sozialdemokratie setzten (und im deutschen Fall auf die Tarifpartnerschaft).</p><p>Sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien gelang es den Gewerkschaften Anfang der 1970er Jahre, gewaltige Erfolge durchzusetzen. Sie erlangten Inflationsausgleiche und andere monetäre Ergebnisse, aber anders als in der Bundesrepublik, wo die Löhne ebenso (und ohne riesige Streiks) stiegen wurden die Streiks von beiden Seiten auch als Kampf um die Wirtschaftsordnung wahrgenommen und geführt. Der britische Bergbaugewerkschaftsführer Arthur Scargill etwa brachte den Konservativen 1972 und 1974 vernichtende Niederlagen bei, die bei den Tories zur Erstellung einer neuen Strategie absoluter Härte und totalen Kampfes führten, die dann 1984 exerziert wurde - mit durchschlagendem Effekt. Auch in Frankreich gelang es den Gewerkschaften zu Beginn der 1980er Jahre nicht, ihre Erfolge zu wiederholen. Zwar versuchte die Regierung Mitterand kurzzeitig, Nationalisierungen durchzusetzen. Jedoch mussten sie unter dem Druck der wirtschaftspolitischen Wende (Neoliberalismus, Monetarismus, Kapitalisierung, siehe Kapitel 1) schnell eine Kehrtwende hinlegen.</p><p>In der Bundesrepublik brach 1987 eine Welle militanterer Streiks im Ruhrgebiet aus, als unerwartete Betriebsschließungen auch junge Arbeitnehmende betrafen. Vor allem die ausgleichende Politik der SPD-Regierung im Land entschärfte den Konflikt. Am relevantesten aber war die beginnende Kampagne für die 35-Stunden-Woche. Diese Forderung war hochumstritten und sollte von Seiten der Gewerkschaften Arbeitsplatzverluste reduzieren. Die Arbeitgeber lehnten sie vehement ab. Auffällig war die starke Politisierung; die CDU/CSU stellten sich emphatisch auf die Seite der Arbeitgeber, und mit Dehnungen und Übertretungen des Streikrechts wurde versucht, die Streikkassen der IG Metall überzustrapazieren. Der resultierende Kompromiss der 38.5-Stunden-Woche ist für Raphael vor allem darin bedeutsam, dass er einerseits einen Trend zur Flexibilisierung von Tarifverträgen begründete, andererseits aber die Wirtschaft auf den Pfad der Produktivitätssteigerung und Rationalisierung festlegte.</p><p>Das Zeitalter der großen Streiks aber war vorüber. Ein Gefühl der Machtlosigkeit machte sich breit, das zusammen mit der demobilisierenden und entmündigenden Massenarbeitslosigkeit die politische Aktion "von unten" drastisch unattraktiver machte. Dazu kam die beschriebene Entwicklung, dass die Schuld für die Deindustrialisierung den arbeitslosen Arbeiter*innen selbst aufgebürdet und so individualisiert wurde; das Thema wurde in den Medien zudem banalisiert und kaum mehr berichtet. Der letzte Faktor war eine Entpolitisierung: die Wende der Linksparteien zu marktbasierten Konzepten ab den 1980er Jahren nahm den Staat als Adressat von Forderungen aus dem Spiel, da die etablierten Alternativen von Verstaatlichung und direkten wirtschaftlichen Eingriffen nicht zur Verfügung standen. Gleichzeitig gab die Politik viel Geld aus, um die Folgen abzudämpfen und das Thema so weiter aus den Schlagzeilen zu halten, mit entsprechenden Folgen für die Schuldenstände.</p><p><strong>Kapitel 4</strong>, "<em>Von Industriebürgern und Lohnarbeitern: Arbeitsbeziehungen, Sozialleistungen und Löhne</em>", geht wesentlich tiefer auf das Konzept des Industriebürgers ein. Raphael konstatiert, dass ein ganzes Bündel von Gesetzen, Sozialleistungen und vertraglichen Vereinbarungen über den eigentlichen Arbeitsvertrag hinaus die Lebensrealität bestimmten. Die Boomphase mit ihrer Stärkung der Gewerkschaften hatte zu einer mehrfachen Absicherung des Lohnarbeitsverhältnisses geführt, die synonym mit "guter Arbeit" geworden war. Das bedeutete für Arbeiter*innen konkret die kollektiv-tarifrechtliche Absicherung von Löhnen und Arbeitsbedingungen, betriebliche Mitbestimmung, Instanzen für die Durchsetzung dieser Rechte und Schlichtung, Mindestlöhne, individuelle Schutzrechte und zuletzt arbeitsbasierte Ansprüche auf Sozialleistungen.</p><p>Raphael weist darauf hin, dass die oft gehörte Lesart, dass dieses Paket fordistischen Produktionsweisen entsprungen sei, in die Irre führe. Es war ein europäisches Unikum, wurde erst in der postfordistischen Ära geschaffen und kam erst nur Facharbeiter*innen und erst später auch Ungelernten zugute. Zwar durchbrach dieses Paket auf der einen Seite die Statusgruppen des 19. Jahrhunderts, schuf aber auf der anderen Seite neue, vor allem im Bereich der Geschlechter (männliches Einernährermodell, Frau als Hausfrau) und des Migrationshintergrunds (ungelernte und Hilfstätigkeiten bei Menschen mit Migrationshintergrund).</p><p>Ab 1975 geriet das Tarifrecht, die wichtigste Stütze des Systems, immer mehr unter Beschuss. Interessanterweise war dieser von konservativer Seite vorgebrachte Angriff mit einer Verrechtlichung der gewerkschaftlichen Erfolge verbunden: eine neue konservative Sozialpartnerschaft nach dem deutschen Modell wurde auch nach Frankreich und Großbritannien übertragen. Die Arbeiter*innen gaben gewissermaßen ihre Macht zugunsten einer Verrechtlichung ab, die den Spielraum der Gewerkschaften massiv einschränkte, gleichzeitig aber den Status Quo sicherte. Dieses interessengeleitete Arrangement erlaubte er der aufstrebenen "<em>new economy</em>", sich weitgehend außerhalb der Strukturen der Industriegesellschaft zu entwickeln.</p><p>An dieser Stelle legt Raphael einen kurzen Exkurs zu gewerkschaftlicher Organisationsmacht ein. In Großbritannien schwand die gewerkschaftliche Macht in den 1970er und 1980er Jahren massiv; die Gewerkschaften verloren über die Hälfte ihrer Mitglieder. In neuen Unternehmen konnten sie sich kaum etablieren. In Frankreich ist eine ähnliche Krise zu beobachten. Die BRD stellt hier die Ausnahme dar; ihre Gewerkschaften kamen glimpflich davon, besaßen allerdings auch ein niedrigeres Ausgangsniveau. Wie in Großbritannien etablierten sie sich in den neuen Bundesländern niemals. Ähnlich sieht die Lage für die Mitbestimmung aus: in Großbritannien wurde sie praktisch pulverisiert, in Frankreich nahm ihr Wirkungsgrad immer weiter ab, während er in der BRD ab 1972 eher ausgebaut und institutionalisiert wurde.</p><p>Als nächstes wendet sich Raphael dem System der Löhne und Entgeltsysteme zu. Bis in die 1970er Jahre waren Akkordlöhne der Normalfall, wurden jedoch zunehmend durch Gruppensysteme abgelöst, die die Rolle von Maschinen und Teamwork stärker einbezogen. Die Gewerkschaftsmacht sorgte in Deutschland dafür, dass die Tariflöhne stets mit der allgemeinen Entwicklung mithielten (und zogen auch den Öffentlichen Dienst mit). Einbrüche erlebte das System erst mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors und der Wiedervereinigung ab 1990, die für die dortigen Beschäftigten wesentlich schlechter waren. In Großbritannien dagegen war das System nie so flächendeckend gewesen und löste sich ab den 1970er Jahren immer mehr zugunsten des von Liberalen vertretenen Systems individueller Aushandlungen auf, so dass Durchschnittslöhne wenig aussagekräftig sind, weil innerhalb von Branchen starke Variationen bestehen. Zudem machen Überstundenregelungen in Großbritannien einen größeren Teil des Lohns aus (bis zu 40%). Frankreich beschritt hier den Mittelweg: das Lohngefälle war wegen der schlechteren gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht viel größer als in der BRD, aber insgesamt gab es mehr branchenweite Regelungen und Mindestlöhne als in Großbritannien.</p><p>Weiter geht's in Teil 3.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-71043454431286825132024-02-12T06:00:00.001+01:002024-02-12T06:00:00.135+01:00Rezension: Lutz Raphael - Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom (Teil 1)<p> </p><p><img alt="" height="1" nd398dmxq="" src="https://vg09.met.vgwort.de/na/d5b4e4816ec04e4a9ea45bd3a75e4269" width="1" /><a href="https://www.amazon.de/Jenseits-von-Kohle-Stahl-Gesellschaftsgeschichte/dp/3518587358?crid=3L3PEDPDP0DUQ&keywords=jenseits+von+kohle+und+stahl&qid=1699898730&sprefix=jenseits+von+kohle+und%2Caps%2C174&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=955e1973fc94222e38fcaf3ac762da97&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Lutz Raphael - Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom</a></p><p><img alt="" class="alignleft" height="262" src="https://m.media-amazon.com/images/I/71c-bugiXsS._SL1500_.jpg" width="165" />Ende der 1960er Jahre begann eine der größten Verwerfungen seit der Industriellen Revolution, die häufig unter "Strukturwandel" gefasst wird: die Deindustrialisierung Europas zugunsten eines stark anwachsenden Dienstleistungssektors. Der Typus des "Malochers", der so lange das Bild des Arbeiters bestimmte und der für das Selbstbild der Nachkriegs-Wachstums-Ära so entscheidend war, begann an Strahlkraft zu verlieren. Stattdessen rutschten die westlichen Industriegesellschaften in eine Strukturwandelskrise, aus der sie als Dienstleistungsgesellschaften wieder auftauchten sollten. Lutz Raphael legt mit "Jenseits von Kohle und Stahl" eine vergleichende Sozialgeschichte, die die Entwicklung ab dem Ende der 1960er Jahre bis in die 1990er Jahre hinein in Deutschland, Frankreich und Großbritannien nebeneinderstellt. Forschungsansätze verschiedener Art, die den Umbruch "von unten", aus der Perspektive der Betroffenen, erklären sollen, verknüpft er dabei mit einer klassischen Ereignisgeschichte, die gleichwohl stets die große Thematik im Blick haben soll. Inwieweit dieser Forschungsansatz aufgeht, soll die Rezension klären. <span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Der <strong>erste Abschnitt</strong>, "<em>Die Vogelperspektive: Drei nationale Arbeitsordnungen im Umbruch</em>", beginnt in <strong>Kapitel 1</strong>, "<em>Industriearbeit in Westeuropa nach dem Boom: Die politökonomische Perspektive</em>", erst einmal mit Raphaels Versuch, die wirtschaftlichen Grundzüge der Epoche quasi noch aus der Vogelperspektive zu beschreiben. Er sieht einen grundlegenden Prozess der Deindustrialisierung in Westeuropa ab den 1960er Jahren, der aber regional höchst unterschiedlich verlief. Der grundsätzliche Trend der Tertiärisierung, also des Bedeutungszuwachses der Dienstleistungen, verlief in Großbritannien mit der stärksten Intensität, während in Frankreich und Großbritannien die meisten der neu entstehenden Dienstleistungssektoren an den industriellen Kern gekoppelt blieben. Dieser Prozess lässt sich nur global verstehen, denn er ging Hand in Hand mit der gleichzeitigen Industrialisierung Südostasiens (die gleichwohl außerhalb von Raphaels Studie liegt und daher hier nur referenziert wird). Rapahel bezeichnet dies als eine grundlegende "Neuverteilung" der industriellen Substanz in globalem Maßstab.</p><p>Dies hatte Arbeitsplatzverluste von rund 10% im industriellen Sektor zur Folge, die allerdings zu 20-25% ein Statistikeffekt waren, da die Unternehmen viele Jobs in Tochterfirmen auslagerten, die offiziell Dienstleiter sind. Die grundsätzliche Qualität und Anforderungsprofile dieser Jobs blieben weitgehend erhalten. Rund 50% der Jobverluste entsprachen Verlagerungen in die Billiglohnländer und waren unwiderbringlich verloren, weitere 25% stellten Rationalisierungsopfer dar, die der steigenden Effizienz und dem Siegeszug der Mikroprozessoren geschuldet waren (dazu später mehr).</p><p>Die Globalisierung ab den 1980er, besonders aber den 1990er Jahren war hierbei der größte Treiber der strukturellen Verschiebungen, und in diesen beiden Dekaden fand auch der Großteil der Arbeitsplatzverluste statt. In Großbritannien startete der Trend bereits in den 1970er Jahren und hatte wie bereits erwähnt wesentlich durchschlagenderen Effekt. Dagegen entstanden in Frankreich die relativ geringsten Verluste an Arbeitsplätzen im industriellen Sektor. In der BRD waren die absoluten Zahlen wegen der großen Ausgangsbasis - kein Land im Westen war so stark industrialisiert wie Westdeutschland - hoch, aber nur wenige Sektoren (vor allem Textil- und Schwerindustrie) verschwanden vollständig, die meisten blieben erhalten. Das betraf in allen Ländern Schlüsselsektoren (man denke nur an die Autoproduktion in der BRD!) blieben. Vereinfachend gesagt: Für den Binnenmarkt produzierende Branchen blieben, für den Weltmarkt produzierende Branchen gingen. Eine westdeutsche Besonderheit war der weitgehende Bestandserhalt der Werkzeugmaschinenhersteller, die nur hier als Sektor erhalten blieben, weil sie einen Prozess der Hyper-Spezialisierung unterliefen, der ihnen Marktnischen als Weltmarktführer sicherte. Eine Gemeinsamkeit aller drei Länder dagegen war der Bedeutungszuwachs kleiner und mittlerer Unternehmen, was den Anteil an der Industrie anbelangte. Dieser Zuwachs allerdings wurde durch den gleichzeitigen Prozess der Kapitalkonzentration konterkariert, der den Großunternehmen relativ mehr Macht als je zuvor zugestand.</p><p>Dazu kam, dass der Bedeutungsgewinn von Mikroprozessoren und Robotern eine riesige Investitionswelle bedeutete, die gewaltige Kapitalmengen erforderte, was wiederum die Großunternehmen begünstigte. In jedem Fall sorgte dieser Modernisierungstrend für massive Produktivitätsgewinne auf Kosten der Beschäftigung. Damit ging auch eine Komplexitätssteigerung der Arbeit einher, die unqualifizierten und niedrigqualifizierten Arbeitskräften ihren unsicheren Aufstieg in die untere Mittelschicht abrupt beendete und in vielen Fällen existenziell gefährdete. Die Adaption dieser neuen Technologien fiel in der Produktion sehr unterschiedlich und wurde nach dem Prinzip <em>trial and error</em> durchgeführt. Wesentlich klarer waren Effekt und Umsetzung in den Unternehmensorganisationen: die Hierarchien wurden flacher, es wurden bestehende Tätigkeiten outgesourced, was zu Arbeitsplatzverlusten führte. Auch dieser Trend aber wurde konterkariert, in dem Fall durch den Bedarf an zusätzlicher, neuer Verwaltung für die komplexer werdenden Lieferketten, die allerdings auch größere Fertigkeitsniveaus erforderten.</p><p>Auch die Finanz- und Wirtschaftspolitik spielten eine wichtige Rolle, weil sie die Profitmargen der Unternehmen veränderte. Die Stagflation, der 1970er Jahre und die Rezession der frühen 1980er Jahre etwa hatte große Auswirkungen auf die Unternehmensbilanzen. Der Umschwung in der Wirtschaftspolitik zu Beginn der 1980er Jahre (Thatcher, Mitterand, Kohl) veränderte die Struktur der Wirtschaft ebenfalls grundlegend. In allen drei Nationen führte er zu einer Privatisierungswelle, deren Ausmaß allerdings sehr unterschiedlich war. In Großbritannien waren sie naturgemäß wieder am stärksten, aber hier hatten auch große nationale Unternehmen bestanden, wie es sie etwa in der BRD gar nicht gab. Das Land trieb daher die Entindustrialisierung politisch voran und riss dabei Lücken in die Wirtschaftsstruktur, die durch Importe geschlossen wurden, und setzte auf die Finanzindustrie und den Standort London als neue Wirtschaftstreiber, mit all den bekannten Folgen. Im Gegensatz dazu reagierten die BRD und Frankreich mit Erhaltungssubventionen auf den Prozess und bremsen ihn so sozialverträglich (wenngleich zu hohen Kosten) ab.</p><p>Die Entwicklung zum Finanzmarktkapitalismus mochte zwar in Großbritannien ihren Vorreiter gefunden haben, fand aber grundsätzlich in ganz Westeuropa statt. Die Bedeutung des Kapitals wuchs wie bereits beschrieben massiv an und führte zu einer Unterwerfung der Wirtschaft unter den Primat des Shareholder Value und der Banken. Damit ging ein anderes Mindset einher, das ich als Aufstieg der Manager (gegenüber den Unternehmern) beschreiben würde. Auch bei der Internationalisierung der Unternehmensstrukturen war Großbritannien Vorreiter, während Frankreich und Deutschland erst in den 2000er Jahren diesen Prozess nachvollzogen, da vorher starke Verknüpfungen der Unternehmen mit den nationalen Banken bestanden hatten ("Deutschland-AG"). Dieser Prozess brachte auch ein deutlich gesteigertes Innovationstempo hervor; Raphael geht darauf nicht ein, aber es ist kein Zufall, dass der Ostblock gerade in dieser Epoche wirtschaftlich abgehängt wurde.</p><p>Die beschriebenen Trends bedeuteten für viele Arbeiter*innen das Ende des (möglichen) Aufstiegs in die Mittelschicht und für viele andere den Absturz in die Prekarität. Die Jahre waren von einer deutlichen Zunahme instabiler Erwerbsverläufe gekennzeichnet. In Großbritannien und Frankreich litten besonders die Jugendlichen unter hoher Arbeitslosigkeit; das deutsche duale System integrierte diese im Gegensatz dazu viel besser und hatte daher eine niedrigere Jugendarbeitslosigkeit. Auch die Lage der Frauen ist bemerkenswert: die Textilarbeiterinnen, die den Großteil der Beschäftigten in diesem Sektor ausmachten, verschwanden weitgehend geräuschlos (ganz anders als die männlich dominierte Montanindustrie). Viele der Opfer dieser Arbeitsplatzverluste fanden sich im deutlich schlechter bezahlten und wesentlich weniger angesehenen Dienstleistungssektor wieder. Dieser etablierte sich in allen drei Ländern für alle Gruppen, aber eben besonders für Frauen.</p><p>Zusammengefasst: der Niedergang der traditionellen Industrien schaffte eine Beschäftigungskrise; die Deindustrialisierung war verknüpft mit einer weltweiten Neuverteilung von industriellen Ressourcen; der Finanzmarktkapitalismus übernahm vor allem in Großbritannien das Ruder, während in Frankreich und Deutschland Spielräume und Idiosynkratien erhalten blieben; ein genereller Rückzug der Rolle des Staates in der Wirtschaft war zu beobachten; und Deutungskämpfe um all diese Geschehnisse brachen aus - die Raphael in Kapitel 2 näher untersucht.</p><p><strong>Kapitel 2</strong>, "<em>Der Abschied von Klassenkämpfen und festen Sozialstrukturen</em>", schaut dann näher darauf, wie die Deutungskämpfe um die in Kapitel 1 geschilderten Prozesse abliefen. Grundsätzlich postuliert Raphael eine Problematik, das "Meinungswissen" (also das Wissen der Menschen darüber, wie sie Meinungen bilden, wobei dieses Wissen unterbewusst abgespeichert und abrufbar ist) über lange Zeiträume klar zu erfassen. Das macht jede Untersuchung dieses Gegenstands zwangsläufig schwierig.</p><p>Er rät in jedem Fall zu Vorsicht bei klaren Siegesnarrativen, etwa für den Neoliberalismus; die reale Lage war viel differenzierter und lässt sich nicht so leicht vereinfachen. Der Neoliberalismus war zwar ab den 1970er Jahren im Aufschwung, aufbauend auf der Idee, dass ein jede*r des eigenen Glückes Schmied*in sei, wurde aber in jenen Jahren vor allem durch das allgemein verbreitete Krisengefühl befeuert. Er bot aber keine klaren Handlungsanweisungen, weswegen die mit ihm verbundenen Schlagworte eher diffus waren ("Modernisierung", "Dienstleistungsgesellschaft").</p><p>Nach diesen grundlegenden Überlegungen wechselt Raphael in die nationalen Perspektiven. Die Analysen waren in Großbritannien immer klassenzentriert, mit einer entsprechenden Sprache. In Deutschland (Ost wie West) dagegen zog man aus Weimar die Lektion, keinen Gegensatz von Nation und Proletariat mehr zuzulassen und vermied daher größtenteils solche Sprache in der Mobilisierung der Arbeiterklasse. Die Idee vom "Industriebürger" ersetzte die des "Industriearbeiters". In Frankreich schließlich waren jahrzehntelang Kleinbürger der zentrale Bezugspunkt gewesen. Die Arbeiter rückten nur kurz in der Boomphase in die öffentliche Aufmerksamkeit, und diese Aufmerksamkeit ruhte stets auf einem prekären Kompromiss der Konservativen und der "Klassenparteien", der mit dem Ende des Booms wieder aufgekündigt wurde.</p><p>Daher sind die amtlichen Sozialdaten nur schwer vergleichbar. In Frankreich wurden die Arbeiter durch kommunistische Wahlerfolge aufgewertet, so dass die Gesellschaft ab 1947 in fünf Klassen eingeteilt wurde: <em>cadres</em> (die Elite), <em>professions intermédiaires</em> (höhere Angestellte), <em>employés</em> (Angestellte), <em>ouvriers </em>(Arbeiter), <em>agriculteur/artisans/indépendants</em> (Bauern/Künstler/Unabhängige, oder auch schlicht: Sonstige). Diese Anerkennung einer klaren Klassenstruktur macht die französische Taxonomie der britischen ähnlicher als der westdeutschen. Hier hab es die <em>professional occupations</em>, <em>intermediate occupations</em>, <em>skilled occupations</em>, <em>partly skilled occupations </em>und <em>unskilled occupations</em>. Versuche unter New Labour, diese Struktur zu modernisieren, fanden in der Öffentlichkeit wenig Anklang, weswegen das System grundsätzlich immer noch in Nutzung ist. Die BRD nutzte nur die drei Großkategorien, die bereits Bismarcks Sozialversicherungssystem gestaltet hatten: Arbeiter, Angestellte, Beamte. Die amtlichen Statistiken verfolgten stets das politische Ziel, Klassengegensätze zu negieren ("Nivellierte Mittelstandsgesellschaft").</p><p>Weiter geht's in Teil 2.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-53235937840539167952024-02-09T06:00:00.002+01:002024-02-09T06:00:00.264+01:00Oral History: Corona, Teil 2<p> </p><p><img alt="" height="1" qv7cy6z3i="" src="https://vg04.met.vgwort.de/na/c4457c7289de41f4a1dbe4316e9d3dc9" width="1" /><em>Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um die Corona-Pandemie 2020-2023, die einem kollektiven Verdrängungsprozess zum Opfer zu fallen scheint. In dieser Folge betrachten wir Zeit ab dem Herbst 2020. <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/02/oral-history-corona-teil-1/">Folge 1 hier</a>. <span></span></em></p><a name='more'></a><p></p><p>Als dann die Fallzahlen im September wieder wie prognostiziert anstiegen, fanden wieder Schließungen statt. Dieses Mal aber waren sie weit weniger strikt als im Frühjahr, was natürlich niemanden davon abhielt davon zu reden, dass man "wieder in den Lockdown" gehe. Die Schulen schlossen wieder, öffneten dann, schlossen wieder, ohne System, ohne Rhythmus. Die Entscheidungen wurden von den Landkreisen einzeln getroffen, Kriterien im Tagestakt aufgestellt und wieder verworfen, während die Politik den Entwicklungen einerseits und dem sich wandelnden wissenschaftlichen Forschungsstand andererseits hinterherrannte. Das Ergebnis war ein überall greifbarer Vertrauensverlust und eine Erschöpfung mit den Maßnahmen. Noch überwog ersteres; die Querdenker dominierten noch nicht.</p><p>Die Debatte war aber mittlerweile von einem Modus des Berichtens über und Unterstützens von Maßnahmen zu einem "Für oder Wider" gewandelt. Abgesehen von Wissenschaftler*innen wie Drosten, die ein zunehmend hoffnungsloses Rückzugsgefecht für wissenschaftliche Betrachtungen führten, setzte ein allgemeines Cherry-Picking ein. Andere Länder mussten für den Beleg der eigenen Position herhalten, ohne dass die dortigen Umstände sonderlich bekannt wären. Man denke nur an die Dauerdebatte zu Schweden, das zu einer Chiffre der Querdenker wurde (und von dem wir bis heute nicht wirklich wissen, ob der Ansatz besser oder schlechter war oder woraus er eigentlich bestand, siehe etwa <a class="Article__title" href="https://jabberwocking.com/whats-the-real-story-with-sweden-and-covid-19/" rel="noopener noreferrer" target="_blank">hier</a> und <a class="Article__title" href="https://jabberwocking.com/i-guess-sweden-didnt-kill-everyone-after-all/" rel="noopener noreferrer" target="_blank">hier</a>).</p><p>Inzwischen waren auch FFP2-Masken weithin verfügbar. Es war grundsätzlich bekannt, wie sich die Infektion verbreitete und welche Maßnahmen dagegen halfen. Dass Masken nicht überragend vor einer Ansteckung schützten, aber das Risiko wesentlich senkten, eine Infektion <em>weiterzugeben</em>, war das erste allgemeine Versagen der gesellschaftlichen Wissenstransfusion. Es ging nicht in die Köpfe der Leute. Masken nicht zu tragen wurde als persönliche Entscheidung betrachtet, wie das Anlegen eines Sicherheitsgurts, und nicht als eine Verantwortung gegenüber den Mitmenschen. Dieser Trend, die Pandemie zu individualisieren und dem blanken Egoismus Vorschub zu leisten, sollte zu einem bestimmenden Merkmal der Pandemie werden.</p><p>Auch das Lüften war ein wunder Punkt. An und für sich wurde schnell klar, dass Lüftungssysteme den besten Schutz boten. Nur besaß kaum ein öffentliches Gebäude diese, und auch in vielen Firmen waren sie nicht verbreitet. Besonders auffällig war dies einmal mehr in den Schulen: nirgendwo sonst sitzen so viele Menschen auf so engem Raum in so schlecht belüfteten Räumen. Die Reaktion der Landesregierungen war, zu ständigem Lüften zu ermahnen: alle 10 Minuten sollte gelüftet werden. Im Winter bei stundenlangem Sitzen eine groteske Zumutung. Wenig überraschend wurden solche an und für sich sinnvollen Maßnahmen wenn nur widerstrebend umgesetzt.</p><p>In dieser Zeit begann auch der Trend, sich ärztliche Atteste geben zu lassen, keine Maske tragen zu müssen. Viel zu viele Ärzt*innen gaben diese Bescheinigungen freigiebig heraus, manche sogar aus ideologischen Motiven. Zahlreiche Menschen nutzten das medizinische Argument als transparente Ausrede für ihren verantwortungslosen Egoismus und untergruben damit weiter das Vertrauen in die Wirksamkeit der Maßnahmen, die stattdessen immer mehr zu einem identitätspolitischen Marker wurden: das ostentative Nicht-Tragen oder Falsch-Tragen der Maske wurde en vogue.</p><p>Unterstützt wurde das durch das zweite große Wissenstransfusionsversagen: Masken unter der Nase zu tragen war ein verbreiteter Anblick und machte die Übung völlig sinnlos. Dieses falsche Tragen war weit verbreitet und nicht totzukriegen. Die Gesellschaft versagte auch völlig darin, einen Konsens darin zu finden, dass dieses Falschtragen verwerflich war, weil das grundsätzliche Missverständnis nicht zu beseitigen war, dass es sich dabei um eine rein persönliche Entscheidung handle.</p><p>Inzwischen war auch ein zuverlässiger Corona-Test in Massenproduktion gegangen. Waren im Sommer die Tests noch aufwändig und teuer und auf wenige Testzentren beschränkt, wurden die Tests nun weithin verfügbar. Durch eine massive Überbezahlung wurde es zu einem einträglichen Geschäftsmodell, Tests anzubieten, und überall schossen die Teststationen aus dem Boden. Die Verbreitung von Tests in Supermärkten würde dem 2021 ein langsames Ende bereiten, aber Jens Spahn schaufelte zig Millionen an Subventionen für diese improvisierten Teststationen in den Wirtschaftskreislauf (und verdiente nebenbei an Masken, wie auch andere CDU-Abgeordnete, was dem Vertrauen nicht eben weiterhalf).</p><p>Der Herbst 2020 war aber auch aus anderen Gründen frustrierend. Um einen "Lockdown" wie im Frühjahr zu vermeiden und den Bedenken wegen des Föderalismus und exekutiver Machtüberschreitung entgegenzukommen, wurde so viel Entscheidungsmacht wie möglich so weit nach unten wie möglich verlagert. Grenzwerte wurden festgelegt und permanent angepasst, vor allem auf Basis politischer, nicht virologischer Überlegungen. Schulen wurden im einen Landkreis geschlossen und im anderen nicht. Im einen Landkreis gab es eine Testapp, die aber nur in diesem Landkreis akzeptiert wurde (dafür aber einen zweistelligen Millionenbetrag kostete). Zunehmend machte sich Müdigkeit über die Maßnahmen breit, wurden die Konflikte schärfer. Wer die Maßnahmen als rein private, eigenverantwortliche Handlungen begriff, glitt immer mehr ins Lager der Maßnahmengegner*innen ab; die Radikalversion davon waren die Corona-Leugner*innen, die immer mehr Zulauf erhielten und die Gefahr der Pandemie komplett abstritten. Die Einigkeit der Bevölkerung aus dem Frühjahr 2020, als der Lockdown und die Maßnahmen von allen getragen wurden, evaporierte.</p><p>Doch es gab auch gute Nachrichten. Im Frühjahr 2021 wurde bekannt, dass ein Impfstoff entwickelt worden war. Dieses Wunder ist bis heute nicht hinreichend anerkannt. Die drastisch beschleunigten Zulassungsprozesse und die Unterstützung der Forschungslabore stellen ein Musterbeispiel der Zusammenarbeit von Staat und freier Wirtschaft dar. Die Impfstoffe gingen zuerst an medizinisches Personal und ältere Menschen in Risikogruppen, wurden aber schnell auf Gruppen ausgeweitet, die ebenfalls ein hohes Risiko trugen - dazu gehörten auch Lehrkräfte, weswegen ich schnell eine grundsätzliche Berechtigung hatte. Das Erhalten eines Impftermins stellte eine größere Operation dar: man musste eine Hotline anrufen, die permanent besetzt war, und erhielt dann (mit Glück und Berechtigungsnachweis) einen Impftermin in einem der neuen Impfzentren.</p><p>In unserem Fall wurde das in der örtlichen Sporthalle aufgebaut. Der Aufbau dieser Impfzentren war ein weiteres Beispiel überraschender staatlicher Leistungsfähigkeit (die während der Pandemie so oft Seite an Seite mit Komplettversagen lag). Es gab ein Leitsystem, gut geschultes Personal, einen klaren und eng getakteten, funktionierenden Zeitplan, Informationen und Einverständniserklärungen - der ganze Prozess ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie staatliches Handeln in einer Krise funktionieren muss. Perfekt war er natürlich nicht, aber den Umständen entsprechend - und auch im internationalen Vergleich - war es doch erstaunlich.</p><p>Frühjahr und Sommer 2021 folgten abgesehen von dem Roll-Out der Impfungen, die - wesentlich schneller als alle Prognosen es vorhergesehen hatten - demselben Schema wie der 2020. Die Inzidenzen nahmen ab, die Pandemie rückte in den Hintergrund. Die bekannten Dynamiken waren nun vertraut, was das allgemeine Gefühl der Erschöpfung weiter verstärkte. Die Konflikte um das richtige Tragen von Masken und das Ausmaß gegenseitiger Rücksichtsnahme nahmen an Schärfe zu und fanden endgültig ihren Weg in die Politik, wo sie zwar weitgehend entlang parteipolitischer Grenzen verliefen (die FDP versuchte sich teilweise als Anti-Corona-Partei zu profilieren, verlor aber vorhersagbar gegen die Populisten-Partei AfD scheitern musste, während die Grünen die Maßnahmen am stärksten unterstützten, obwohl sie nicht einmal an der Regierung waren), aber letztlich keinen Niederschlag in Parteiprogrammen fanden. Der je nach persönlicher Wertung pragmatische oder chaotische Ansatz der Regierung zu den Maßnahmen verhinderte im Guten wie im Schlechten jede Konsistenz.</p><p>Die Frage, wie lange die Pandemie dauern würde, wurde immer drängender. Die allgemeine Erschöpfung bedeutete, dass sie gefühlt zu Ende sein musste; die Impfungen schienen zudem zu bedeuten, dass das Ende in Sicht war. Die Warnungen etwa Christian Drostens, dass dies ein gefährlicher Irrtum war, drangen erstmals nicht durch. Auch in den Medien wurde das kaum mehr rezipiert; der kurze Frühling der Expert*innen machte wieder den gefühlten Wirklichkeiten Platz. Es würde einen weiteren Infektionsherbst geben - während gleichzeitig Politik, Medien und Öffentlichkeit in seltener Einigkeit erklärten, dass es keinesfalls zu irgendwelchen Schließungen von irgendetwas kommen würde.</p><p>Das passte zur rapiden Politisierung der Impfungen. 2021 war das Jahr der "Querdenker", die in zahlreichen Demonstrationen den Eindruck einer Massenbewegung zu erwecken versuchten, was angesichts der Heterogenität der Bewegung auch ein Einfallstor für die AfD bot, der es recht erfolgreich gelang (erfolgreicher jedenfalls als bei vergleichbaren Protesten wie denen der Landwirte 2023/24), sich an die Querdenker anzudocken. Die Impfquoten blieben deutlich unter den Erwartungen und reichten nicht aus, um der Pandemie den Garaus zu machen. Sie garantierten praktisch eine Fortsetzung der Krankheit über 2021 hinaus.</p><p>In der Debatte um die Impfungen wiederholten sich die Fehler des Vorjahres: sie wurden als rein individuelle Entscheidung geframed, nicht als Schutzmaßnahme für andere. Es wurde zu einer identitätspolitischen Frage, ob man an Impfungen glaubte oder nicht; die Politik verdrehte sich in Knoten, um den Impfgegner*innen entgegenzukommen (die gleichwohl in hysterischen Tönen vor der Impfdiktatur warnten). Dabei waren Personen unter 18 Jahren noch weitgehend von den Impfungen ausgeschlossen und die Risikogruppen immer noch genau das - Risikogruppen. Aber Empathie und Rücksichtnahme waren weitgehend erschöpft. Die Appelle verhallten ungehört.</p><p>Weiter geht es in Teil 3.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-18478658170835728482024-02-05T14:34:00.002+01:002024-02-05T14:34:31.533+01:00Oral History: Corona, Teil 1<p> </p><p><img alt="" height="1" i42l9d9dn="" src="https://vg07.met.vgwort.de/na/6eac6ee9f62f455b8569b8d8c1d5b966" width="1" /><em>Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um die Corona-Pandemie 2020-2023, die einem kollektiven Verdrängungsprozess zum Opfer zu fallen scheint. In diesem Teil betrachten wir die Anfangszeit bis zum Herbst 2020.<span></span></em></p><a name='more'></a><em><br /></em><p></p><p>Ich erinnere mich, dass ich irgendwann im Dezember 2019 zum ersten Mal von Corona gehört habe. In den Nachrichten kam es als beginnende Pandemie in Asien vor. Ich heftete es in derselben Rubrik ab, in der auch die Vogel- und Schweinegrippeepidemien liegen: Ereignisse, die in anderen, weit entfernten Ländern stattfanden und trotz mehrfacher Warnungen und Befürchtungen nie in Deutschland durchschlugen. Die Bilder von Asiat*innen mit Gesichtsmasken gehörten zu dieser Entwicklung dazu. Das änderte sich auch im Januar und Februar 2020 für mich nicht großartig. Die Pandemie breitete sich zwar aus, aber die Nachrichtenlage war immer noch eine, die über ein weit entferntes Ereignis berichtete - und entsprechend, wie alle internationalen Neuigkeiten, ging das größtenteils im allgemeinen Rauschen unter, auch bei mir.</p><p>Das alles änderte sich in der zweiten Märzwoche. Am Dienstag, dem 10.03.2020, war ich zum Kindergeburtstag meiner Tochter in einem Indoorspielplatz. Während die Kids tobten, unterhielt ich mich per Whatsapp (Papa-des-Jahres-Award, absolutes Vorbild) mit einem britischen Freund, der durch seinen Beruf als Politikberater deutlich näher am Puls aktueller Entwicklungen ist, über die Lage. Ich hatte in den Tagen zuvor wesentlich mehr Nachrichten zum Thema konsumiert und konnte seine Frage "<em>How worried are you?</em>" mit "<em>very</em>" beantworten. Er fügte mich einer Gruppe hinzu, die News zur Pandemie teilte und besprach und in der diverse Leute waren, die nah an den Schaltstellen der Macht sind - Kongressmitarbeitende, Berater*innen, etc. Entsprechend hatten diese Kontext und Informationen, die noch gar nicht in den Nachrichten rezipiert wurden.</p><p>Die nächsten Tage waren für mich merkwürdig unwirklich. Ich war der aktuellen Nachrichtenlage immer ungefähr anderthalb Tage voraus. Was wir in der Gruppe am Dienstag diskutierten, schaffte es Mittwoch abend in die allgemeinen Nachrichten. Als ich am Mittwoch Nachmittag, dem 11.03.2020, mit meiner Frau über das Thema redete, war sie noch auf dem Stand, auf dem ich Montag gewesen war: eine Kuriosität aus Asien, weiter nichts. Am Donnerstagmorgen, dem 12.03.2020, schrieb ich eine Mail an meine Schulleitung, dass ich der Überzeugung sei, dass wir die Schule schließen sollten, weil die Gefahr so hoch war (die Antwort war, auf eine offizielle Anweisung des Kultusministeriums zu warten). Meinen Schüler*innen wünschte ich vorsorglich schöne Ferien (Osterferien begannen am 06.04.2020), weil ich nicht davon ausging, sie vorher wiederzusehen. Ungläubiges Gelächter antwortete mir. Ich sollte Recht behalten. Bereits am Donnerstnachmittag begann die aufgeregte Debatte über Schließungen.</p><p>Am Freitag, dem 13.03.2020, war die Aufregung groß. In den meisten Bundesländern verkündeten die Ministerpräsident*innen zwischen 8 und 9 Uhr morgens die Schließung der Schulen. In Baden-Württemberg ließ sich die grün-schwarze Landesregierung bis nachmittags Zeit, um dann (wenig überraschend) zum selben Ergebnis zu kommen wie alle anderen Bundesländer. Mich machte das unglaublich wütend, weil es so absehbar war. Denn durch die Verzögerung war es unmöglich, die Schulschließung logistisch noch am Freitag zu machen. Wir mussten deswegen am Montag alle noch kommen und verloren bereits einen Tag. Unsere Schule selbst war auf die Situation gut eingestellt: da wir bei der Digitalisierung Trendsetter waren, konnten wir direkt in den Fernunterricht wechseln: alle Schüler*innen hatten einen Laptop mit der kompletten Office-Suite, darunter das mittlerweile wesentlich bekanntere (als damals) Microsoft Teams. Ich experimentierte zuerst mit Discord, weil die Schüler*innen das überwiegend kannten, wechselte aber bald ebenfalls auf Teams.</p><p>Wesentlich schlimmer waren die Schulschließungen für die Kinder. Die örtliche Grundschule, deren zweite Klasse mein Sohn besuchte, hatte damals keine Mailadressen für die Lehrkräfte und eine GMX-Adresse (!) für die Schule. Die Aufgaben wurden von der Klassenlehrerin per Fahrrad ausgefahren und an die Türen der Familien gehängt, als ein riesiger Stapel Kopien für die ganze Woche. Während meine Tochter (Kindergartenkind) ohne jede Beschäftigung zuhause war und wir im Fernunterricht arbeiten mussten, sollte mein Zweitklässler sechs Stunden konzentriert am Stück Aufgaben abarbeiten. Ha. Ha. Ha. Die Klassenlehrerin war super engagiert und tat ihr Möglichstes, aber das war sehr wenig. Für meinen Sohn war die Schulschließung ein massiver Knick, unter dem er bis heute leidet - genauso wie viele seiner mittlerweile ehemaligen Klassenkamerad*innen.</p><p>Diese frühen Tage der Pandemie waren wild. Bereits am Samstag, dem 14.03.2020, wurden nach den Schulen auch die Spielplätze geschlossen. Ausgangssperren wurden erlassen, die selbst das Spaziergehen in der freien Natur betrafen. Die aus der Rückschau geradezu groteske Überreaktion jener Tage führte zu einer Isolation, die monatelang anhalten sollte. Besonders für die Kinder war das brutal; für die Eltern quasi als Kollateralschaden. Sie gingen nach zwei Wochen die Wände hoch. Das Muster, dass die Familien und jungen Menschen die größten Belastungen zu tragen hatten (neben den Selbstständigen) setzte sich leider durch die gesamte Pandemiezeit fort.</p><p>Wir wissen heute, dass der Infektionsgrad damals gering war; nur ein niedriger einstelliger Prozentwert infizierte sich. Das lag mit Sicherheit an den harten Maßnahmen, die zwar auch keinen Lockdown darstellten, die sich aber wie einer anfühlten. Die weitere Verwendung des Wortes in den folgenden zwei Jahren hölte den Begriff bis zur Unkenntlichkeit aus. <a href="https://www.zeit.de/gesundheit/2022-07/sachverstaendigenrat-corona-massnahmen-gutachten-faq">Was die Maßnahmen gebracht haben, ist bis heute sehr umstritten.</a> Ich bin aber ziemlich zuversichtlich, dass die Maßnahmen diese erste Welle ziemlich abbrachen. Das deckt sich jedenfalls mit den meisten Expert*innen, wenngleich es abweichende (und sicher auch gut begründete) Ansichten gibt. Dass hier keine Klarheit zu erzielen war, war damals bereits völlig offensichtlich. Ich schrieb bereits am 21.04.2020 einen <a href="https://www.deliberationdaily.de/2020/04/wir-brauchen-einen-corona-untersuchungsausschuss/">Beitrag mit der Forderung, nach der Pandemie einen Untersuchungsausschuss einzusetzen</a>, da es während der Pandemie unmöglich war, in Echtzeit die Sache zu verhandeln. Der Artikel gehört in meinen Augen zu den belastbarsten und hellsichtigsten Prognosen, die ich je gemacht habe (<a href="https://www.deliberationdaily.de/2015/06/warum-2016-ein-duell-clinton-vs-bush-wird/">anders als manche andere</a>).</p><p>Eine Kuriosität der Lockdown-Zeit ist sicherlich der Mangel an Klopapier, der in keiner ordentlichen Rückschau auf die Pandemie fehlen darf. Die Leute kauften in der Lockdown-Panik in einem völlig irrationalen Ausmaß Vorräte, so dass etwa Mehl, Nudeln und Dosennahrung großflächig ausverkauft war, genauso wie Handseife und Desinfektionsmittel (der Irrtum, dass sich Corona als Schmierinfektion verbreiten könnte, wurde zwar schnell widerlegt, aber bis 2023 hielten sich überall die Hinweise zum Desinfizieren der Hände und entsprechenden Spender, obwohl sie zwar für die Hygiene toll, für die Pandemie aber völlig irrelevant waren). Zum Symbol dieses Mangels brachte es aber das Klopapier. Warum es überhaupt zu einem Mangel kam, ist bis heute nicht völlig geklärt; die beste Theorie, die ich kenne, ist, dass durch die viele Fernarbeit und den Fernunterricht die öffentlichen Toiletten nicht mehr benutzt wurden, das Klopapier für diese aber nur im Großhandel zu beziehen war, weswegen die haushaltsüblichen Verpackungsgrößen nicht mehr verfügbar waren. Im Ergebnis gab es zwei oder drei Wochen kein Klopapier; das Zeug ist heute noch wesentlich teurer als vor der Pandemie. Jedenfalls gefühlt, und gefühlte Wahrheiten dieser Art gibt es viele.</p><p>Das wohl prägnanteste Phänomen jener Tage war der kometenhafte Aufstieg des Virologen Christian Drosten zum Superstar der Pandemie. Der NDR hatte ihn gebeten, in einem Podcast die Pandemie zu erklären. Das Produkt "<a href="https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html">Coronavirus-Update</a>" brachte es trotz (oder wegen?) des sperrigen Namens, der trockenen Gestaltung des NDR und dem wissenschaftlich belastbaren und korrekt agierenden Drosten zu einer unglaublichen Popularität und entwickelte sich zu einer Sternstunde des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Gleichzeitig zeigten sich aber bereits erste Symptome der Spaltung, die ab dem Herbst immer mehr durchschlagen würde. Die noch recht kleine Fraktion der Kritiker*innen brachte eigene Experten in Stellung (vor allem Alexander Kekulé, der dann im MDR (natürlich) <a href="https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/kekule-corona/index.html">einen eigenen Podcast</a> erhielt und Hendrick Streeck, der mit steilen Thesen für Aufmerksamkeit sorgte); Drosten wurde zum Feindbild der bald unter dem Namen "Querdenker" agierenden Kritiker*innen.</p><p>Der Sommer brachte eine spürbare Entlastung. Dieses Muster sollte sich in den kommenden Jahren wiederholen: deutlich sinkende Inzidenzen im Frühjahr und Sommer, entstehende Sorglosigkeit, massiv steigende Fallzahlen in Herbst und Winter, Einschnitte und mehr Vorsicht, wieder Entlastung. Im Sommer 2020 erschien es, als sei das schlimmste bereits überwunden. Die Fallzahlen blieben verschwindend gering, und die Pandemie und der Lockdown schienen überstanden - ganz egal, wie sehr Christian Drosten bereits davor warnte, dass die Zahlen ab September rapide steigen würden und die Politik und Gesellschaft sich vorbereiten sollten. Die Vorbereitung unterblieb auf allen Ebenen.</p><p>Als dann die Fallzahlen im September wieder wie prognostiziert anstiegen, fanden wieder Schließungen statt. Dieses Mal aber waren sie weit weniger strikt als im Frühjahr, was natürlich niemanden davon abhielt davon zu reden, dass man "wieder in den Lockdown" gehe. Die Schulen schlossen wieder, öffneten dann, schlossen wieder, ohne System, ohne Rhythmus. Die Entscheidungen wurden von den Landkreisen einzeln getroffen, Kriterien im Tagestakt aufgestellt und wieder verworfen, während die Politik den Entwicklungen einerseits und dem sich wandelnden wissenschaftlichen Forschungsstand andererseits hinterherrannte. Das Ergebnis war ein überall greifbarer Vertrauensverlust und eine Erschöpfung mit den Maßnahmen. Noch überwog ersteres; die Querdenker dominierten noch nicht.</p><p>Die Debatte war aber mittlerweile von einem Modus des Berichtens über und Unterstützens von Maßnahmen zu einem "Für oder Wider" gewandelt. Abgesehen von Wissenschaftler*innen wie Drosten, die ein zunehmend hoffnungsloses Rückzugsgefecht für wissenschaftliche Betrachtungen führten, setzte ein allgemeines Cherry-Picking ein. Andere Länder mussten für den Beleg der eigenen Position herhalten, ohne dass die dortigen Umstände sonderlich bekannt wären. Man denke nur an die Dauerdebatte zu Schweden, das zu einer Chiffre der Querdenker wurde (und von dem wir bis heute nicht wirklich wissen, ob der Ansatz besser oder schlechter war oder woraus er eigentlich bestand, siehe etwa <a class="Article__title" href="https://jabberwocking.com/whats-the-real-story-with-sweden-and-covid-19/" rel="noopener noreferrer" target="_blank">hier</a> und <a class="Article__title" href="https://jabberwocking.com/i-guess-sweden-didnt-kill-everyone-after-all/" rel="noopener noreferrer" target="_blank">hier</a>).</p><p>Weiter geht es in Teil 2.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-22206010589342410282024-01-26T06:30:00.002+01:002024-01-26T06:30:00.243+01:00Rezension: Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past<p> </p><p><img alt="" height="1" src="https://vg08.met.vgwort.de/na/2f5592da07fe4fb3afcaedee3ad11568" stg05cg8l="" width="1" /><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541601394?&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=99f0f905129ccfba24ab3dbcc09ac01a&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past</a> (<a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=1f769c0e5067662f088e7c474de2ff1e&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)</p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541604660?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=85b356e1b8bcf69a383ea6ad77a5541d&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="260" src="https://m.media-amazon.com/images/I/81eayGsGo4L._SL1500_.jpg" width="173" /></a>Gründungsmythen gehören zu jeder Nation. Es sind Geschichten, die erzählt und ständig wieder erzählt werden, oftmals in geradezu ritueller Form, um eine gemeinsame Identität zu schaffen. Mit historischen Realitäten haben sie häufig wenig zu tun; sie ssagen mehr über die Selbstwahrnehmung der Gegenwart, was man als wichtig empfindet. So erfinden die Franzosen Jahr für Jahr einen Aufstand des gesamten Volkes gegen den korrupten Adel, imaginieren die Briten einen die gesamte Bevölkerung umfassenden Stolz auf das die Wellen beherrschende Britannia, sind die Deutschen stolz auf auf den Fleiß, mit dem sie sich selbst und ohne Hilfe aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs herausgearbeitet haben und feiern die Amerikaner ihre Unabhängigkeit als demokratisches Urereignis. Die USA, als einer der ältestens Staaten der Erde, haben erwartbar mehr Mythen als die meisten anderen Länder, und die polarisierte Gesellschaft sorgt dafür, dass es umso mehr werden. Die Herausgeber Kevin Kruse und Julian Zelizer haben 20 Beiträge amerikanischer Historiker*innen gesammelt, die diesen Mythen auf den Grund gehen. <span></span></p><a name='more'></a><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=a28a29ec2f5cfaab6506ecf711248844&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="169" src="https://m.media-amazon.com/images/I/51cPlnUBMRL.jpg" width="169" /></a>Im Vorwort etablieren die beiden Herausgeber die Menge dieser Mythen, die ihre Gestalt über die Zeit auch immer wieder gewandelt haben und die Kenntnis der realen Situation längst hinter sich gelassen haben. Die beiden kommen eindeutig von liberaler Seite her, weswegen viele der hier kritisierten Mythen und der sie umgebenden "Fake News" sich eher gegen die Rechte richten; gleichwohl erklären sie, dass die hartnäckisten und dauerhaftesten Mythen von beiden Seiten des Spektrums geteilt werden.</p><p>Der erste Mythos in <strong>Kapitel 1</strong>, "<em>American Exceptionalism</em>", von David A. Bell, geht den wohl fundamentalsten und berühmtesten Mythos an: den des amerikanischen Exzeptionalismus, also dass die USA eine besondere Nation seien, klar abgehoben von allen anderen. Bell stellt fest, dass grundsätzlich jede Nation sich als exzeptionell sieht - und das grundsätzlich auch zu Recht, denn jede unterscheidet sich irgendwie von anderen. Die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus ist, wohl wenig kontrovers, dass die USA auch <em>besser</em> seien als alle anderen Länder. Bell findet die Genese des Begriffs bei den amerikanischen Kommunisten, die damit zu erklären versuchten, warum in den USA keine Arbeiterbewegung entstand. In den späten 1920er Jahren verbot Stalin die Verwendung des Begriffs. In der Folgezeit wurde er von rechts aufgegriffen, aber immer mehr zu einem allgemein genutzten Konzept. Erst Reagan begann es dann spezifisch zu einem rechten <em>talking point</em> zu machen. Als Waffe gegen links instrumentalisierte es dann Newt Gingrich; seither gehört es zum Standardrepertoire der GOP, den <em>Democrats</em> mangelnden Patriotismus vorzuwerfen, weil sie nicht an den Exzeptionalismus glaubten. Dass diese sich beständig dazu bekennen, hat wenig daran geändert. In jüngster Zeit hat sich der Begriff weiter enthöhlt, weil Trump selbst offen erklärte, wenig damit anfangen zu können, was die weitere Verwendung als Angriff aber nicht gestört hat.</p><p>Wesentlich akademischer wird es <strong>Kapitel 2</strong>, "<em>Founding Myths</em>", in dem Akhil Reed Hamar auf Madison und seinen berühmten "Federalist No°10" eingeht. In diesem konstruierte Madison einen Gegensatz des Konzepts der Republik und der Demokratie. Oft wird auch die Behauptung abgeleitet, dass Demokratien nur in kleinen Entitäten funktionierten, während große die Minderheitenrechte untergrüben (während die Staaten diese schützen könnten). Hamar weist nach, dass der Federalist °10 seinerzeit keine große Rolle spielte; die Zeitgenossen rezipierten weitgehend die Argumente aus °2 bis °8, die außenpolitische Überlegungen voranstellten. Der Federalist °14, dem eine Zusammenfassung von 2-8 vorangestellt war, war der meistgelesene aus der Feder Madisons.</p><p>Genauso widerlegt Hamar die Vorstellung, dass die verfassungsgebende Versammlung ihre Kompetenzen überschritten habe, indem sie die Articles of Confederation verwarf; dies sei von Beginn an akzeptiert gewesen. Er hebt auch Washingtons Rolle bei dem Prozedere hervor, der wesentlich aktiver und gestaltender war, als dies oft zugestanden wird; die mächtige Rolle des Präsidenten etwa sei vor allem auf seine Person zurückzuführen. Gefährdungen für Minderheitenrechte, das kann kaum bestritten werden, entstanden zudem in den Einzelstaaten nicht im Bund. Man erkennt dies zweifelsfrei nach 1865, als diese vorher rein theoretische Betrachtung Gegenstand konkreter Auseinandersetzungen wurde.</p><p>Einem ganz anderen Mythos geht Ari Kelman in <strong>Kapitel 3</strong>, "<em>Vanishing Indians</em>", auf die Spur. Die oft gehörte Behauptung, die Ureinwohner*innen hätten nichts Bleibendes hinterlassen - entweder weil sie keine nennenswerte eigene Kultur besessen hätten oder weil sie von den Weißen komplett erledigt wurden - sei weder haltbar noch harmlos. Der Mythos war im 18. und 19. Jahrhundert hauptsächlich einer, der zur Rechtfertigung der Landnahme benutzt wurde: demzufolge war es das gottgegebene Schicksal der Natives, zu verschwinden. Das enthob gleichzeitig die Weißen selbst von ihrer Schuld an diesem Verschwinden, das ein merkwürdig passives Phänomen wurde. Einen Wandel in der Wahrnehmung erhielt dieses Verschwinden in den 1960er Jahren durch die New-Age-Bewegung und den Bestseller "<em>Bury my heart at Wounded Knee</em>", der das Thema identitätspolitisch veränderte (weil von links der "Imperialismus" der USA gegen die Natives kritisiert wurde, während dies von rechts emphatisch geleugnet wurde), aber ebenfalls die "verschwindenden" Natives thematisierte, wenngleich nun nostalgisch verklärt. Dieser Verschwinden-Mythos, der von beiden Seiten gepflegt wird, schadet aber den Natives, die immer noch existieren und ihre Anliegen deutlich machen wollen.</p><p>Der ständig beschworenen Horrorvision einer Flut von Immigrant*innen, die die amerikanische Kultur zerstören, spürt Erika Lee in <strong>Kapitel 4</strong>, "<em>Immigration</em>", nach. Überraschend ist vor allem das Alter dieses Narrativs bei gleichzeitiger struktureller Konsistenz. Immer geht es um eine Gruppe von Einwandernden, die sich anders als die vorherigen Gruppen nicht amerikanisieren und drohen, die USA zu zerstören. Im 18. Jahrhundert, noch vor der Gründung des Landes, waren es die Deutschen, danach allgemeiner katholische Einwanderende, dann die Iren, dann die Chinesen, bevor plötzlich Mexikaner*innen und schließlich andere Südamerikaner*innen der große Feind wurden, der das Gefüge der USA bedrohte. Lee betont, dass die Einwanderung zwar stets narrativ als Invasion oder Welle gefasst wurde, aber stets auch massive Pull-Faktoren eine Rolle spielen: die Wirtschaft hat Bedarf an undokumentierten und leicht ausbeutbaren Arbeitskräften, die in Flauten einfach abgeschoben werden können. Die amerikanische Wirtschaftstätigkeit sei daher maßgeblich für die Wanderungsströme. Zudem sei der Mythos der Realität hinterher: seit Jahren ist die Einwanderung aus Mexiko leicht negativ, aber das Land bleibt der viel beschworene Ursprungspunkt.</p><p>In <strong>Kapitel 5</strong>, "<em>America First</em>", beschreibt Sarah Churchwell die Herkunft von Trumps Leitspruch. Bereits 2015/16 gab es eine große Debatte über dessen rechtsradikale Ursprünge in der amerikanischen faschisten Bewegung der 1930er Jahre, die von den <em>Republicans</em> rundheraus geleugnet wurden, die stattdessen betonen, dass es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sei: welche Nation stelle nicht die eigenen Interessen vorne an? Lee weist nach, dass der Spruch wesentlich älter ist als die 1930er Jahre. Erstmals wurde er in den 1850er Jahren von den Know-Nothings benutzt, die damit gegen Immigrierende mobil machten. Eine Renaissance erlebte er um 1915, als der zweite Ku-Klux-Klan gegründet wurde. Woodrow Wilson verwendete den Begriff, um eine rassistische Kampagne gegen "Bindestrich-Amerikaner" zu unterfüttern, und der Klan adoptierte den Slogan in den 1920er Jahren selbst. Die Neutralität der USA bis 1917 wurde mit "America First" ebenso begründet wie der Red Scare von 1919. Der prominenteste Vertreter des Slogans war Henry Ford, der ihn massiv antisemitisch auflud. In den 1930er Jahren nutzten ihn dann die Faschisten für ihre <em>dog whistles</em>, ehe Charles Lindbergh den Subtext zum Text machte und damit direkten Widerspruch herausforderte. Der Angriff auf Pearl Harbor erlaubte es Roosevelt, gegen die Extremisten vorzugehen, und der Krieg sorgte für eine 180°-Wende der öffentlichen Wahrnehmung, der nun mit Faschistenfreundschaft gleichgesetzt wurde. Bereits in den 1950er Jahren wurde er aber im zweiten Red Scare wieder von rechts übernommen, dann von George Wallace, David Duke und Pat Buchanan benutzt und schließlich prominent von Trump vorgebracht. Stets war er mit nativistischen, rassistischen Untertönen versehen, nie ein allgemeiner Slogan.</p><p>Ein überparteilicher Klassiker wird in <strong>Kapitel 6</strong>, "<em>The United States is an Empire</em>", von Daniel Immerwahr besprochen. Es gehört praktisch seit der Gründung der USA zum Selbstbild, kein Imperium zu sein, sondern solche zu bekämpfen (zweimal das britische, zweimal das deutsche, einmal das japanische, einmal das sowjetische) und ein "Leuchtfeuer der Hoffnung" für die Welt darzustellen. Das allerdings sei Unfug. Bereits kurz nach ihrer Gründung inkorporierten die USA große Territorien, die zwar die Möglichkeit hatten, Staaten zu werden, dies aber (nach rassistischen Kriterien) lange nicht wurden. Oklahoma etwa war über 100 Jahre Territorium, länger als viele Kolonialreiche bestanden. Immerwahr hebt auch die karibischen und pazifischen Besitzungen der USA hervor, die heute noch Territorien und deutlich ärmer als die kontinentalen USA sind. Zudem stellt er die Reservate und Tribal Nations in den kolonialen Kontext und verweist auf das ausgeprägte Netz von Basen, das die USA unterhalten. Informeller Einfluss statt direkter Landnahme sei immer US-Politik gewesen, weswegen die Existenz des Imperiums auch meist nicht anerkannt werde.</p><p>Eher zurück in den Bereich rechter Mythen geht es in <strong>Kapitel 7</strong>, "<em>The Border</em>", in dem Geraldo Caralva die Idee zurückweist, dass die Grenze seit jeher eine Markierung zwischen den reichen, höherstehenden USA auf der einen und den gefährlichen Ursprüngen von Kriminalität und Immigration auf der anderen Seite sei. So weist er darauf hin, dass für viele Natives und Schwarze das Land südlich der Grenze das Land der Freiheit war und das Vordringen der Grenze etwa im Krieg von 1846-1848 einen empfindlichen Perspektivverlust bedeutete. Für die Natives war weder das amerikanische Vordringen noch die mexikanischen Unabhängigkeit eine gute Nachricht; sie wurden von beiden Seiten bekämpft. Die Grenzregion sei für Jahrzehnte eine Zone interkulturellen Austauschs geblieben, frei Grenzübergänge waren die Norm. Die Immigrationsbeschränkungen Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts galten explizit nicht für Mexiko. Erst mit der Weltwirtschaftskrise habe sich das geändert und das Narrativ von der Grenze zu Mexiko als Hort von Migration und Kriminalität, den es durch verstärkte Restriktionen zu kontrollieren gelte, übernahm. Caralva schließt mit einem Plädoyer, die diverse Geschichte der Grenzregion und ihr interkulturelles Potenzial mehr zu sehen.</p><p><strong>Kapitel 8</strong>, "<em>American Socialism</em>", beginnt mit dem Vortrag des Walisers Robert Owen vor dem Kongress vor über 200 Jahren, in dem dieser sozialistische Ideen unter großem Interesse und Anteilnahme vortrug. Für Michael Kazin ist das ein Beleg dafür, dass die Amerikaner*innen nicht so grundlegend antisozialistisch eingestellt sind, wie das oft behauptet werde. Zahlreiche Intellektuelle hätten in den folgenden Jahrzehnten sozialistische Ideen verbreitet, Organisationen wie Gewerkschaften dafür gekämpft und diverse Abgeordnete auf ihrer Basis Mandate errungen. Sozialistische Ideen hätten Druck auf die gemäßigte Linke und selbst Rechte ausgeübt, die sie übernommen hätte (etwa im New Deal) und die ob ihrer Popularität auch unter Rechten wie Reagan nicht zurückgefahren worden wären. Der mangelnde elektorale Erfolg sei maßgeblich auf diese Kooptierung sozialistischer Ideen zurückzuführen. Dass Sozialisten meist als <em>Democrats</em> gewählt wurden, zeige ihre moderate, reformorientierte Haltung.</p><p>In eine ähnliche Kerbe schlägt das von Naomi Oreskes und Erik M. Conway verfasste <strong>Kapitel 9</strong>, "<em>The Magic of the Marketplace</em>". Den Glauben, dass der Markt es schon richten werde, wenn der Staat sich nur komplett heraushielte - wie er heute in der GOP rhetorisch oft, in der Praxis nie vertreten wird - wird von den beiden auf GOP-nahe Think-Tanks in den 1930er Jahren zurückgeführt. Im 19. Jahrhundert seien Staatseingriffe von Indian Removal bis Eisenbahnbau schließlich die Norm gewesen, weswegen eine mythische Vergangenheit unter dem Zauber des Markts erst konstruiert werden musste. Von dort ziehen die Autor*innen eine Linie zu Hayek und Mises über Friedman, die alle dank tatkräftiger Finanzierung der Business-Lobby öffentliche Wirkung entfalten konnten. Sie postulierten eine Unteilbarkeit ökonomischer und anderer Freiheiten. Oreskes und Conway weisen diese Idee zurück und verweisen auf die offensichtliche Vereinbarkeit von Sozialstaat und staatlicher Investitionstätigkeit mit Freiheit.</p><p>Ein verwandtes Thema greift Eric Rauchways <strong>Kapitel 10</strong>, "<em>The New Deal</em>", auf. Ausgehend von einer Behauptung des <em>Republican</em> Chuck Grassley, der New Deal sei ein Fehlschlag gewesen, der Arbeitslosigkeit erhöht und Wirtschaftswachstum gedämpft habe, weisen sie nach, dass beides nicht korrekt ist. Die Periode des New Deal war die des größten Wirtschaftswachstums der US-Geschichte (wenngleich man natürlich die schlechte Ausgangslage durch die Weltwirtschaftskrise einberechnen muss); die Arbeitslosigkeit sank allein bis 1936 um fast die Hälfte. Rauchway zeichnet vor allem nach, warum sich der von Grassley reproduzierte Mythos so lange halten konnte. Der Grund dafür liege in der von Gegnern des New Deals im Statistikamt begonnenen Praxis, die durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der WPA beschäftigten Arbeiter*innen als arbeitslos zu zählen. Die Argumentation war, dass es sich dabei um dieselbe Zwangsarbeit handle wie in den Nazi-Konzentrationslagern (!) oder dem Reichsarbeitsdienst, was vollkommener Unsinn ist: die WPA war freiwillig, enthielt Streikrecht und die Arbeitenden sahen sich selbst auch als solche, mit Lohn und allen Rechten und Pflichten. Rauchway verweist außerdem darauf, dass Grassleys weiteres Argument, die Weltwirtschaftskrise sei erst durch den amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg überwunden worden, eher dafür spricht, dass die Staatsintervention des New Deal zu gering ausfiel als zu groß, gab es doch keine Periode der US-Geschichte, in der der Staat größeren Anteil am Wirtschaftsleben nahm als 1941-1945.</p><p>In <strong>Kapitel 11</strong>, "<em>Confederate Monuments</em>", greift Karen L. Cox die Lost-Cause-Mythologie auf, die mit dem Ende der Reconstruction um sich zu greifen begann und ihren sichtbaren Ausdruck in einer Flut von Monumenten zu Ehren der Konföderierten und ihrer Sache fand. Die Monumente entstanden überwiegend, aber nicht nur, im 20. Jahrhundert und waren explizit mit weißer Suprematie verknüpft. Bereits zu ihrer Entstehungszeit waren sie von Kritiker*innen dafür angegriffen worden. Das Land akzeptierte aber in seiner weißen Mehrheitsbevölkerung die Lost-Cause-Mythologie überwiegend; auch im Norden spielte das Thema Emanzipation keine Rolle mehr. Bis heute wird vor allem in den Südstaaten eine Version der Geschichte gelehrt, die mit der Realität wenig zu tun hat.</p><p>Die politische Seite dieser Thematik wird in <strong>Kapitel 12</strong>, "<em>The Southern Strategy</em>", von Kevin M. Kruse beleuchtet. Die <em>Democrats </em>waren historisch die Partei der Segregation, während die <em>Republicans</em> für Emanzipation standen (und entsprechend die Loyalität der afroamerikanischen Wählendenschaft genossen). Nach der Reconstruction wendete sich auch die GOP von dieser Thematik ab, die keine politische Vertretung mehr besaß; schwarze Repräsentant*innen in den Parlamenten verschwanden praktisch völlig, ihre rechtliche Stellung verschlechterte sich drastisch. Dies änderte sich erst mit dem New Deal, der ihre wirtschaftliche Lage (nicht aber die politische) wesentlich verbesserte und zu einem dramatischen Loyalitätswechsel zu den <em>Democrats</em> führte. 1948 setzte Truman einen Fokus auf Bürgerrechte durch, der zu einem Aufstand der Südstaaten (mitsamt eigenem Präsidentschaftskandidaten) führte. In der folgenden Zeit begannen die <em>Republicans</em>, mehr und mehr um die Rassisten des Südens zu werben. Diese Entwicklung wurde mit der Bürgerrechtsgesetzgebung Kennedys und vor allem Johnsons deutlich verstärkt.</p><p>Die Rassisten bildeten zuerst eine eigene Partei (die "Dixiecrats") mit eigenen Kandidaten, doch in den 1960er Jahren entschied sich der interne Machtkampf der <em>Republicans</em> zwischen den Konservativen und den Liberalen für erstere, die mit Barry Goldwater einen Kandidaten aufstellten, der zum ersten Mal den tiefen Süden gewann. Dieses <em>realignment</em> geschah auf zwei Ebenen: mit Goldwater in der Präsidentschaftskandidatur und auf lokaler Ebene in den dortigen Wahlkämpfen. Die Abgeordneten im Kongress stimmten zwar oft mit der scharf nach rechts rückenden GOP, blieben aber offiziell <em>Democrats</em>, um ihre Privilegien nicht zu verlieren, so dass der Wandel dort langsamer vonstatten ging. Die liberale wirtschaftliche Haltung dieser Leute sorgte zudem dafür, den Wechsel nicht offiziell zu machen, da die Marktideologie (siehe Kapitel 9) teilweise abgelehnt wurde. Der Kongress blieb deswegen von den <em>Democrats</em> kontrolliert.</p><p>Goldwaters Kandidatur war in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Auf der <em>National Convention</em> waren fast keine Schwarzen und gar keine Juden. Die Schwarzen wurden angepöbelt und teils körperlich attackiert; die Stimmung war pogromartig. Damit war ein neuer Ton gesetzt. Gleichwohl führte dieser zwar zum Sieg Goldwaters im <em>Deep South</em>, aber zum Verlust des Rests des Landes. Nixons nun explizit als <em>southern strategy</em> benanntes Vorgehen bestand in einem Zickzackkurs, um als der moderatere Kandidat zu erscheinen. Als die GOP bei den Midterms 1970 offen rassistisch agierte, erlebte sie einen milden Backlash. 1972 fuhr Nixon dann die Ernte des gemäßigteren Kurses ein und errang 49 der 50 Staaten. Die Verhandlungen für den Wechsel demokratischer Abgeordneter liefen, als Watergate unerwartet eine Gegenbewegung einläutete. Der Wandel des Kongresses in republikanische Hände dauerte zwei Jahrzehnte länger.</p><p>Ob Reagan eine <em>southern strategy</em> fuhr, ist durchaus kontrovers. Atwater verneinte dies stets vehement, was Kruse nicht als unüberzeugend ansieht. Reagan sprach hauptsächlich Wirtschaft und Verteidung, aber nutzte die <em>dog whistle</em> der <em>states rights</em>, um auch deutlich nach rechts zu blinken. Insgesamt blieb aber auch er auf der "moderaten" Siegerstraße. Der Durchbruch des langen Realignments erfolgte mit dem Sieg in den Repräsentenhauswahlen 1994 durch Newt Gingrich, aber die Moderierung blieb auch durch die Präsidentschaft George W. Bushs immer ein ausgleichendes Element, ehe die Partei nach 2008 eine scharfe Rechtswendung hinlegte.</p><p>In <strong>Kapitel 13</strong>, "<em>The Good Protest</em>", beschreibt Glenda Gilmore den verbreiteten Mythos bezüglich der Bürgerrechtsbewegung, dass diese einerseits quasi mit Rosa Parks aus der Taufe gehoben und andererseits weitgehende Zustimmung der weißen Mehrheitsbevölkerung erfahren hätten. Dies ignoriere einerseits die lange Geschichte afroamerikanischer Proteste - die ersten Sit-Ins fanden bereits in den 1930er Jahren statt - und sorge andererseits dafür, das Doppel-Narrativ afroamerikanischer Akzeptanz der Segregation vor den 1950er Jahren einerseits und das einer schnellen weißen Akzeptanz der Anliegen und eines raschen Bewusstseinswandels andererseits zu reproduzieren, die beide vollkommen unhistorisch sind.</p><p>MLK sei politisch kooptiert und ihm so die Zähne gezogen worden, eine Karikatur entstanden, die mit der realen Position wenig zu tun habe. Sogar Trump zitierte aus dem Kontext gerissenene King-Zitate; zuerst hatte damit Reagan 1985 begonnen. Gilmore weist nach, dass der reale King wesentlich radikaler war als das heute verwaschene Bild. Zudem habe damals mitnichten eine weiße Akzeptanz der Proteste bestanden; diese seien vielmehr radikal abgelehnt worden.</p><p>Dieser Gedanke wird in <strong>Kapitel 14</strong>, "<em>White Backlash</em>", von Lawrence B. Glickman fortgesetzt. Unter dem Begriff wird die Idee gefasst, dass eine Radikalisierung der Weißen gegenüber ethnischen Minderheiten und ihre gewalttätige Reaktion eine Folge auf die Proteste sei. Diese Vorstellung wurde in den 1960er Jahren popularisiert, aber Glickman weist nach, dass die Begründung erstmals in den 1890er Jahren verwendet wurde. Das Muster ist dabei jedes Mal gleich: Forderungen oder Proteste ziehen eine gewalttätige Reaktion nach sich, etwa Terror des Ku-Klux-Klans, die damit relativiert wird, dass sie eine "Reaktion" auf die vorangegangenen Proteste sei. Glickman postuliert einerseits, dass dies nicht zutreffe - die Gewalt war bereits vorher vorhanden - und so Ursache und Wirkung verkehre. Andererseits schaffe es eine passive Rolle für diejenigen, die sich radikalisieren lassen, eine Unausweichlichkeit, die die Täter*innen aus der Verantwortun nimmt.</p><p>Das Komplementärstück zum im Kapitel 10 besprochenen New Deal ist Gegenstand von Joshua Zeitz' <strong>Kapitel 15</strong>, "<em>The Great Society". </em>Das große Reformwerk Lyndon B. Johnsons (siehe auch "<a href="https://www.amazon.de/gp/product/B00XQC5PJ0/ref=as_li_tl?ie=UTF8&camp=1638&creative=6742&creativeASIN=B00XQC5PJ0&linkCode=as2&tag=httpgeschicht-21&linkId=fb5ee3e378866ee21229a03c777d65f7">LBJ's Neglected Legacy</a>", <a href="http://www.deliberationdaily.de/2019/09/buecherliste-2018-19/">hier rezensiert</a>) wurde wie auch der New Deal von <em>Republicans</em> für gescheitert erklärt, prominent etwa von Ronald Reagan. Dieser scherzte, dass Johnson einen "Krieg gegen die Armut" erklärt habe, den die Armut gewonnen habe. Wenig überraschend widerspricht Zeitz dem. Der War on Poverty habe zwar natürlich die Armut nicht beseitigt, aber deutlich reduziert (analog zum New Deal werde dies in den Statistiken unzureichend wiedergespiegelt, weil diese geldwerte Leistungen wie die von Johnson eingeführten Food Stamps nicht zählten und deswegen künstlich hoch seien).</p><p>Zudem habe das Reformwerk den heutigen amerikanischen Wohlfahrtsstaat überhaupt erst geschaffen, vor allem das dauerhaft beliebte Medicare und das Rentensystem, das bis heute ein Fundament der Gesellschaft darstelle. Die Annahmen, auf denen dieses System geruht habe - niedrige Inflation und Arbeitslosigkeit, hohes Wachstum - hätten sich gleichwohl in den 1970er Jahren aufgelöst. Die Liberalen hätten zudem auf ein Wachstums- statt ein Umverteilungsmodell gesetzt (und tun das bis heute).</p><p>Die andere Hälfte des Kapitels beschäftigt sich mit den Erfolgen der Great Society im Umgang mit rassistischer Diskriminierung. Der in Kapitel 14 besprochene <em>white backlash</em> findet hier sein bekanntestes Schlachtfeld, wo der Kampf gegen den Civil Rights Act motivierte (siehe dazu auch Kapitel 17), der nichtsdestotrotz zu einer weitgehenden Desegregation der staatlichen Institutionen des Südens führte. Die USA um 1970 und folgende seien eine fundamental andere Gesellschaft als die USA um 1960 und davor.</p><p>Ein in letzter Zeit hauptsächlich rezipierter Anlass für den in Kapitel 14 besprochenen <em>white backlash</em> folgt in <strong>Kapitel 16</strong>, "<em>Police Violence</em>", von Elizabeth Hinton. Sie zeigt anhand von Ausschreitungen in den 1960er Jahren, dass Polizeigewalt oft die Ursache, nicht die Folge von Ausschreitungen war. Dieses Muster, das sich in Ferguson, bei George Floyd und in vielen anderen Fällen in den 2010er und 2020er Jahren beobachten ließ (#BlackLivesMatter), hat seinen Ursprung bereits wesentlich früher. In den 1960er Jahren wurde die systemische Polizeigewalt nur erstmals überhaupt wahrgenommen, wenngleich die weiße Mehrheit sie überwiegend begrüßte. Das galt auch für die Proteste Martin Luther Kings (siehe Kapitel 13), die ebenfalls massiver und unprovozierter Polizeigewalt ausgesetzt waren, die die Zeitgenossen nicht etwa den rassistischen Terrorregimen der Südstaaten, sondern den Protestierenden zuschrieben.</p><p>Gleiches gilt für die Militarisierung der Polizei. Sie hatte ihren Ursprung nicht in den 2000er Jahren (wo sie gleichwohl einen Schub erlebte, <a href="https://www.deliberationdaily.de/2014/08/ist-die-us-polizei-eine-verrottete-institution/">wie ich hier beschrieben habe</a>), sondern in den 1960er Jahren, als das US-Militär erstmals seine Restbestände aus einem abgewickelten Krieg an die Polizeibehörden weitergab, die es benutzten, um die schwarze Bevölkerung zu unterdrücken. Hinton beschreibt als Fallbeispiel die exzessive Nutzung von Tränengas, das 1925 in der Genfer Konvention verboten wurde, zur Auflösung friedlicher Proteste. Ein letzter Abschnitt beschäftigt sich mit ihrer Kriminalisierung in jüngster Zeit; in vielen südlichen Bundesstaaten drohen für einen Protest bis zu 15 Jahre Gefängnis (!), während es gleichzeitig straffrei gestellt wurde, Protestierende versehentlich mit dem Auto zu töten.</p><p>Diese staatliche Freundlichkeit gegenüber Gewalt von Rechts ist auch Thema von <strong>Kapitel 17</strong>, "<em>Insurrection</em>". Ausgehend von der viel gehörten Behauptung, der <a href="https://www.deliberationdaily.de/2021/01/der-putsch-ist-da/">Putschversuch vom 6. Januar</a> sei nicht "wer wir sind", weist Kathleen Belew nach, dass Aufstände gegen den Staat vielmehr schon lange in der amerikanischen DNA stecken. Rechtsextreme Aufstände gegen den Staat und ein Netzwerk von Terroristen habe es viel mehr immer wieder gegeben. Im Zentrum stehen in ihrem Kapitel die "Turner Diaries", eine Art als Roman getarnten politischen Programms, das einen Rassekrieg mit vollständiger Vernichtung aller Nicht-Weißen weltweit voraussieht und das seit den 1970er Jahren immer wieder mit Terroristen in Verbindung steht. Diese Terroristen werden von Politik und Medien stets als Einzeltäter angesehen, wogegen Belew die Existenz eines verbindenden Netzwerks postuliert.</p><p>Sie erklärt, dass in den 1960er Jahren die Mitgliedszahlen in radikalen rechten Organisationen deutlich absanken, was aber gleichzeitig einen Radikalisierungsprozess mit sich gebracht hätte. Um der Verfolgung zu entgehen, verschrieben die Rechtsextremisten sich der Idee der <em>leaderless resistance</em> - einer Vernetzung ohne klare Strukturen. Dazu nutzten sie bereits 1984 das Internet. Sie sammelten Spenden, kauften davon Computer und verteilten diese zusammen mit Kursen unter den Zellen, die sich dann in passwortgeschützten Foren austauschten. Heutige Netzwerke wie Stormfront seien daher nur Evolutionen eines mittlerweile 40 Jahre alten Trends.</p><p>Besonders bedrückend ist, wie viele der Prozesse gegen rechtsextreme Terroristen mit deren Freispruch endeten, weil die Jurys der Prozesse in den Einzelstaaten selten überhaupt schwarze Mitglieder besaßen und meist sehr empathisch gegenüber den Anliegen der Rechtsextremisten waren. Die Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge ist wahrlich kein deutsches Problem.</p><p>Eine gänzlich andere Richtung schlägt <strong>Kapitel 18</strong>, "<em>Family Values Feminism</em>", von Natalia Mehlman Petrzela, ein. Sie wendet sich gegen die konservative Behauptung, der Feminismus wolle die Familie zerstören und stellt dem die These gegenüber, dass er in Wahrheit die Familie unterstütze. Treibende Kraft hinter der Etablierung der Idee war Phyllis Schlaefli, die konservative Aktivistin, die das Equal Rights Amendment verhinderte und eine wichtige Unterstützerin Reagans war. Viele der frühen Feminstinnen, allen voran Betty Friedan, hatten aber die heterosexuelle Familie ausdrücklich verteidigt und neue Formen wie die gleichgeschlechtliche Ehe abgelehnt. Erst in den späten 1970er Jahren gelang die Anerkennung von Lesben als Bestandteil der feministischen Bewegung (was dann wiederum zu <em>backlash</em> führte).</p><p>Petrzela führt ihren Argumentationsrahmen zum einen in die Vergangenheit bis zu den Aktivistinnen des 19. Jahrhunderts, die stets im Rahmen der Familie und weiblicher "Zuständigkeiten" wie Fürsorge und Pflege agiert hatten, und zum anderen in die Gegenwart, wo Forderungen und Erfolge der feministischen Bewegung den Status von Familien durch Hilfen für Kinder und Eltern und die Stärkung der Rechte von Müttern eigentlich verbessert hätten, während Konservative mit ihren Kürzungen solcher Maßnahmen familienfeindliche Politik machten.</p><p>Ein weiterer Mythos aus dieser Zeit ist die in <strong>Kapitel 19</strong>, "<em>Reagan Revolution</em>", von Julian Zelizer besprochene Amtszeit Ronald Reagans. Von folgenden Generationen von <em>Republicans</em> als "Reagan Revolution" verklärt besteht Zelizer darauf, dass diese Begrifflichkeit stark übertrieben sei und in historischer Analyse nicht verwendet werden sollte. Reagan scheiterte mit den selbst gesteckten Zielen seiner Revolution weitgehend. Trotz beeindruckender Siege bei den Präsidentschaftswahlen 1980 und 1984 waren die Midterms ein ziemliches Desaster; Reagans persönliche Beliebtheitswerte lagen deutlich unter denen Johnsons, Kennedys, Clintons, Bushs und Obamas und nur marginal über denen Nixons (wenngleich deutlich über Ford und Carter). Stattdessen führte seine Politik zu einem gewaltigen Defizit, das nur durch einen Kompromiss der GOP im Kongress mit den <em>Democrats</em> zu retten war - der deutliche Steuererhöhungen enthielt und effektiv die Reagan Revolution konterkarierte.</p><p>Auch außenpolitisch scheiterte Reagan. Nicht nur wurde seine Präsidentschaft beinahe durch den Iran-Contra-Skandal gefährdet (der heute weitgehend vergessen, seinerzeit aber als größer als Watergate eingeschätzt wurde!); sein größter Erfolg, die Entspannung und Abrüstungsverträge mit Gorbatschow, widersprachen völlig der Rhetorik des Wahlkampfs 1980 und Reagans Feuerfresser-Persönlichkeit zuvor. Zelizer kommt zu dem Schluss, dass die Rede von der Revolution angesichts der mangelnden Dauerhaftigkeit von Reagans Agenda und seinem Scheitern wesentlich übertrieben sei; gleichzeitig betont er, dass keine Person jemals in einem demokratischen Staatswesen überhaupt solche Durchbrüche feiern könnte, weswegen das von vornherein auch die falsche Erwartungshaltung sei.</p><p>Der letzte Mythos wird in <strong>Kapitel 20</strong>, "<em>Voter Fraud</em>", von Carol Anderson untersucht. Ihr geht es um die republikanischen, unter Trump inflationär gewordenen Vorwürfe, es finde "<em>voter fraud</em>" statt, also die Vortäuschung einer anderen Identität zum Abgeben zusätzlicher Stimmen. So etwas hat es in signifikantem Umfang zumindest im 20. Jahrhundert nie gegeben. Anderson zeichnet nach, wie diese Schmierenkampagne (wie bei so vielen in diesem Band besprochenen Themen) in den 1960er Jahren begann und zu einem Standardwerkzeug wurde.</p><p>Gleichzeitig unterscheidet sie den Vorwurf vom wesentlich relevantaren "<em>electoral fraud</em>", also der Wahlfälschung. Diese finde wesentlich häufiger und systematischer statt und betreffe zehntausende Menschen - pro Wahl, wohlgemerkt. So zeigt sie anhand Beispielen aus den 1960er Jahren, wie Polizisten außer Dienst in Uniform und Ausrüstung vor Wahllokalen in Distrikten mit starker afroamerikanischer Bevölkerung postiert wurden und die Wählenden einschüchterten. Dies senkte die Wahlbeteiligung nachweislich deutlich. Natürlich fehlt auch Bush v Gore in der Auflistung nicht. Während die Schimäre <em>voter fraud</em> also mit furchtbaren Folgen für die demokratische Legitimität permanent hervorgekramt werde, werde realer <em>election fraud</em> überhaupt nicht thematisiert, geschweige denn verfolgt.</p><p>---</p><p>Das Buch erinnert mich stark an Howard Zinn's "<a href="https://www.amazon.de/gp/product/0062397346/ref=as_li_tl?ie=UTF8&camp=1638&creative=6742&creativeASIN=0062397346&linkCode=as2&tag=httpgeschicht-21&linkId=f45e43784bc70d240fe450aecdb6fc4d">People's History of the United States</a>" (<a href="http://www.deliberationdaily.de/2019/09/buecherliste-2018-19/">hier rezensiert</a>): eine dezidiert linke Interpretation der amerikanischen Geschichte, ein Interpretationsangebot für das eigene politische Spektrum. Das kann man machen, hat aber mit Geschichtswissenschaft nur sehr eingeschränkt zu tun. Entsprechend werden auch munter historische Analysen, politische Analysen, Appelle für die Gegenwart und Werturteile miteinander vermischt. Manchmal ist dieser Mix furchtbar, manchmal nicht.</p><p><strong>Kapitel 1</strong> (Exzeptionalismus) etwa ist insofern interessant, als dass es auf den Exzeptionalismus als kommunistisches Konzept hinweist. Gleichwohl hat das abgesehen von der Begrifflichkeit ja praktisch nichts mit dem Begriff zu tun, wie er überwiegend verwendet wird. Ob sein Ursprung dort liegt, bezweifle ich auch sehr. Wesentlich seriöser erscheint mir da die Analyse von <strong>Kapitel 2 </strong>(Federalist 10); die Herleitung ist hier wesentlich tragfähiger und quellenbasierter und das Ganze zudem viel sinniger als Fragestellung und These. Gleiches gilt für <strong>Kapitel 3 </strong>(Natives), das neue Perspektiven einbringt, ohne in eine zu starke Idealisierung abzurutschen. <strong>Kapitel 4</strong> (Immigration) wird dann wieder viel zu sehr mit genereller Kapitalismuskritik vermischt. Sicher spielt der Bedarf an billigen Arbeitskräften der Wirtschaft eine große Rolle, aber das Ganze ist dann in seinen Anreizen und Abhängigkeiten wesentlich komplexer als ein "der Kapitalismus ist schuld".</p><p><strong>Kapitel 5</strong> (America First) war eine schöne Geschichte eines Begriffes, und ich halte die These, dass "America First" immer schon ein nativistischer Slogan war, jetzt nicht für sonderlich kontrovers. Die zugrundeliegenden Prämissen von einer zutiefst rassistischen Grundordnung der amerikanischen Gesellschaft kann man sicherlich kritisieren, aber die spielt glücklicherweise für die eigentliche Analyse keine Rolle, sondern läuft nur als stilistisches Grundelement mit. <strong>Kapitel 6</strong> (Imperium) bringt erneut eine eigentlich weitgehend unkontroverse Feststellung - dass die USA ein Imperium waren bzw. sind - und vermengt diese mit zahlreichen nicht ausgesprochenen und thematisierten Normensetzungen, die zu unehrlichen Argumentationen führen. Die philippinischen Kriegstoten 1941-1945 etwa einfach den Opfern amerikanischen Imperialismus' zuzuschreiben scheint mir nicht unbedingt ein Zeichen großer intellektueller Redlichkeit, um es milde auszudrücken. Auch, dass das System amerikanischer Basen eines ist, das weitgehend auf Freiwilligkeit beruht, handwedelt Immerwahr einfach weg und bringt einige willkürliche Beispiele aus dem besetzten Japan, das nicht glücklich damit war (<em>tough luck</em>, vielleicht sollte man dann keinen Weltkrieg anfangen).</p><p><strong>Kapitel 7</strong> (Grenze) schließlich ist voll von sozialromantischem Klimbim von der Grenze als Raum interkulturellen Austauschs. So wenig Sympathie ich für Trump'sche Horrorvisionen aufbringe, so wenig hat dieses rosaraote Bild aber mit der Realität zu tun. Diese völlige Weigerung, sich mit der Lage zu befassen und die damit verbundenen Ängste zu addressieren, ist eine der größten Schwächen der radikaleren Linken und ihrer open-borders-Fantasien. <strong>Kapitel 8</strong> (Sozialismus) verbiegt sich auch ordentlich, um eine grundsätzliche amerikanische Offenheit für sozialistische Ideen aufstellen zu können (was ich für völlig haltlos halte). Einzelevents wie irgendwelche 200 Jahre alten Reden taugen jedenfalls als Beweise überhaupt nicht, das ist keine seriöse Geschichtswissenschaft. Auch die großzügige Sammlung aller Strömungen, die vage die bestehende Ordnung aus einer nicht-rassistischen oder -faschistischen Warte heraus kritisierten unter dem Label "sozialistisch" (vor allem solche, die bestenfalls (!) als sozialdemokratisch (<em>democratic socialism</em>) gewertet werden dürften, ist völliger Quatsch. Der Aufsatz hat mich so hart mit den Augen rollen lassen, dass sie schier aus dem Kopf fielen. Der Versuch, alle guten Entwicklungen der USA auf Sozialisten zurückzuführen und deren mangelnden politischen Erfolg als Ausdruck ihrer Effektivität zu verklären, ist solch <em>motivated reasoning</em>, dass es eigentlich kaum der weiteren Kritik bedarf. Für Bismarck und Wilhelm II. wäre es jedenfalls bahnbrechende Neuigkeit, dass Kooptierung dazu führte, dass "Sozialisten" keine Wahlerfolge feiern können. Mich erinnert das Ganze an die Abhandlungen der BernieBros 2016.</p><p><strong>Kapitel 9</strong> (Magie des Markts) zeichnet zwar den Import Haykes und Mises' sowie den Erfolg Friedmans als Elitenprojekt nach, weist diesen aber in meinen Augen viel zu viel Bedeutung zu (genauso wie das bedeutungsschwangere <em>cui bono</em>, eine nicht auszurottende linke Angewohnheit). Zudem halte ich es für wenig tragfähig, die Geburt des Marktmythos erst in den 1950er und 1960er Jahren suchen zu wollen. Hier zeigt sich eine oft auftauchende Schwäche mangelnder Themeneingrenzung: geht es um die moderne, "neoliberale" Prägung dieses Mythos, macht das grundsätzlich Sinn (bliebe aber in der Verengung auf die Personen immer noch fragwürdig), aber dann ist der Bezug zum 19. Jahrhundert unsinnig. Eine ähnliche Strukturproblematik sehe ich auch bei <strong>Kapitel 10 </strong>(New Deal). Die Statistikgeschichte des New Deal etwa fand ich super spannend, aber offiziell will das Essay den <em>kompletten</em> Mythos um den New Deal (sprich: das rechte Gegennarrativ) besprechen, was es aber in der Schwerpunktsetzung und Länge gar nicht kann. Die politische Zielsetzung und die wissenschaftliche Arbeit stehen auch hier in einem harten Gegensatz zueinander.</p><p>Noch krasser findet sich das in <strong>Kapitel 11 </strong>(Statuen), das eigentlich den Lost Cause thematisieren müsste, der ja ein zentraler Mythos der USA ist. Aber aus mir unerfindlichen Gründen wurde als Themenschwerpunkt die Statuendebatte gewählt (weil sie halbwegs aktuell und ein Aufreger der aktivistischen Basis ist?), weswegen eine eher unmotivierte Abhandlung über die Statuen mit Lost-Cause-Revivals gemischt wird und nichts Halbes und nichts Ganzes entsteht. Wie man das Thema ohne Erwähnung von "Vom Winde verweht" hinbekommt, ist mir auch unbegreiflich. <strong>Kapitel 12</strong> (Southern Strategy) schließlich enthält eine gute Darstellung des Great Realignment (<a href="https://www.deliberationdaily.de/2017/08/der-lange-weg-nach-charlottesville-teil-1/">über das ich ja auch selbst geschrieben habe</a>), setzt aber die Reihe der merkwürdigen Fokussetzungen mit der "<em>southern strategy</em>" fort, die ja eigentlich eine wesentlich klarere Bedeutung hat und an dieser Stelle als Begriff völlig verwässert wird. Abgesehen von diesem begrifflichen Detail ist der Aufsatz aber solide und gut fundiert und einer der besseren des Bandes.</p><p>Das gilt auch für <strong>Kapitel 13 </strong>(MLK). Die Veränderung von MLKs Image und die Mythenbildung um ihn sind ein genuiner "Myth America", der eine Sezierung verdient, die in dem Essay auch ordentlich geleistet wird. Auch die historische Einordnung gelingt gut. Das gilt für <strong>Kapitel 14</strong> (Backlash) leider nicht in demselben Maße. Grundsätzlich ist die Analyse und Schlussfolgerung des Essays völlig korrekt; die Passivkonstruktion des Backlash ist ein echtes Problem. Gleichzeitig aber wird völlig abgestritten, dass die Proteste <em>irgendetwas</em> damit zu tun haben könnten. Das ist aber Unsinn. Die Hervorhebung des Themas zwingt zu einer meist polarisierenden Positionierung, das ist eine Grunddynamik von Protest. Das kann man nicht einfach damit handwedeln, dass die eine Positionierung halt böse ist. Es ändert nichts an der Richtigkeit, dass der <em>white backlash</em> eine bewusste und abzulehnende Entscheidung ist.</p><p>Die Verteidigung der Great Society in <strong>Kapitel 15</strong> ist insgesamt durchaus zutreffend. Die Kritikpunkte über seine Mängel, die von Zeitz zwar angerissen, aber nicht sonderlich ausführlich besprochen werden, sind demgegenüber ja unbenommen. Ich hätte gerne eine ausführlichere Betrachtung der wirtschaftspolitischen Grundlagen gehabt. Zeitz arbeitet schön die Hilfen bei der Reduzierung absoluter Armut oder dem Abbau der Segregation heraus (die eben nicht von Little Rock oder Brown v Board of Education beseitigt wurde, sondern erst durch starke nationale Gesetzgebung und Investition von Ressourcen), streift aber die liberalen Prämissen vom Wachstumsmodell eher, als dass er sie ausführlich untersucht. Was Seitz bei der Desegregation der staatliche Institutionen kurios unerwähnt lässt, ist die Flucht in private Institutionen, deren staatliche Förderungen und die Zerstörung der staatlichen Infrastruktur durch die republikanischen Regierungen als Folge davon. Das ist ein so elementarer Teil des Aufbaus der heutigen USA.</p><p>Zu <strong>Kapitel 16</strong> (Polizeigewalt) habe ich wenig hinzuzufügen. Die amerikanische Polizei ist eine völlig verrottete Institution, und Hinton ging mit ihr geradezu noch freundlich um. Die Konzentration auf die Militarisierung und vor allem die Fallstudie zum Tränengas war sehr interessant, ging aber auf Kosten anderer Aspekte, etwa der Zusammensetzung und Mentalität der Polizist*innen. Hier wäre ein klarerer Fokus besser gewesen. <strong>Kapitel 17</strong> (Aufstände) lässt das das Offensichtliche - dass die Tea Party und der Unabhängigkeitskrieg sowie der Bürgerkrieg besonders prägnante Beispiele sind - gleich weg, was angesichts des Fokus' auf rechtsextremen Umtrieben nachvollziehbar ist. Erstere hätten zwar mehr mit den Mythen zu tun (siehe Gesamtfazit), aber auf diese Art bleibt das Essay konzise und enthält mit der frühen Internet-Vernetzung für mich auch neue Aspekte. Ein Gedanke zum Radikalisierungsprozess: Wir haben das in der BRD an der RAF glaube ich gut sehen können: als die linken Proteste der 1967/1968 an Fahrt verloren und die meisten Leute sich abwandten, entstand überhaupt erst der harte Kern des Linksterrorismus. Das scheint mir ein allgemeines Muster zu sein.</p><p><strong>Kapitel 18</strong> (Feminismus) leidet in meinen Augen unter dem Aktivismus der Autorin. Petrzela verwendet viel Aufmerksamkeit darauf sich zu wundern, dass Konservative nicht verstehen, dass Progressive ja durchaus die Familie stützen, sieht aber den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Problem ist der Begriff. Sie versteht (wie Progressive generell) unter Familie etwas völlig anderes als Konservative. Diese fassen den Begriff enger. Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Ehen, offene Beziehungsformate, ganz egal, wie viel partnerschaftliche Liebe und Kinderfürsorge sie enthalten, entsprechen diesem Bild nicht. Letztlich bleibt der Essay damit trotz der akkuraten Darstellung feministischer Anliegen vor allem moralisierende Abschweifungen, die zwar für einen progressiven Stammtisch sicher unterhaltsam sind, aber unfreiwillig zeigen, warum beide Seiten hier nicht miteinander reden können.</p><p>Ich stimme den Schlussfolgerungen von <strong>Kapitel 19</strong> (Reagan) völlig zu, liege aber mit Zelizers Framing über Kreuz. Dieser kümmert sich praktisch nicht um die Konsistenz seiner Argumente, sondern versucht nur, an allen Fronten die Reagan-Ära herabzuwürdigen. So ist es bei progressiven Niederlagen klar, dass riesige Revolutionen nicht möglich sind und weise Selbstbscheidung Zeichen der staatsmännischen Qualität, bei Reagan aber das genaue Gegenteil. Auch ist eine Rosinenpickerei bei Wahlergebnissen und Beliebtheitsumfragen zu beobachten, die nur eine vorher festgelegte Schlussfolgerung bestätigen sollen. Natürlich hat Zelizer Recht damit, dass der Reagan-Mythos erst nachträglich aufgebaut wurde (die <em>Republicans</em> waren während seiner Amtszeit nicht überragend glücklich mit ihm), aber dass es den <em>Democrats</em> erst 1992 gelang, mit Biegen und Brechen und einem deutlichen Schritt in die wirtschaftskonservative Richtung wieder das Präsidentenamt zu erringen und bis einschließlich Hillary Clintons Kandidatur 2016 nicht zentral davon abwichen eine Folge der "Reagan-Revolution", die zwar nicht dem Mann allein, aber durchaus dem politischen Moment zuzuschreiben ist und deren konstante Leugnung in Zelizers Argumentation mehr vernebelt als erhellt.</p><p>Das <strong>20. Kapitel</strong> (<em>voter fraud</em>) ist inhaltlich grundsätzlich ersteinmal nicht zu beanstanden (wenn man einmal von der Frage absieht, inwieweit man Bushs Wahl 2000 als Fälschung betrachten möchte; ich halte da eher wenig davon). Vielmehr zeigt sich hier einmal her, dass die historische Dimension außen vor bleibt: die massiven Wahlfälschungen im 19. Jahrhundert, wo auch der klassische <em>voter fraud</em> absoluter Standard war, werden kurioserweise gar nicht thematisiert. Sie sind, fairerweise gesagt, auch in keiner direkten Traditionslinie, aber ihre Auslassung zeigt eineproblematische Tendenz zur Rosinenpickerei des ganzen Werks: wenn die massiven Fälschungen im 19. Jahrhundert nicht von den großstädtischen <em>Machines</em>, sondern von den Rassisten der Südstaaten durchgeführt worden wären - sie hätten sicher prominente Erwähnung gefunden.</p><p>Ich habe eingangs den Vergleich mit Zinns Buch gewählt und davon gesprochen, dass das Werk eher ein aktivistisches als ein historisches ist. Ich möchte das noch einmal unterstreichen. Wer Munition für den politischen Meinungskampf sucht, wird diese hier finden. Darin haben Werke wie dieses durchaus eine Daseinsberechtigung: Mythenbildung (für die eigene Seite) ist ebenso wichtig wie Mythendekonstruktion (der gegnerischen). Aber ernsthafte historische Arbeit ist das hier nicht, und ich bin kein Aktivist. Daher war das Buch für mich eher eine frustrierende Erfahrung. Mitgliedern des DNC dürfte es aber sicher helfen.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-87847830950733887942024-01-25T08:00:00.001+01:002024-01-25T08:00:00.159+01:00Die Ostpolitik und die Wiedervereinigung - Versuch einer Bilanz<p> </p><p><img alt="" fxw9i11rt="" height="1" src="https://vg06.met.vgwort.de/na/7016fde9fb304f7d836abddde7434e77" width="1" />Mit dem Regierungswechsel 1969 brach eine neue Periode der deutschen Außenpolitik an. Unter dem Motto "Wandel durch Annäherung" wurde die Hallstein-Doktrin auch formal <em>ad acta</em> gelegt. Man wollte auf die Staaten des Ostblocks zugehen, in der Hoffnung, dass in Zusammenarbeit und Entspannung die Chance läge, mittelfristig positiv auf diese einwirken und "menschliche Erleichterungen" erreichen zu können; als Fernziel wurde weiterhin (wenngleich ohne viel Überzeugung) die Wiedervereinigung ausgegeben. Als diese dann 1989/90 kam, waren die Vertreter der Ostpolitik schnell dabei, ihr eine maßgebliche Rolle zuzusprechen. Ich möchte im Folgenden beurteilen, inwieweit dies eine gerechtfertigte Behauptung darstellt. <span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Der Untergang der DDR 1989/90 wurde durch eine Reihe von Faktoren verursacht. Ein einzelner lässt sich hier nicht isolieren, wohl aber eine Gewichtung durchführen. Zentrale Gründe sind die Öffnungspolitik der Sowjetunion unter Gorbatschow (Glasnost/Perestroika), die katastrophale wirtschaftliche Lage der DDR, der Legitimationsverlust der DDR-Regierung und ihre internen Machtkämpfe. Inwiefern sich die Ostpolitik maßgeblich auf diese Faktoren ausgewirkt hat, wird nun zu untersuchen sein.</p><p>Ausgeschlossen werden kann ein positiver Einfluss auf die Ernennung Gorbatschows und dessen Reformkurs ab 1985. Gleichwohl ist dieser entscheidend. Ohne die "Sinatra-Doktrin", die offiziell das Interventionsgebot der Breschnew-Doktrin aufhob und effektiv die sowjetische Kontrolle über den Ostblock aufhob, wäre die friedliche Revolution in Osteuropa undenkbar gewesen. Das Vorbild dieser Reformen hat zudem eine entscheidende Rolle für die Proteste in der DDR im Sommer 1989 gespielt, in denen Gorbatschow zunehmend zu einer Idealfigur wurde, die mit dem realen Politiker kaum noch etwas gemein hatte, aber die Sehnsüchte des reformorientierten Teils der DDR-Bevölkerung auf sich vereinen konnte. Die scharfe Abgrenzungsreaktion der DDR-Führung unter Honecker spricht hier eine deutliche Sprache.</p><p>Es ist allerdings nicht ersichtlich, inwieweit die Ostpolitik hierzu beigetragen haben könnte. Die Vorgänger Gorbatschows hatten eher einen verschärfenden Kurs gefahren, und der Erste Sekretär selbst war vor allem durch die marode Lage der sowjetischen Wirtschaft und die zunehmende Aussichtslosigkeit des Wettstreits mit den USA getrieben als durch irgendwelche deutschen Annäherungssignale. Für diesen Faktor kann also ein maßgeblicher Einfluss der Ostpolitik ausgeschlossen werden. Gleichwohl sei noch einmal betont, dass es sich um den entscheidendsten Faktor handelt. Wie wir gleich noch sehen werden, konnte die DDR ohne den sowjetischen Rückhalt nicht bestehen. Dieser wurde durch Gorbatschow einseitig aufgekündigt.</p><p>Ein weiterer entscheidender Faktor ist die wirtschaftliche Situation der DDR. Ähnlich wie im restlichen Ostblock befand sich diese in den 1980er Jahren in einer ständigen Abwärtsspirale: die Ausgaben überstiegen deutlich die Einnahmen, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nahm ab und Reformen waren im bestehenden System unmöglich. Gleichzeitig bedeuteten solche Reformen einen grundlegenden Systemwandel, der den Machterhalt des SED-Regimes in seinen Grundfesten gefährdete, von seinen ideologischen Implikationen einmal ganz abgesehen. Diese Wirtschaftskrise beruhte neben den inhärenten Schwächen des planwirtschaftlichen Systems mit seiner Innovationsaversion, den weitgehend reale Bedarfe ignorierenden Planungen, der unflexiblen Betriebsstruktur, den negativen Wechseleffekten des RGW und der mangelnden Informationslage durch die ständigen Anreize zu gefälschten Kennzahlen und propagandistisch motivierten Anforderungen vor allem auf zwei Faktoren: den Ölkrisen 1973 und 1979 sowie der wirtschaftspolitischen Wende der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik".</p><p>Die Ölkrisen hatten die Energie stark verteuert, aber anders als in der BRD gelang weder eine Transformation noch eine deutliche Reduktion des Bedarfs, was die Konkurrenzfähigkeit der DDR-Wirtschaft stetig verschlechterte. Der Wandel der Wirtschaft unter Honecker weg vom Stalinistischen Primat der Schwerindustrie hin zu einer konsumentenorientierten Wirtschaft basierte auf realen und nicht mehr zu ignorierenden Wünschen der Bevölkerung, fachte dieser aber gleichzeitig weiter an und konnte sie niemals erfüllen, vor allem im Vergleich zur BRD nicht. Stattdessen wurde der Sozialstaat massiv ausgebaut, vor allem durch die Subventionen von Wohnraum, Energie und Gütern des täglichen Bedarfs. Der Staat geriet durch die in den 1980er Jahren sprunghaft ansteigenden, unproduktiven Subventionen in eine Abwärtsspiral.</p><p>Hier hat die Ostpolitik einen gewissen Anteil. Der zweite "Korb" der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 hatte dem Ostblock einen größeren Zugang zu weltweiten Wirtschaftskreisläufen, vor allem dem Import westlicher Güter, gegeben. Hoffnungen auf einen ausgleichenden Export östlicher Produkte erfüllten sich dank dessen mangelhafter Qualität nie. Stattdessen entstanden Abhängigkeiten von den westlichen Volkswirtschaften, die auch nach dem Ende der Ostpolitik mit dem Regierungswechsel zu Helmut Kohl 1982 fortgeführt wurden. Besonders prominent sind die durch den CSU-Vorsitzenden und bayrischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß vermittelten Milliardenkredite an die DDR zu nennen, die diese an den Tropf des Westens hängten und einen Reformkurs noch weiter erschwerten. Inwieweit man dies allerdings als Früchte von Epplers und Brandts Ostpolitik betrachten möchte, sei einmal dahingestellt; die Beziehung ist eher flüchtig.</p><p>Der Legitimationsverlust der DDR-Regierung bei ihrer eigenen Bevölkerung war eine beständige Begleiterscheinung des Regimes. Bereits 1953 war die Legitimation praktisch vollständig zusammengebrochen und konnte nur durch die Macht der sowjetischen Bajonette aufrechterhalten werden; erst 1961 stabilisierte sich das Regime mit dem Mauerbau, der zu einer Resignation weiter Bevölkerungsteile führte. In den 1970er Jahren erfolgte dann unter Honecker und der neuen Sozialpolitik ein vergleichsweise stabiler Status Quo, in dem die Regierung ihren totalitären Status insoweit verlor, als dass sie die realen Versuche, die Bevölkerung für den Sozialismus zu gewinnen, weitgehend aufgab und sich auf außenwirksame Propaganda-Symbole und Herrschaftssicherung beschränkte, während die Bevölkerung in den unpolitischen "Nischen" weitgehend alleine gelassen wurde. Mangels Alternativen hielt dieser "Waffenstillstand" lange an, schuf aber keine breite Verankerung des Regimes in der Bevölkerung. Entsprechend verwundbar war es für das sowjetische Vorbild und die Massenproteste 1989.</p><p>Hier lässt sich der größte Anteil der Ostpolitik ausmachen, findet sich hier doch auch der Kern des damals formulierten "Wandels durch Annäherung". Die gestiegenen Kontakte mit dem Westen führten der DDR-Bevölkerung immer ein deutsches Positivbeispiel vor Augen (wenngleich meist durch eine rosarote Brille betrachtet und gänzlich unrealistisch), während der KSZE-Prozess mit dem dritten "Korb" die Regierungen des Ostblocks auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichtete. Offene Unterdrückungsmaßnahmen im Stil von 1953 (oder 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei) sorgten durch diesen globalen Wertewandel für einen wesentlich größeren Prestige- und Legitimitätsverlust als ehedem, was in den kommunistischen Parteizentralen schmerzhaft gewahr wurde. Der "Fallout" der Ausbürgerung Wolf Biermanns, in sich selbst bereits eine im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren deutlich gedämpfte Reaktion auf Dissidententum, ist hierfür ein gutes Beispiel.</p><p>Der DDR fehlte bereits ab den 1970er Jahren der Wille, prominente Regimegegner wie die UdSSR in die Verbannung zu schicken oder gleich anderweitig aus dem Verkehr zu ziehen. Hierzu trug auch die oben diskutiuerte Abhängigkeit vom Westen bei: die Gefahr eines Boykotts (wie sie sich etwa nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1980 manifestierte) hing wie ein Damoklesschwert über der DDR-Wirtschaft, die zwar nach heutigen Maßstäben nicht sonderlich tief in die westlichen Wirtschaftskreisläufe integriert war, aber in Schlüsselgebieten in eine fatale Abhängigkeit geraten war, die sie deutlich verwundbarer gegenüber der öffentlichen Meinung des Westens machte und zu einer Art Wohlverhalten zwang. Eine ganze Generation von Politiker*innen war zudem mit dem Entspannungsprozess und der KSZE-Schlussakte im System großgeworden und hatte sich an seine spezifischen Dynamiken gewöhnt, deren Vereinbarkeit mit sowjetischen Herrschaftssicherungsmethoden gelinde gesagt tendenziös war.</p><p>Der letzte große Faktor beim Untergang der DDR war der interne Machtkampf der SED. Konfrontiert mit der miserablen wirtschaftlichen Lage kurz vor dem Staatsbankrott, dem außenpolitischen Kurswechsel der UdSSR und der Weigerung des Honecker-Flügels der SED, irgendwelche Reformschritte in Betracht zu ziehen, blockierte sich das Politbüro zunehmend selbst. Am Ende wurde der Machtkampf für einen Reformerflügel entschieden, der aber viel zu zaghaft vorging und zu spät an die Macht kam (auch, weil man den prestigeträchtigen 40. Jahrestag der DDR abwarten wollte, der dann von Gorbatschows Zurückweisung und den Protesten überschattet wurde). Der Reformflügel setzte natürlich Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit mit dem Westen, die auch durch die Ostpolitik genährt worden waren.</p><p>Entscheidender in diesem Kontext aber war der Mangel an Ruchlosigkeit, der diesen Flügel auszeichnete. Die große Bedrohungsfolie jener Monate war der Geist der "Chinesischen Lösung", der stets über allem schwebte: die brutale Niederschlagung der Tian'anmen-Proteste ik Frühjahr 1989. Die Hardliner aller kommunistischen Parteien forderten solche Maßnahmen, und wäre die Sowjetunion bereit gewesen, wie 1953 diese Forderungen zu unterstützen, kann wenig Zweifel daran bestehen, dass die Protestbewegung niedergeschlagen worden wäre. Gorbatschows Weigerung, diesen Kurs einzuschlagen, war einmal mehr entscheidend, aber auch innenpolitisch weigerte sich die DDR-Führung selbst unter Honecker, solche Maßnahmen zu ergreifen.</p><p>Inwiefern dafür die Furcht vor einem Imageschaden, der Unkontrollierbarkeit der Reaktion auf eine solche Niederschlagung oder ein genuiner Wertewandel in der Führungsriege verantwortlich war, ist schwer auszumachen. Wenn man der Ostpolitik aber einen Effekt zuschreiben möchte, dann ließe sich dieser am ehesten hier finden, in einer Furcht, gegen das (westliche) Menschenrechtskonzept zu verstoßen, das im Ostblock erst durch den Entspannungs- und KSZE-Prozess verankert worden war. Allerdings bleibt dieser Zusammenhang unbewiesen und eher tendenziös.</p><p>Demgegenüber steht auf der anderen Seite die unvorteilhafte Wirkung der Ostpolitik, die bereits ab 1969 von der Opposition scharf kritisiert worden war. Sie besaß eine unzweifelhaft systemstabilisierende Wirkung für die DDR und ließ die Rolle des Westens als klaren Gegenpol und Antagonisten deutlich verschwimmen. Auch unter der CDU/FDP-Regierung Kohls blieb diese Grundcharakteristik erhalten. Die deutsche Politik richtete sich an den kommunistischen Regimen aus; das Ziel der Entspannung, verstanden als Friedenssicherung, trat vor dem der "menschlichen Erleichterungen" und dem "Wandel" deutlich in den Vordergrund, gerne auch - besonders von Helmut Schmidt - als Zeichen realpolitischen Realismus' verbrämt. Die Ostpolitik hatte daher auch eine stabilisierende Wirkung auf das kommunistische Regime.</p><p>Insgesamt ist die Bilanz der Ostpolitik im Hinblick auf die Wiedervereinigung daher mehr als zwiespältig. Die These, sie habe maßgeblich dazu beigetragen, muss vor diesem Hintergrund eher abschlägig beschieden werden. Gorbatschows Außenpolitik, die Wirtschafts- und Legitimitätskrise der DDR und die Weigerung der DDR-Führung, Gewalt anzuwenden, waren die entscheidenden Faktoren, die von der Ostpolitik bestenfalls marginal positiv beeinflusst wurden.</p><p><em>Anmerkung: Dieser Artikel entstand als Musterlösung für eine Klausuraufgabe meines Leistungsfachs. Die Aufgabenstellung war: <span class="ui-provider ed bho bhp bhq bhr bhs bht bhu bhv bhw bhx bhy bhz bia bib bic bid bie bif big bih bii bij bik bil bim bin bio bip biq bir bis bit biu biv" dir="ltr">""Die deutsche Ostpolitik trug maßgeblich dazu bei, das Ende der DDR herbeizuführen." Beurteile diese These." Der Operator verlangt dabei eine Definition der relevanten Begriffe und das Aufstellen von Kategorien. </span></em></p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-41394789314726052222024-01-22T07:00:00.003+01:002024-01-22T07:00:00.145+01:00Rezension: Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Teil 4)<p> </p><p><img alt="" c63xtbpni="" height="1" src="https://vg06.met.vgwort.de/na/d24ae145c8884a54b690c09b54f4b49e" width="1" /><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541601394?&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=99f0f905129ccfba24ab3dbcc09ac01a&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past</a> (<a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=1f769c0e5067662f088e7c474de2ff1e&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)</p><p>Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/01/rezension-kevin-m-kruse-julian-zelizer-myth-america-historians-take-on-the-biggest-legends-and-lies-about-our-past-teil-1/">hier</a>, Teil 2 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/01/rezension-kevin-m-kruse-julian-zelizer-myth-america-historians-take-on-the-biggest-legends-and-lies-about-our-past-teil-2/">hier</a>, Teil 3 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/01/rezension-kevin-m-kruse-julian-zelizer-myth-america-historians-take-on-the-biggest-legends-and-lies-about-our-past-teil-3/">hier</a>.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541604660?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=85b356e1b8bcf69a383ea6ad77a5541d&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="260" src="https://m.media-amazon.com/images/I/81eayGsGo4L._SL1500_.jpg" width="173" /></a><strong>Kapitel 8</strong> (Sozialismus) verbiegt sich auch ordentlich, um eine grundsätzliche amerikanische Offenheit für sozialistische Ideen aufstellen zu können (was ich für völlig haltlos halte). Einzelevents wie irgendwelche 200 Jahre alten Reden taugen jedenfalls als Beweise überhaupt nicht, das ist keine seriöse Geschichtswissenschaft. Auch die großzügige Sammlung aller Strömungen, die vage die bestehende Ordnung aus einer nicht-rassistischen oder -faschistischen Warte heraus kritisierten unter dem Label "sozialistisch" (vor allem solche, die bestenfalls (!) als sozialdemokratisch (<em>democratic socialism</em>) gewertet werden dürften, ist völliger Quatsch. Der Aufsatz hat mich so hart mit den Augen rollen lassen, dass sie schier aus dem Kopf fielen. Der Versuch, alle guten Entwicklungen der USA auf Sozialisten zurückzuführen und deren mangelnden politischen Erfolg als Ausdruck ihrer Effektivität zu verklären, ist solch <em>motivated reasoning</em>, dass es eigentlich kaum der weiteren Kritik bedarf. Für Bismarck und Wilhelm II. wäre es jedenfalls bahnbrechende Neuigkeit, dass Kooptierung dazu führte, dass "Sozialisten" keine Wahlerfolge feiern können. Mich erinnert das Ganze an die Abhandlungen der BernieBros 2016.<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=a28a29ec2f5cfaab6506ecf711248844&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="169" src="https://m.media-amazon.com/images/I/51cPlnUBMRL.jpg" width="169" /></a><strong>Kapitel 9</strong> (Magie des Markts) zeichnet zwar den Import Haykes und Mises' sowie den Erfolg Friedmans als Elitenprojekt nach, weist diesen aber in meinen Augen viel zu viel Bedeutung zu (genauso wie das bedeutungsschwangere <em>cui bono</em>, eine nicht auszurottende linke Angewohnheit). Zudem halte ich es für wenig tragfähig, die Geburt des Marktmythos erst in den 1950er und 1960er Jahren suchen zu wollen. Hier zeigt sich eine oft auftauchende Schwäche mangelnder Themeneingrenzung: geht es um die moderne, "neoliberale" Prägung dieses Mythos, macht das grundsätzlich Sinn (bliebe aber in der Verengung auf die Personen immer noch fragwürdig), aber dann ist der Bezug zum 19. Jahrhundert unsinnig. Eine ähnliche Strukturproblematik sehe ich auch bei <strong>Kapitel 10 </strong>(New Deal). Die Statistikgeschichte des New Deal etwa fand ich super spannend, aber offiziell will das Essay den <em>kompletten</em> Mythos um den New Deal (sprich: das rechte Gegennarrativ) besprechen, was es aber in der Schwerpunktsetzung und Länge gar nicht kann. Die politische Zielsetzung und die wissenschaftliche Arbeit stehen auch hier in einem harten Gegensatz zueinander.</p><p>Noch krasser findet sich das in <strong>Kapitel 11 </strong>(Statuen), das eigentlich den Lost Cause thematisieren müsste, der ja ein zentraler Mythos der USA ist. Aber aus mir unerfindlichen Gründen wurde als Themenschwerpunkt die Statuendebatte gewählt (weil sie halbwegs aktuell und ein Aufreger der aktivistischen Basis ist?), weswegen eine eher unmotivierte Abhandlung über die Statuen mit Lost-Cause-Revivals gemischt wird und nichts Halbes und nichts Ganzes entsteht. Wie man das Thema ohne Erwähnung von "Vom Winde verweht" hinbekommt, ist mir auch unbegreiflich. <strong>Kapitel 12</strong> (Southern Strategy) schließlich enthält eine gute Darstellung des Great Realignment (<a href="https://www.deliberationdaily.de/2017/08/der-lange-weg-nach-charlottesville-teil-1/">über das ich ja auch selbst geschrieben habe</a>), setzt aber die Reihe der merkwürdigen Fokussetzungen mit der "<em>southern strategy</em>" fort, die ja eigentlich eine wesentlich klarere Bedeutung hat und an dieser Stelle als Begriff völlig verwässert wird. Abgesehen von diesem begrifflichen Detail ist der Aufsatz aber solide und gut fundiert und einer der besseren des Bandes.</p><p>Das gilt auch für <strong>Kapitel 13 </strong>(MLK). Die Veränderung von MLKs Image und die Mythenbildung um ihn sind ein genuiner "Myth America", der eine Sezierung verdient, die in dem Essay auch ordentlich geleistet wird. Auch die historische Einordnung gelingt gut. Das gilt für <strong>Kapitel 14</strong> (Backlash) leider nicht in demselben Maße. Grundsätzlich ist die Analyse und Schlussfolgerung des Essays völlig korrekt; die Passivkonstruktion des Backlash ist ein echtes Problem. Gleichzeitig aber wird völlig abgestritten, dass die Proteste <em>irgendetwas</em> damit zu tun haben könnten. Das ist aber Unsinn. Die Hervorhebung des Themas zwingt zu einer meist polarisierenden Positionierung, das ist eine Grunddynamik von Protest. Das kann man nicht einfach damit handwedeln, dass die eine Positionierung halt böse ist. Es ändert nichts an der Richtigkeit, dass der <em>white backlash</em> eine bewusste und abzulehnende Entscheidung ist.</p><p>Die Verteidigung der Great Society in <strong>Kapitel 15</strong> ist insgesamt durchaus zutreffend. Die Kritikpunkte über seine Mängel, die von Zeitz zwar angerissen, aber nicht sonderlich ausführlich besprochen werden, sind demgegenüber ja unbenommen. Ich hätte gerne eine ausführlichere Betrachtung der wirtschaftspolitischen Grundlagen gehabt. Zeitz arbeitet schön die Hilfen bei der Reduzierung absoluter Armut oder dem Abbau der Segregation heraus (die eben nicht von Little Rock oder Brown v Board of Education beseitigt wurde, sondern erst durch starke nationale Gesetzgebung und Investition von Ressourcen), streift aber die liberalen Prämissen vom Wachstumsmodell eher, als dass er sie ausführlich untersucht. Was Seitz bei der Desegregation der staatliche Institutionen kurios unerwähnt lässt, ist die Flucht in private Institutionen, deren staatliche Förderungen und die Zerstörung der staatlichen Infrastruktur durch die republikanischen Regierungen als Folge davon. Das ist ein so elementarer Teil des Aufbaus der heutigen USA.</p><p>Zu <strong>Kapitel 16</strong> (Polizeigewalt) habe ich wenig hinzuzufügen. Die amerikanische Polizei ist eine völlig verrottete Institution, und Hinton ging mit ihr geradezu noch freundlich um. Die Konzentration auf die Militarisierung und vor allem die Fallstudie zum Tränengas war sehr interessant, ging aber auf Kosten anderer Aspekte, etwa der Zusammensetzung und Mentalität der Polizist*innen. Hier wäre ein klarerer Fokus besser gewesen. <strong>Kapitel 17</strong> (Aufstände) lässt das das Offensichtliche - dass die Tea Party und der Unabhängigkeitskrieg sowie der Bürgerkrieg besonders prägnante Beispiele sind - gleich weg, was angesichts des Fokus' auf rechtsextremen Umtrieben nachvollziehbar ist. Erstere hätten zwar mehr mit den Mythen zu tun (siehe Gesamtfazit), aber auf diese Art bleibt das Essay konzise und enthält mit der frühen Internet-Vernetzung für mich auch neue Aspekte. Ein Gedanke zum Radikalisierungsprozess: Wir haben das in der BRD an der RAF glaube ich gut sehen können: als die linken Proteste der 1967/1968 an Fahrt verloren und die meisten Leute sich abwandten, entstand überhaupt erst der harte Kern des Linksterrorismus. Das scheint mir ein allgemeines Muster zu sein.</p><p><strong>Kapitel 18</strong> (Feminismus) leidet in meinen Augen unter dem Aktivismus der Autorin. Petrzela verwendet viel Aufmerksamkeit darauf sich zu wundern, dass Konservative nicht verstehen, dass Progressive ja durchaus die Familie stützen, sieht aber den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Problem ist der Begriff. Sie versteht (wie Progressive generell) unter Familie etwas völlig anderes als Konservative. Diese fassen den Begriff enger. Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Ehen, offene Beziehungsformate, ganz egal, wie viel partnerschaftliche Liebe und Kinderfürsorge sie enthalten, entsprechen diesem Bild nicht. Letztlich bleibt der Essay damit trotz der akkuraten Darstellung feministischer Anliegen vor allem moralisierende Abschweifungen, die zwar für einen progressiven Stammtisch sicher unterhaltsam sind, aber unfreiwillig zeigen, warum beide Seiten hier nicht miteinander reden können.</p><p>Ich stimme den Schlussfolgerungen von <strong>Kapitel 19</strong> (Reagan) völlig zu, liege aber mit Zelizers Framing über Kreuz. Dieser kümmert sich praktisch nicht um die Konsistenz seiner Argumente, sondern versucht nur, an allen Fronten die Reagan-Ära herabzuwürdigen. So ist es bei progressiven Niederlagen klar, dass riesige Revolutionen nicht möglich sind und weise Selbstbscheidung Zeichen der staatsmännischen Qualität, bei Reagan aber das genaue Gegenteil. Auch ist eine Rosinenpickerei bei Wahlergebnissen und Beliebtheitsumfragen zu beobachten, die nur eine vorher festgelegte Schlussfolgerung bestätigen sollen. Natürlich hat Zelizer Recht damit, dass der Reagan-Mythos erst nachträglich aufgebaut wurde (die <em>Republicans</em> waren während seiner Amtszeit nicht überragend glücklich mit ihm), aber dass es den <em>Democrats</em> erst 1992 gelang, mit Biegen und Brechen und einem deutlichen Schritt in die wirtschaftskonservative Richtung wieder das Präsidentenamt zu erringen und bis einschließlich Hillary Clintons Kandidatur 2016 nicht zentral davon abwichen eine Folge der "Reagan-Revolution", die zwar nicht dem Mann allein, aber durchaus dem politischen Moment zuzuschreiben ist und deren konstante Leugnung in Zelizers Argumentation mehr vernebelt als erhellt.</p><p>Das <strong>20. Kapitel</strong> (<em>voter fraud</em>) ist inhaltlich grundsätzlich ersteinmal nicht zu beanstanden (wenn man einmal von der Frage absieht, inwieweit man Bushs Wahl 2000 als Fälschung betrachten möchte; ich halte da eher wenig davon). Vielmehr zeigt sich hier einmal her, dass die historische Dimension außen vor bleibt: die massiven Wahlfälschungen im 19. Jahrhundert, wo auch der klassische <em>voter fraud</em> absoluter Standard war, werden kurioserweise gar nicht thematisiert. Sie sind, fairerweise gesagt, auch in keiner direkten Traditionslinie, aber ihre Auslassung zeigt eineproblematische Tendenz zur Rosinenpickerei des ganzen Werks: wenn die massiven Fälschungen im 19. Jahrhundert nicht von den großstädtischen <em>Machines</em>, sondern von den Rassisten der Südstaaten durchgeführt worden wären - sie hätten sicher prominente Erwähnung gefunden.</p><p>Ich habe eingangs den Vergleich mit Zinns Buch gewählt und davon gesprochen, dass das Werk eher ein aktivistisches als ein historisches ist. Ich möchte das noch einmal unterstreichen. Wer Munition für den politischen Meinungskampf sucht, wird diese hier finden. Darin haben Werke wie dieses durchaus eine Daseinsberechtigung: Mythenbildung (für die eigene Seite) ist ebenso wichtig wie Mythendekonstruktion (der gegnerischen). Aber ernsthafte historische Arbeit ist das hier nicht, und ich bin kein Aktivist. Daher war das Buch für mich eher eine frustrierende Erfahrung. Mitgliedern des DNC dürfte es aber sicher helfen.</p><p>Ein Essayband, der sich tatsächlich mit den großen amerikanischen Mythen beschäftigt - von den "Founding Fathers" über Geschichten zur politischen Struktur hinüber zur Freiheitsstatue, den Burgern und Pizza und was das Selbstbild des Volks jenseits des Atlantiks nicht noch so zu definieren scheint - wäre mir lieber gewesen. <em>Buyer's remorse</em>, quasi. Es ist nicht die Schuld Kruses, dass ich wenig mit dem anfangen kann, was er geschrieben hat; in dem Fall werden letztlich Erwartungen enttäuscht, die vielleicht so gerechtfertigt gar nicht waren, weswegen ich zu viel Kritik nicht direkt bei ihm abladen will. Aber es sei emphatisch noch einmal betont: der Band ist ein politisches, kein historisches Werk.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-4069465374419436682024-01-19T09:00:00.002+01:002024-01-19T09:00:00.129+01:00Rezension: Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Teil 3)<p> </p><p><img alt="" height="1" src="https://vg07.met.vgwort.de/na/8e7fb1b05a714d5eaaa22472db40d556" width="1" yyamtxiy4="" /><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541601394?&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=99f0f905129ccfba24ab3dbcc09ac01a&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past</a> (<a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=1f769c0e5067662f088e7c474de2ff1e&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)</p><p>Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/01/rezension-kevin-m-kruse-julian-zelizer-myth-america-historians-take-on-the-biggest-legends-and-lies-about-our-past-teil-1/">hier</a>, Teil 2 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/01/rezension-kevin-m-kruse-julian-zelizer-myth-america-historians-take-on-the-biggest-legends-and-lies-about-our-past-teil-2/">hier</a>.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541604660?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=85b356e1b8bcf69a383ea6ad77a5541d&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="260" src="https://m.media-amazon.com/images/I/81eayGsGo4L._SL1500_.jpg" width="173" /></a><strong></strong>Ein in letzter Zeit hauptsächlich rezipierter Anlass für den in Kapitel 14 besprochenen <em>white backlash</em> folgt in <strong>Kapitel 16</strong>, "<em>Police Violence</em>", von Elizabeth Hinton. Sie zeigt anhand von Ausschreitungen in den 1960er Jahren, dass Polizeigewalt oft die Ursache, nicht die Folge von Ausschreitungen war. Dieses Muster, das sich in Ferguson, bei George Floyd und in vielen anderen Fällen in den 2010er und 2020er Jahren beobachten ließ (#BlackLivesMatter), hat seinen Ursprung bereits wesentlich früher. In den 1960er Jahren wurde die systemische Polizeigewalt nur erstmals überhaupt wahrgenommen, wenngleich die weiße Mehrheit sie überwiegend begrüßte. Das galt auch für die Proteste Martin Luther Kings (siehe Kapitel 13), die ebenfalls massiver und unprovozierter Polizeigewalt ausgesetzt waren, die die Zeitgenossen nicht etwa den rassistischen Terrorregimen der Südstaaten, sondern den Protestierenden zuschrieben.<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=a28a29ec2f5cfaab6506ecf711248844&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="169" src="https://m.media-amazon.com/images/I/51cPlnUBMRL.jpg" width="169" /></a>Gleiches gilt für die Militarisierung der Polizei. Sie hatte ihren Ursprung nicht in den 2000er Jahren (wo sie gleichwohl einen Schub erlebte, <a href="https://www.deliberationdaily.de/2014/08/ist-die-us-polizei-eine-verrottete-institution/">wie ich hier beschrieben habe</a>), sondern in den 1960er Jahren, als das US-Militär erstmals seine Restbestände aus einem abgewickelten Krieg an die Polizeibehörden weitergab, die es benutzten, um die schwarze Bevölkerung zu unterdrücken. Hinton beschreibt als Fallbeispiel die exzessive Nutzung von Tränengas, das 1925 in der Genfer Konvention verboten wurde, zur Auflösung friedlicher Proteste. Ein letzter Abschnitt beschäftigt sich mit ihrer Kriminalisierung in jüngster Zeit; in vielen südlichen Bundesstaaten drohen für einen Protest bis zu 15 Jahre Gefängnis (!), während es gleichzeitig straffrei gestellt wurde, Protestierende versehentlich mit dem Auto zu töten.</p><p>Diese staatliche Freundlichkeit gegenüber Gewalt von Rechts ist auch Thema von <strong>Kapitel 17</strong>, "<em>Insurrection</em>". Ausgehend von der viel gehörten Behauptung, der <a href="https://www.deliberationdaily.de/2021/01/der-putsch-ist-da/">Putschversuch vom 6. Januar</a> sei nicht "wer wir sind", weist Kathleen Belew nach, dass Aufstände gegen den Staat vielmehr schon lange in der amerikanischen DNA stecken. Rechtsextreme Aufstände gegen den Staat und ein Netzwerk von Terroristen habe es viel mehr immer wieder gegeben. Im Zentrum stehen in ihrem Kapitel die "Turner Diaries", eine Art als Roman getarnten politischen Programms, das einen Rassekrieg mit vollständiger Vernichtung aller Nicht-Weißen weltweit voraussieht und das seit den 1970er Jahren immer wieder mit Terroristen in Verbindung steht. Diese Terroristen werden von Politik und Medien stets als Einzeltäter angesehen, wogegen Belew die Existenz eines verbindenden Netzwerks postuliert.</p><p>Sie erklärt, dass in den 1960er Jahren die Mitgliedszahlen in radikalen rechten Organisationen deutlich absanken, was aber gleichzeitig einen Radikalisierungsprozess mit sich gebracht hätte. Um der Verfolgung zu entgehen, verschrieben die Rechtsextremisten sich der Idee der <em>leaderless resistance</em> - einer Vernetzung ohne klare Strukturen. Dazu nutzten sie bereits 1984 das Internet. Sie sammelten Spenden, kauften davon Computer und verteilten diese zusammen mit Kursen unter den Zellen, die sich dann in passwortgeschützten Foren austauschten. Heutige Netzwerke wie Stormfront seien daher nur Evolutionen eines mittlerweile 40 Jahre alten Trends.</p><p>Besonders bedrückend ist, wie viele der Prozesse gegen rechtsextreme Terroristen mit deren Freispruch endeten, weil die Jurys der Prozesse in den Einzelstaaten selten überhaupt schwarze Mitglieder besaßen und meist sehr empathisch gegenüber den Anliegen der Rechtsextremisten waren. Die Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge ist wahrlich kein deutsches Problem.</p><p>Eine gänzlich andere Richtung schlägt <strong>Kapitel 18</strong>, "<em>Family Values Feminism</em>", von Natalia Mehlman Petrzela, ein. Sie wendet sich gegen die konservative Behauptung, der Feminismus wolle die Familie zerstören und stellt dem die These gegenüber, dass er in Wahrheit die Familie unterstütze. Treibende Kraft hinter der Etablierung der Idee war Phyllis Schlaefli, die konservative Aktivistin, die das Equal Rights Amendment verhinderte und eine wichtige Unterstützerin Reagans war. Viele der frühen Feminstinnen, allen voran Betty Friedan, hatten aber die heterosexuelle Familie ausdrücklich verteidigt und neue Formen wie die gleichgeschlechtliche Ehe abgelehnt. Erst in den späten 1970er Jahren gelang die Anerkennung von Lesben als Bestandteil der feministischen Bewegung (was dann wiederum zu <em>backlash</em> führte).</p><p>Petrzela führt ihren Argumentationsrahmen zum einen in die Vergangenheit bis zu den Aktivistinnen des 19. Jahrhunderts, die stets im Rahmen der Familie und weiblicher "Zuständigkeiten" wie Fürsorge und Pflege agiert hatten, und zum anderen in die Gegenwart, wo Forderungen und Erfolge der feministischen Bewegung den Status von Familien durch Hilfen für Kinder und Eltern und die Stärkung der Rechte von Müttern eigentlich verbessert hätten, während Konservative mit ihren Kürzungen solcher Maßnahmen familienfeindliche Politik machten.</p><p>Ein weiterer Mythos aus dieser Zeit ist die in <strong>Kapitel 19</strong>, "<em>Reagan Revolution</em>", von Julian Zelizer besprochene Amtszeit Ronald Reagans. Von folgenden Generationen von <em>Republicans</em> als "Reagan Revolution" verklärt besteht Zelizer darauf, dass diese Begrifflichkeit stark übertrieben sei und in historischer Analyse nicht verwendet werden sollte. Reagan scheiterte mit den selbst gesteckten Zielen seiner Revolution weitgehend. Trotz beeindruckender Siege bei den Präsidentschaftswahlen 1980 und 1984 waren die Midterms ein ziemliches Desaster; Reagans persönliche Beliebtheitswerte lagen deutlich unter denen Johnsons, Kennedys, Clintons, Bushs und Obamas und nur marginal über denen Nixons (wenngleich deutlich über Ford und Carter). Stattdessen führte seine Politik zu einem gewaltigen Defizit, das nur durch einen Kompromiss der GOP im Kongress mit den <em>Democrats</em> zu retten war - der deutliche Steuererhöhungen enthielt und effektiv die Reagan Revolution konterkarierte.</p><p>Auch außenpolitisch scheiterte Reagan. Nicht nur wurde seine Präsidentschaft beinahe durch den Iran-Contra-Skandal gefährdet (der heute weitgehend vergessen, seinerzeit aber als größer als Watergate eingeschätzt wurde!); sein größter Erfolg, die Entspannung und Abrüstungsverträge mit Gorbatschow, widersprachen völlig der Rhetorik des Wahlkampfs 1980 und Reagans Feuerfresser-Persönlichkeit zuvor. Zelizer kommt zu dem Schluss, dass die Rede von der Revolution angesichts der mangelnden Dauerhaftigkeit von Reagans Agenda und seinem Scheitern wesentlich übertrieben sei; gleichzeitig betont er, dass keine Person jemals in einem demokratischen Staatswesen überhaupt solche Durchbrüche feiern könnte, weswegen das von vornherein auch die falsche Erwartungshaltung sei.</p><p>Der letzte Mythos wird in <strong>Kapitel 20</strong>, "<em>Voter Fraud</em>", von Carol Anderson untersucht. Ihr geht es um die republikanischen, unter Trump inflationär gewordenen Vorwürfe, es finde "<em>voter fraud</em>" statt, also die Vortäuschung einer anderen Identität zum Abgeben zusätzlicher Stimmen. So etwas hat es in signifikantem Umfang zumindest im 20. Jahrhundert nie gegeben. Anderson zeichnet nach, wie diese Schmierenkampagne (wie bei so vielen in diesem Band besprochenen Themen) in den 1960er Jahren begann und zu einem Standardwerkzeug wurde.</p><p>Gleichzeitig unterscheidet sie den Vorwurf vom wesentlich relevantaren "<em>electoral fraud</em>", also der Wahlfälschung. Diese finde wesentlich häufiger und systematischer statt und betreffe zehntausende Menschen - pro Wahl, wohlgemerkt. So zeigt sie anhand Beispielen aus den 1960er Jahren, wie Polizisten außer Dienst in Uniform und Ausrüstung vor Wahllokalen in Distrikten mit starker afroamerikanischer Bevölkerung postiert wurden und die Wählenden einschüchterten. Dies senkte die Wahlbeteiligung nachweislich deutlich. Natürlich fehlt auch Bush v Gore in der Auflistung nicht. Während die Schimäre <em>voter fraud</em> also mit furchtbaren Folgen für die demokratische Legitimität permanent hervorgekramt werde, werde realer <em>election fraud</em> überhaupt nicht thematisiert, geschweige denn verfolgt.</p><p>---</p><p>Das Buch erinnert mich stark an Howard Zinn's "<a href="https://www.amazon.de/gp/product/0062397346/ref=as_li_tl?ie=UTF8&camp=1638&creative=6742&creativeASIN=0062397346&linkCode=as2&tag=httpgeschicht-21&linkId=f45e43784bc70d240fe450aecdb6fc4d">People's History of the United States</a>" (<a href="http://www.deliberationdaily.de/2019/09/buecherliste-2018-19/">hier rezensiert</a>): eine dezidiert linke Interpretation der amerikanischen Geschichte, ein Interpretationsangebot für das eigene politische Spektrum. Das kann man machen, hat aber mit Geschichtswissenschaft nur sehr eingeschränkt zu tun. Entsprechend werden auch munter historische Analysen, politische Analysen, Appelle für die Gegenwart und Werturteile miteinander vermischt. Manchmal ist dieser Mix furchtbar, manchmal nicht.</p><p><strong>Kapitel 1</strong> (Exzeptionalismus) etwa ist insofern interessant, als dass es auf den Exzeptionalismus als kommunistisches Konzept hinweist. Gleichwohl hat das abgesehen von der Begrifflichkeit ja praktisch nichts mit dem Begriff zu tun, wie er überwiegend verwendet wird. Ob sein Ursprung dort liegt, bezweifle ich auch sehr. Wesentlich seriöser erscheint mir da die Analyse von <strong>Kapitel 2 </strong>(Federalist 10); die Herleitung ist hier wesentlich tragfähiger und quellenbasierter und das Ganze zudem viel sinniger als Fragestellung und These. Gleiches gilt für <strong>Kapitel 3 </strong>(Natives), das neue Perspektiven einbringt, ohne in eine zu starke Idealisierung abzurutschen. <strong>Kapitel 4</strong> (Immigration) wird dann wieder viel zu sehr mit genereller Kapitalismuskritik vermischt. Sicher spielt der Bedarf an billigen Arbeitskräften der Wirtschaft eine große Rolle, aber das Ganze ist dann in seinen Anreizen und Abhängigkeiten wesentlich komplexer als ein "der Kapitalismus ist schuld".</p><p><strong>Kapitel 5</strong> (America First) war eine schöne Geschichte eines Begriffes, und ich halte die These, dass "America First" immer schon ein nativistischer Slogan war, jetzt nicht für sonderlich kontrovers. Die zugrundeliegenden Prämissen von einer zutiefst rassistischen Grundordnung der amerikanischen Gesellschaft kann man sicherlich kritisieren, aber die spielt glücklicherweise für die eigentliche Analyse keine Rolle, sondern läuft nur als stilistisches Grundelement mit. <strong>Kapitel 6</strong> (Imperium) bringt erneut eine eigentlich weitgehend unkontroverse Feststellung - dass die USA ein Imperium waren bzw. sind - und vermengt diese mit zahlreichen nicht ausgesprochenen und thematisierten Normensetzungen, die zu unehrlichen Argumentationen führen. Die philippinischen Kriegstoten 1941-1945 etwa einfach den Opfern amerikanischen Imperialismus' zuzuschreiben scheint mir nicht unbedingt ein Zeichen großer intellektueller Redlichkeit, um es milde auszudrücken. Auch, dass das System amerikanischer Basen eines ist, das weitgehend auf Freiwilligkeit beruht, handwedelt Immerwahr einfach weg und bringt einige willkürliche Beispiele aus dem besetzten Japan, das nicht glücklich damit war (<em>tough luck</em>, vielleicht sollte man dann keinen Weltkrieg anfangen).</p><p><strong>Kapitel 7</strong> (Grenze) schließlich ist voll von sozialromantischem Klimbim von der Grenze als Raum interkulturellen Austauschs. So wenig Sympathie ich für Trump'sche Horrorvisionen aufbringe, so wenig hat dieses rosaraote Bild aber mit der Realität zu tun. Diese völlige Weigerung, sich mit der Lage zu befassen und die damit verbundenen Ängste zu addressieren, ist eine der größten Schwächen der radikaleren Linken und ihrer open-borders-Fantasien.</p><p>Weiter geht es in Teil 4.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-43275405056522629442024-01-17T07:00:00.001+01:002024-01-17T07:00:00.285+01:00Rezension: Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Teil 2)<p> </p><p><img alt="" de8c0cg82="" height="1" src="https://vg08.met.vgwort.de/na/bcfaa11bb1094cd58f62833703967098" width="1" /><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541601394?&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=99f0f905129ccfba24ab3dbcc09ac01a&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past</a> (<a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=1f769c0e5067662f088e7c474de2ff1e&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)</p><p>Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2024/01/rezension-kevin-m-kruse-julian-zelizer-myth-america-historians-take-on-the-biggest-legends-and-lies-about-our-past-teil-1/">hier</a>.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541604660?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=85b356e1b8bcf69a383ea6ad77a5541d&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="260" src="https://m.media-amazon.com/images/I/81eayGsGo4L._SL1500_.jpg" width="173" /></a><strong>Kapitel 8</strong>, "<em>American Socialism</em>", beginnt mit dem Vortrag des Walisers Robert Owen vor dem Kongress vor über 200 Jahren, in dem dieser sozialistische Ideen unter großem Interesse und Anteilnahme vortrug. Für Michael Kazin ist das ein Beleg dafür, dass die Amerikaner*innen nicht so grundlegend antisozialistisch eingestellt sind, wie das oft behauptet werde. Zahlreiche Intellektuelle hätten in den folgenden Jahrzehnten sozialistische Ideen verbreitet, Organisationen wie Gewerkschaften dafür gekämpft und diverse Abgeordnete auf ihrer Basis Mandate errungen. Sozialistische Ideen hätten Druck auf die gemäßigte Linke und selbst Rechte ausgeübt, die sie übernommen hätte (etwa im New Deal) und die ob ihrer Popularität auch unter Rechten wie Reagan nicht zurückgefahren worden wären. Der mangelnde elektorale Erfolg sei maßgeblich auf diese Kooptierung sozialistischer Ideen zurückzuführen. Dass Sozialisten meist als <em>Democrats</em> gewählt wurden, zeige ihre moderate, reformorientierte Haltung.<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=a28a29ec2f5cfaab6506ecf711248844&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="169" src="https://m.media-amazon.com/images/I/51cPlnUBMRL.jpg" width="169" /></a>In eine ähnliche Kerbe schlägt das von Naomi Oreskes und Erik M. Conway verfasste <strong>Kapitel 9</strong>, "<em>The Magic of the Marketplace</em>". Den Glauben, dass der Markt es schon richten werde, wenn der Staat sich nur komplett heraushielte - wie er heute in der GOP rhetorisch oft, in der Praxis nie vertreten wird - wird von den beiden auf GOP-nahe Think-Tanks in den 1930er Jahren zurückgeführt. Im 19. Jahrhundert seien Staatseingriffe von Indian Removal bis Eisenbahnbau schließlich die Norm gewesen, weswegen eine mythische Vergangenheit unter dem Zauber des Markts erst konstruiert werden musste. Von dort ziehen die Autor*innen eine Linie zu Hayek und Mises über Friedman, die alle dank tatkräftiger Finanzierung der Business-Lobby öffentliche Wirkung entfalten konnten. Sie postulierten eine Unteilbarkeit ökonomischer und anderer Freiheiten. Oreskes und Conway weisen diese Idee zurück und verweisen auf die offensichtliche Vereinbarkeit von Sozialstaat und staatlicher Investitionstätigkeit mit Freiheit.</p><p>Ein verwandtes Thema greift Eric Rauchways <strong>Kapitel 10</strong>, "<em>The New Deal</em>", auf. Ausgehend von einer Behauptung des <em>Republican</em> Chuck Grassley, der New Deal sei ein Fehlschlag gewesen, der Arbeitslosigkeit erhöht und Wirtschaftswachstum gedämpft habe, weisen sie nach, dass beides nicht korrekt ist. Die Periode des New Deal war die des größten Wirtschaftswachstums der US-Geschichte (wenngleich man natürlich die schlechte Ausgangslage durch die Weltwirtschaftskrise einberechnen muss); die Arbeitslosigkeit sank allein bis 1936 um fast die Hälfte. Rauchway zeichnet vor allem nach, warum sich der von Grassley reproduzierte Mythos so lange halten konnte. Der Grund dafür liege in der von Gegnern des New Deals im Statistikamt begonnenen Praxis, die durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der WPA beschäftigten Arbeiter*innen als arbeitslos zu zählen. Die Argumentation war, dass es sich dabei um dieselbe Zwangsarbeit handle wie in den Nazi-Konzentrationslagern (!) oder dem Reichsarbeitsdienst, was vollkommener Unsinn ist: die WPA war freiwillig, enthielt Streikrecht und die Arbeitenden sahen sich selbst auch als solche, mit Lohn und allen Rechten und Pflichten. Rauchway verweist außerdem darauf, dass Grassleys weiteres Argument, die Weltwirtschaftskrise sei erst durch den amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg überwunden worden, eher dafür spricht, dass die Staatsintervention des New Deal zu gering ausfiel als zu groß, gab es doch keine Periode der US-Geschichte, in der der Staat größeren Anteil am Wirtschaftsleben nahm als 1941-1945.</p><p>In <strong>Kapitel 11</strong>, "<em>Confederate Monuments</em>", greift Karen L. Cox die Lost-Cause-Mythologie auf, die mit dem Ende der Reconstruction um sich zu greifen begann und ihren sichtbaren Ausdruck in einer Flut von Monumenten zu Ehren der Konföderierten und ihrer Sache fand. Die Monumente entstanden überwiegend, aber nicht nur, im 20. Jahrhundert und waren explizit mit weißer Suprematie verknüpft. Bereits zu ihrer Entstehungszeit waren sie von Kritiker*innen dafür angegriffen worden. Das Land akzeptierte aber in seiner weißen Mehrheitsbevölkerung die Lost-Cause-Mythologie überwiegend; auch im Norden spielte das Thema Emanzipation keine Rolle mehr. Bis heute wird vor allem in den Südstaaten eine Version der Geschichte gelehrt, die mit der Realität wenig zu tun hat.</p><p>Die politische Seite dieser Thematik wird in <strong>Kapitel 12</strong>, "<em>The Southern Strategy</em>", von Kevin M. Kruse beleuchtet. Die <em>Democrats </em>waren historisch die Partei der Segregation, während die <em>Republicans</em> für Emanzipation standen (und entsprechend die Loyalität der afroamerikanischen Wählendenschaft genossen). Nach der Reconstruction wendete sich auch die GOP von dieser Thematik ab, die keine politische Vertretung mehr besaß; schwarze Repräsentant*innen in den Parlamenten verschwanden praktisch völlig, ihre rechtliche Stellung verschlechterte sich drastisch. Dies änderte sich erst mit dem New Deal, der ihre wirtschaftliche Lage (nicht aber die politische) wesentlich verbesserte und zu einem dramatischen Loyalitätswechsel zu den <em>Democrats</em> führte. 1948 setzte Truman einen Fokus auf Bürgerrechte durch, der zu einem Aufstand der Südstaaten (mitsamt eigenem Präsidentschaftskandidaten) führte. In der folgenden Zeit begannen die <em>Republicans</em>, mehr und mehr um die Rassisten des Südens zu werben. Diese Entwicklung wurde mit der Bürgerrechtsgesetzgebung Kennedys und vor allem Johnsons deutlich verstärkt.</p><p>Die Rassisten bildeten zuerst eine eigene Partei (die "Dixiecrats") mit eigenen Kandidaten, doch in den 1960er Jahren entschied sich der interne Machtkampf der <em>Republicans</em> zwischen den Konservativen und den Liberalen für erstere, die mit Barry Goldwater einen Kandidaten aufstellten, der zum ersten Mal den tiefen Süden gewann. Dieses <em>realignment</em> geschah auf zwei Ebenen: mit Goldwater in der Präsidentschaftskandidatur und auf lokaler Ebene in den dortigen Wahlkämpfen. Die Abgeordneten im Kongress stimmten zwar oft mit der scharf nach rechts rückenden GOP, blieben aber offiziell <em>Democrats</em>, um ihre Privilegien nicht zu verlieren, so dass der Wandel dort langsamer vonstatten ging. Die liberale wirtschaftliche Haltung dieser Leute sorgte zudem dafür, den Wechsel nicht offiziell zu machen, da die Marktideologie (siehe Kapitel 9) teilweise abgelehnt wurde. Der Kongress blieb deswegen von den <em>Democrats</em> kontrolliert.</p><p>Goldwaters Kandidatur war in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Auf der <em>National Convention</em> waren fast keine Schwarzen und gar keine Juden. Die Schwarzen wurden angepöbelt und teils körperlich attackiert; die Stimmung war pogromartig. Damit war ein neuer Ton gesetzt. Gleichwohl führte dieser zwar zum Sieg Goldwaters im <em>Deep South</em>, aber zum Verlust des Rests des Landes. Nixons nun explizit als <em>southern strategy</em> benanntes Vorgehen bestand in einem Zickzackkurs, um als der moderatere Kandidat zu erscheinen. Als die GOP bei den Midterms 1970 offen rassistisch agierte, erlebte sie einen milden Backlash. 1972 fuhr Nixon dann die Ernte des gemäßigteren Kurses ein und errang 49 der 50 Staaten. Die Verhandlungen für den Wechsel demokratischer Abgeordneter liefen, als Watergate unerwartet eine Gegenbewegung einläutete. Der Wandel des Kongresses in republikanische Hände dauerte zwei Jahrzehnte länger.</p><p>Ob Reagan eine <em>southern strategy</em> fuhr, ist durchaus kontrovers. Atwater verneinte dies stets vehement, was Kruse nicht als unüberzeugend ansieht. Reagan sprach hauptsächlich Wirtschaft und Verteidung, aber nutzte die <em>dog whistle</em> der <em>states rights</em>, um auch deutlich nach rechts zu blinken. Insgesamt blieb aber auch er auf der "moderaten" Siegerstraße. Der Durchbruch des langen Realignments erfolgte mit dem Sieg in den Repräsentenhauswahlen 1994 durch Newt Gingrich, aber die Moderierung blieb auch durch die Präsidentschaft George W. Bushs immer ein ausgleichendes Element, ehe die Partei nach 2008 eine scharfe Rechtswendung hinlegte.</p><p>In <strong>Kapitel 13</strong>, "<em>The Good Protest</em>", beschreibt Glenda Gilmore den verbreiteten Mythos bezüglich der Bürgerrechtsbewegung, dass diese einerseits quasi mit Rosa Parks aus der Taufe gehoben und andererseits weitgehende Zustimmung der weißen Mehrheitsbevölkerung erfahren hätten. Dies ignoriere einerseits die lange Geschichte afroamerikanischer Proteste - die ersten Sit-Ins fanden bereits in den 1930er Jahren statt - und sorge andererseits dafür, das Doppel-Narrativ afroamerikanischer Akzeptanz der Segregation vor den 1950er Jahren einerseits und das einer schnellen weißen Akzeptanz der Anliegen und eines raschen Bewusstseinswandels andererseits zu reproduzieren, die beide vollkommen unhistorisch sind.</p><p>MLK sei politisch kooptiert und ihm so die Zähne gezogen worden, eine Karikatur entstanden, die mit der realen Position wenig zu tun habe. Sogar Trump zitierte aus dem Kontext gerissenene King-Zitate; zuerst hatte damit Reagan 1985 begonnen. Gilmore weist nach, dass der reale King wesentlich radikaler war als das heute verwaschene Bild. Zudem habe damals mitnichten eine weiße Akzeptanz der Proteste bestanden; diese seien vielmehr radikal abgelehnt worden.</p><p>Dieser Gedanke wird in <strong>Kapitel 14</strong>, "<em>White Backlash</em>", von Lawrence B. Glickman fortgesetzt. Unter dem Begriff wird die Idee gefasst, dass eine Radikalisierung der Weißen gegenüber ethnischen Minderheiten und ihre gewalttätige Reaktion eine Folge auf die Proteste sei. Diese Vorstellung wurde in den 1960er Jahren popularisiert, aber Glickman weist nach, dass die Begründung erstmals in den 1890er Jahren verwendet wurde. Das Muster ist dabei jedes Mal gleich: Forderungen oder Proteste ziehen eine gewalttätige Reaktion nach sich, etwa Terror des Ku-Klux-Klans, die damit relativiert wird, dass sie eine "Reaktion" auf die vorangegangenen Proteste sei. Glickman postuliert einerseits, dass dies nicht zutreffe - die Gewalt war bereits vorher vorhanden - und so Ursache und Wirkung verkehre. Andererseits schaffe es eine passive Rolle für diejenigen, die sich radikalisieren lassen, eine Unausweichlichkeit, die die Täter*innen aus der Verantwortun nimmt.</p><p>Das Komplementärstück zum im Kapitel 10 besprochenen New Deal ist Gegenstand von Joshua Zeitz' <strong>Kapitel 15</strong>, "<em>The Great Society". </em>Das große Reformwerk Lyndon B. Johnsons (siehe auch "<a href="https://www.amazon.de/gp/product/B00XQC5PJ0/ref=as_li_tl?ie=UTF8&camp=1638&creative=6742&creativeASIN=B00XQC5PJ0&linkCode=as2&tag=httpgeschicht-21&linkId=fb5ee3e378866ee21229a03c777d65f7">LBJ's Neglected Legacy</a>", <a href="http://www.deliberationdaily.de/2019/09/buecherliste-2018-19/">hier rezensiert</a>) wurde wie auch der New Deal von <em>Republicans</em> für gescheitert erklärt, prominent etwa von Ronald Reagan. Dieser scherzte, dass Johnson einen "Krieg gegen die Armut" erklärt habe, den die Armut gewonnen habe. Wenig überraschend widerspricht Zeitz dem. Der War on Poverty habe zwar natürlich die Armut nicht beseitigt, aber deutlich reduziert (analog zum New Deal werde dies in den Statistiken unzureichend wiedergespiegelt, weil diese geldwerte Leistungen wie die von Johnson eingeführten Food Stamps nicht zählten und deswegen künstlich hoch seien).</p><p>Zudem habe das Reformwerk den heutigen amerikanischen Wohlfahrtsstaat überhaupt erst geschaffen, vor allem das dauerhaft beliebte Medicare und das Rentensystem, das bis heute ein Fundament der Gesellschaft darstelle. Die Annahmen, auf denen dieses System geruht habe - niedrige Inflation und Arbeitslosigkeit, hohes Wachstum - hätten sich gleichwohl in den 1970er Jahren aufgelöst. Die Liberalen hätten zudem auf ein Wachstums- statt ein Umverteilungsmodell gesetzt (und tun das bis heute).</p><p>Die andere Hälfte des Kapitels beschäftigt sich mit den Erfolgen der Great Society im Umgang mit rassistischer Diskriminierung. Der in Kapitel 14 besprochene <em>white backlash</em> findet hier sein bekanntestes Schlachtfeld, wo der Kampf gegen den Civil Rights Act motivierte (siehe dazu auch Kapitel 17), der nichtsdestotrotz zu einer weitgehenden Desegregation der staatlichen Institutionen des Südens führte. Die USA um 1970 und folgende seien eine fundamental andere Gesellschaft als die USA um 1960 und davor.</p><p>Weiter geht's in Teil 3.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-73898076190177318202024-01-15T06:00:00.002+01:002024-01-15T06:00:00.247+01:00Rezension: Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Teil 1)<p> </p><p><img alt="" height="1" mfjgpow8n="" src="https://vg06.met.vgwort.de/na/f6489fd585bd4fa7ad40361f9d7eb349" width="1" /><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541601394?&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=99f0f905129ccfba24ab3dbcc09ac01a&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past</a> (<a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=1f769c0e5067662f088e7c474de2ff1e&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)</p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/1541604660?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=85b356e1b8bcf69a383ea6ad77a5541d&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="260" src="https://m.media-amazon.com/images/I/81eayGsGo4L._SL1500_.jpg" width="173" /></a>Gründungsmythen gehören zu jeder Nation. Es sind Geschichten, die erzählt und ständig wieder erzählt werden, oftmals in geradezu ritueller Form, um eine gemeinsame Identität zu schaffen. Mit historischen Realitäten haben sie häufig wenig zu tun; sie ssagen mehr über die Selbstwahrnehmung der Gegenwart, was man als wichtig empfindet. So erfinden die Franzosen Jahr für Jahr einen Aufstand des gesamten Volkes gegen den korrupten Adel, imaginieren die Briten einen die gesamte Bevölkerung umfassenden Stolz auf das die Wellen beherrschende Britannia, sind die Deutschen stolz auf auf den Fleiß, mit dem sie sich selbst und ohne Hilfe aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs herausgearbeitet haben und feiern die Amerikaner ihre Unabhängigkeit als demokratisches Urereignis. Die USA, als einer der ältestens Staaten der Erde, haben erwartbar mehr Mythen als die meisten anderen Länder, und die polarisierte Gesellschaft sorgt dafür, dass es umso mehr werden. Die Herausgeber Kevin Kruse und Julian Zelizer haben 20 Beiträge amerikanischer Historiker*innen gesammelt, die diesen Mythen auf den Grund gehen. <span></span></p><a name='more'></a><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Myth-America-Historians-Biggest-Legends/dp/B09V3GXVH3?_encoding=UTF8&qid=&sr=&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=a28a29ec2f5cfaab6506ecf711248844&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img class="alignleft" height="169" src="https://m.media-amazon.com/images/I/51cPlnUBMRL.jpg" width="169" /></a>Im Vorwort etablieren die beiden Herausgeber die Menge dieser Mythen, die ihre Gestalt über die Zeit auch immer wieder gewandelt haben und die Kenntnis der realen Situation längst hinter sich gelassen haben. Die beiden kommen eindeutig von liberaler Seite her, weswegen viele der hier kritisierten Mythen und der sie umgebenden "Fake News" sich eher gegen die Rechte richten; gleichwohl erklären sie, dass die hartnäckisten und dauerhaftesten Mythen von beiden Seiten des Spektrums geteilt werden.</p><p><em>Anmerkung: Ich gebe ersteinmal nur die Inhalte der Kapitel wieder; eine Stellungnahme erfolgt gesammelt und nach Essays gegliedert am Ende der Rezension.</em></p><p>Der erste Mythos in <strong>Kapitel 1</strong>, "<em>American Exceptionalism</em>", von David A. Bell, geht den wohl fundamentalsten und berühmtesten Mythos an: den des amerikanischen Exzeptionalismus, also dass die USA eine besondere Nation seien, klar abgehoben von allen anderen. Bell stellt fest, dass grundsätzlich jede Nation sich als exzeptionell sieht - und das grundsätzlich auch zu Recht, denn jede unterscheidet sich irgendwie von anderen. Die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus ist, wohl wenig kontrovers, dass die USA auch <em>besser</em> seien als alle anderen Länder. Bell findet die Genese des Begriffs bei den amerikanischen Kommunisten, die damit zu erklären versuchten, warum in den USA keine Arbeiterbewegung entstand. In den späten 1920er Jahren verbot Stalin die Verwendung des Begriffs. In der Folgezeit wurde er von rechts aufgegriffen, aber immer mehr zu einem allgemein genutzten Konzept. Erst Reagan begann es dann spezifisch zu einem rechten <em>talking point</em> zu machen. Als Waffe gegen links instrumentalisierte es dann Newt Gingrich; seither gehört es zum Standardrepertoire der GOP, den <em>Democrats</em> mangelnden Patriotismus vorzuwerfen, weil sie nicht an den Exzeptionalismus glaubten. Dass diese sich beständig dazu bekennen, hat wenig daran geändert. In jüngster Zeit hat sich der Begriff weiter enthöhlt, weil Trump selbst offen erklärte, wenig damit anfangen zu können, was die weitere Verwendung als Angriff aber nicht gestört hat.</p><p>Wesentlich akademischer wird es <strong>Kapitel 2</strong>, "<em>Founding Myths</em>", in dem Akhil Reed Hamar auf Madison und seinen berühmten "Federalist No°10" eingeht. In diesem konstruierte Madison einen Gegensatz des Konzepts der Republik und der Demokratie. Oft wird auch die Behauptung abgeleitet, dass Demokratien nur in kleinen Entitäten funktionierten, während große die Minderheitenrechte untergrüben (während die Staaten diese schützen könnten). Hamar weist nach, dass der Federalist °10 seinerzeit keine große Rolle spielte; die Zeitgenossen rezipierten weitgehend die Argumente aus °2 bis °8, die außenpolitische Überlegungen voranstellten. Der Federalist °14, dem eine Zusammenfassung von 2-8 vorangestellt war, war der meistgelesene aus der Feder Madisons.</p><p>Genauso widerlegt Hamar die Vorstellung, dass die verfassungsgebende Versammlung ihre Kompetenzen überschritten habe, indem sie die Articles of Confederation verwarf; dies sei von Beginn an akzeptiert gewesen. Er hebt auch Washingtons Rolle bei dem Prozedere hervor, der wesentlich aktiver und gestaltender war, als dies oft zugestanden wird; die mächtige Rolle des Präsidenten etwa sei vor allem auf seine Person zurückzuführen. Gefährdungen für Minderheitenrechte, das kann kaum bestritten werden, entstanden zudem in den Einzelstaaten nicht im Bund. Man erkennt dies zweifelsfrei nach 1865, als diese vorher rein theoretische Betrachtung Gegenstand konkreter Auseinandersetzungen wurde.</p><p>Einem ganz anderen Mythos geht Ari Kelman in <strong>Kapitel 3</strong>, "<em>Vanishing Indians</em>", auf die Spur. Die oft gehörte Behauptung, die Ureinwohner*innen hätten nichts Bleibendes hinterlassen - entweder weil sie keine nennenswerte eigene Kultur besessen hätten oder weil sie von den Weißen komplett erledigt wurden - sei weder haltbar noch harmlos. Der Mythos war im 18. und 19. Jahrhundert hauptsächlich einer, der zur Rechtfertigung der Landnahme benutzt wurde: demzufolge war es das gottgegebene Schicksal der Natives, zu verschwinden. Das enthob gleichzeitig die Weißen selbst von ihrer Schuld an diesem Verschwinden, das ein merkwürdig passives Phänomen wurde. Einen Wandel in der Wahrnehmung erhielt dieses Verschwinden in den 1960er Jahren durch die New-Age-Bewegung und den Bestseller "<em>Bury my heart at Wounded Knee</em>", der das Thema identitätspolitisch veränderte (weil von links der "Imperialismus" der USA gegen die Natives kritisiert wurde, während dies von rechts emphatisch geleugnet wurde), aber ebenfalls die "verschwindenden" Natives thematisierte, wenngleich nun nostalgisch verklärt. Dieser Verschwinden-Mythos, der von beiden Seiten gepflegt wird, schadet aber den Natives, die immer noch existieren und ihre Anliegen deutlich machen wollen.</p><p>Der ständig beschworenen Horrorvision einer Flut von Immigrant*innen, die die amerikanische Kultur zerstören, spürt Erika Lee in <strong>Kapitel 4</strong>, "<em>Immigration</em>", nach. Überraschend ist vor allem das Alter dieses Narrativs bei gleichzeitiger struktureller Konsistenz. Immer geht es um eine Gruppe von Einwandernden, die sich anders als die vorherigen Gruppen nicht amerikanisieren und drohen, die USA zu zerstören. Im 18. Jahrhundert, noch vor der Gründung des Landes, waren es die Deutschen, danach allgemeiner katholische Einwanderende, dann die Iren, dann die Chinesen, bevor plötzlich Mexikaner*innen und schließlich andere Südamerikaner*innen der große Feind wurden, der das Gefüge der USA bedrohte. Lee betont, dass die Einwanderung zwar stets narrativ als Invasion oder Welle gefasst wurde, aber stets auch massive Pull-Faktoren eine Rolle spielen: die Wirtschaft hat Bedarf an undokumentierten und leicht ausbeutbaren Arbeitskräften, die in Flauten einfach abgeschoben werden können. Die amerikanische Wirtschaftstätigkeit sei daher maßgeblich für die Wanderungsströme. Zudem sei der Mythos der Realität hinterher: seit Jahren ist die Einwanderung aus Mexiko leicht negativ, aber das Land bleibt der viel beschworene Ursprungspunkt.</p><p>In <strong>Kapitel 5</strong>, "<em>America First</em>", beschreibt Sarah Churchwell die Herkunft von Trumps Leitspruch. Bereits 2015/16 gab es eine große Debatte über dessen rechtsradikale Ursprünge in der amerikanischen faschisten Bewegung der 1930er Jahre, die von den <em>Republicans</em> rundheraus geleugnet wurden, die stattdessen betonen, dass es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sei: welche Nation stelle nicht die eigenen Interessen vorne an? Lee weist nach, dass der Spruch wesentlich älter ist als die 1930er Jahre. Erstmals wurde er in den 1850er Jahren von den Know-Nothings benutzt, die damit gegen Immigrierende mobil machten. Eine Renaissance erlebte er um 1915, als der zweite Ku-Klux-Klan gegründet wurde. Woodrow Wilson verwendete den Begriff, um eine rassistische Kampagne gegen "Bindestrich-Amerikaner" zu unterfüttern, und der Klan adoptierte den Slogan in den 1920er Jahren selbst. Die Neutralität der USA bis 1917 wurde mit "America First" ebenso begründet wie der Red Scare von 1919. Der prominenteste Vertreter des Slogans war Henry Ford, der ihn massiv antisemitisch auflud. In den 1930er Jahren nutzten ihn dann die Faschisten für ihre <em>dog whistles</em>, ehe Charles Lindbergh den Subtext zum Text machte und damit direkten Widerspruch herausforderte. Der Angriff auf Pearl Harbor erlaubte es Roosevelt, gegen die Extremisten vorzugehen, und der Krieg sorgte für eine 180°-Wende der öffentlichen Wahrnehmung, der nun mit Faschistenfreundschaft gleichgesetzt wurde. Bereits in den 1950er Jahren wurde er aber im zweiten Red Scare wieder von rechts übernommen, dann von George Wallace, David Duke und Pat Buchanan benutzt und schließlich prominent von Trump vorgebracht. Stets war er mit nativistischen, rassistischen Untertönen versehen, nie ein allgemeiner Slogan.</p><p>Ein überparteilicher Klassiker wird in <strong>Kapitel 6</strong>, "<em>The United States is an Empire</em>", von Daniel Immerwahr besprochen. Es gehört praktisch seit der Gründung der USA zum Selbstbild, kein Imperium zu sein, sondern solche zu bekämpfen (zweimal das britische, zweimal das deutsche, einmal das japanische, einmal das sowjetische) und ein "Leuchtfeuer der Hoffnung" für die Welt darzustellen. Das allerdings sei Unfug. Bereits kurz nach ihrer Gründung inkorporierten die USA große Territorien, die zwar die Möglichkeit hatten, Staaten zu werden, dies aber (nach rassistischen Kriterien) lange nicht wurden. Oklahoma etwa war über 100 Jahre Territorium, länger als viele Kolonialreiche bestanden. Immerwahr hebt auch die karibischen und pazifischen Besitzungen der USA hervor, die heute noch Territorien und deutlich ärmer als die kontinentalen USA sind. Zudem stellt er die Reservate und Tribal Nations in den kolonialen Kontext und verweist auf das ausgeprägte Netz von Basen, das die USA unterhalten. Informeller Einfluss statt direkter Landnahme sei immer US-Politik gewesen, weswegen die Existenz des Imperiums auch meist nicht anerkannt werde.</p><p>Eher zurück in den Bereich rechter Mythen geht es in <strong>Kapitel 7</strong>, "<em>The Border</em>", in dem Geraldo Caralva die Idee zurückweist, dass die Grenze seit jeher eine Markierung zwischen den reichen, höherstehenden USA auf der einen und den gefährlichen Ursprüngen von Kriminalität und Immigration auf der anderen Seite sei. So weist er darauf hin, dass für viele Natives und Schwarze das Land südlich der Grenze das Land der Freiheit war und das Vordringen der Grenze etwa im Krieg von 1846-1848 einen empfindlichen Perspektivverlust bedeutete. Für die Natives war weder das amerikanische Vordringen noch die mexikanischen Unabhängigkeit eine gute Nachricht; sie wurden von beiden Seiten bekämpft. Die Grenzregion sei für Jahrzehnte eine Zone interkulturellen Austauschs geblieben, frei Grenzübergänge waren die Norm. Die Immigrationsbeschränkungen Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts galten explizit nicht für Mexiko. Erst mit der Weltwirtschaftskrise habe sich das geändert und das Narrativ von der Grenze zu Mexiko als Hort von Migration und Kriminalität, den es durch verstärkte Restriktionen zu kontrollieren gelte, übernahm. Caralva schließt mit einem Plädoyer, die diverse Geschichte der Grenzregion und ihr interkulturelles Potenzial mehr zu sehen.</p><p>Weiter geht es in Teil 2.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-60160519395946067912024-01-03T15:35:00.003+01:002024-01-03T15:35:00.134+01:00Rezension: Shlomo Venecia - Inside the Gas Chambers. Eight Months in the Sonderkommando of Auschwitz<p> </p><p><img alt="" b8nq6w0ab="" height="1" src="https://vg04.met.vgwort.de/na/f002f820e3fa410c86d23978b3e66c67" width="1" /><a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Sonderkimmando/dp/0745643841?_encoding=UTF8&qid=1702141867&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=5a0afbbf6ef64887f67ae6797b964f21&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Shlomo Venecia - Inside the Gas Chambers. Eight Months in the Sonderkommando of Auschwitz</a> (<a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Auschwitz/dp/B0BN6TSMZJ?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=2F1YIP8URFNKT&keywords=shlomo+venezia&qid=1702141867&sprefix=shlomo+veneci%2Caps%2C274&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=e3b8e123878947e7fd5131119d9342b8&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)</p><p><a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Sonderkimmando/dp/0745643841?_encoding=UTF8&qid=1702141867&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=3dfc561ebf47c47653b297798d6cbd02&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=0745643841&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" /></a>Der Holocaust gehört zu den historischen Ereignissen, die man wohl als die am weitesten bekannte und theoretisch best erforschte betrachten dürfte. Trotzdem ist das Wissen über den industriellen Massenmord an den Juden Europas erstaunlich dünn und oberflächlich, was selbst eigentlich versierten Menschen immer wieder klar wird, wenn sie sich den Details des grausigen Geschehens stellen. Angesichts der steigenden Zahlen von Holocaust-Relativierung und Holocaust-Leugnung ist gerade diese Auseinandersetzung immer wieder geboten, und aus historischer Perspektive schon alleine deswegen interessant, weil das Geschehen des singulären Ereignisses meist nur abstrakt bekannt ist. Sechs Millionen tote Juden - eine, wie das Vorwort feststellt, eher konservative Schätzung - sind eine Statistik. Weder die Schicksale dahinter noch die Abläufe des Massenmords werden dahinter sichtbar. Ein Mosaikstein dieser Abläufe ist die Arbeit der Sonderkommandos, der jüdischen Arbeiter, die die Drecksarbeit erledigten. Shlomo Venecia, italienisch-stämmiger Jude aus Griechenland, ist einer der wenigen Überlebenden der Sonderkommandos. Dieses Buch erzählt seine Geschichte. <span></span></p><a name='more'></a><img alt="" b8nq6w0ab="" border="0" height="1" src="https://ir-de.amazon-adsystem.com/e/ir?t=httpgeschicht-21&language=de_DE&l=li3&o=3&a=0745643841" style="border: none !important; margin: 0px !important;" width="1" /><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Auschwitz/dp/B0BN6TSMZJ?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=2F1YIP8URFNKT&keywords=shlomo+venezia&qid=1702141867&sprefix=shlomo+veneci%2Caps%2C274&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=8932e503611e005438aecadfe2e649c3&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" height="164" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=B0BN6TSMZJ&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" width="164" /></a>Venecia beginnt seine Erzählung in <strong>Kapitel 1</strong>, "<em>Life before the Holocaust</em>", in dem er sein Leben in Saloniki und Athen vor 1943 bespricht. Der 1923 geborene Shlomo war nach dem frühen Tod seines Vaters 1935, eines stolzen Faschisten, mitverantwortlich für die Ernährung seiner in bitterer Armut lebenden Familie, eine Erfahrung, die ihn prägte ("<em>poor people have stronger characters</em>"). Saloniki war ein Zentrum jüdischen Lebens; das jüdische Viertel war zu 90% jüdisch. Die meisten Juden dort waren bettelarm, aber es gab eine schmale, sehr wohlhabende Oberschicht (mit der Shlomo nichts zu tun hatte). Die italienische Staatsbürgerschaft beschützte die Familie Venecia bis zur Kapitulation Italiens 1943. Einer der letzten Akte der den Juden gewogenen italienischen Besatzer war es, ihnen ein Evakuierungsschiff bereitzustellen, das sie entweder nach Athen oder Sizilien bringen sollte. Die jüdische Oberschicht entschied im Alleingang für Athen, um ihre Unternehmen und ihren Wohlstand zu schützen - eine tödliche Entscheidung. <img alt="" b8nq6w0ab="" border="0" height="1" src="https://ir-de.amazon-adsystem.com/e/ir?t=httpgeschicht-21&language=de_DE&l=li3&o=3&a=B0BN6TSMZJ" style="border: none !important; margin: 0px !important;" width="1" /></p><p>Zwar entging Shlomo einigen Deportationen, doch schließlich erwischten die Nazis ihn, indem sie den Juden eine Falle stellten: da sie sich täglich melden mussten, nutzten sie eine solche Meldung, um alle sich meldenden Juden gefangenzusetzen. Sie wurden dann in einen Zug gesetzt. Das Rote Kreuz versorgte die zusammengepferchten Menschen mit einigen Hilfspaketen und Decken (die Nazis erzwangen die Abgabe einiger dieser Pakete), was die Frage aufwirft, inwiefern das Rote Kreuz letztlich zu unfreiwilligen Helfenden des Holocaust wurde. Die Menschen konnten die elftägige Fahrt nur dank dieser Pakete überleben, und selbst dann verhungerten, verdurstete und erfroren etliche in den Viehwaggons. Shlomo und seine Cousins wollten aus dem Zug flüchten, wurden jedoch von den anderen Gefangenen zurückgehalten, die befürchteten, bei Ankunft als Repressalie erschossen zu werden. Auch hier werden bereits moralische Grautöne sichtbar, die sich im weiteren Verlauf verdichten werden.</p><p><strong>Kapitel 2</strong>, "<em>The first month in Auschwitz-Birkenau</em>", beginnt mit der Ankunft an der "Rampe" in Auschwitz. Die ausgeklügelte Taktik der Nazis wird erneut offenbar: die ankommenden Menschen werden durch grelle Scheinwerfer, künstliche Hektik und infernalische Lärmkulisse desorientiert, so dass an Flucht oder Widerstand nicht zu denken ist. Venecia kann sich deswegen auch nicht an die genauen Wege erinnern, die sie nahmen, als sie nach Birkenau geschickt wurden, wo eine oberflächliche Selektion stattfand. Am nächsten Tag erfuhr er, dass seine Mutter und Schwester bereits vergast worden waren - nicht, dass er es glauben würde. Generell ist die Ungläubigkeit ein Leitmotiv der Erzählungen Überlebender: warum sollten die Nazis diesen Aufwand betreiben, nur um sie umzubringen? Es machte einfach keinen Sinn.</p><p>In der Quarantänebaracke hungerten die Gefangenen und lebten in Langeweile, den Erniedrigungen und Prügeln der Wachen und Kapos ausgesetzt, die sich aus nicht-jüdischen Gefangenen rekrutierten und ihre Macht über Leben und Tod genossen. Venecia nutzte die erste Chance, eine Arbeit im Lager zu bekommen (und dadurch bessere Verpflegung). Was er nicht wusste und wissen konnte war, dass er für das Sonderkommando rekrutiert wurde.</p><p>In <strong>Kapitel 3</strong>, "<em>Sonderkommando: Initiation</em>", wird Venecia in die Arbeit mit den Sonderkommandos eingeführt. Zu Beginn muss er nur Unkraut an den Krematorien jäten, doch schon bald wird ihm bewusst, was hier passiert. Durch die Überlastung der Anlagen werden Gefangene auch in einer Behelfsbaracke ("Bunker") vergast, und das Sonderkommando muss die Toten durch den Schlamm in einen Graben schleppen, wo sie aufeinandergeschichtet und verbrannt werden. Die widerlichen Details dieser Arbeit und der Sadismus der SS-Wachen machen das Geschäft noch schlimmer, als es die Tätigkeit ohnehin ist. Venecia hat insofern Glück, als dass er den vergleichsweise leichten Job hat, den Leichen die Haare abzuschneiden und sie in Säcke zu verpacken. Ein anderer Gefangener muss die Goldzähne herausbrechen, was angesichts der schnell einsetzenden Leichenstarre erfordert, dass er die Kiefer aufstemmt.</p><p>Die Leichenstarre machte auch das Herausholen der Leichen aus den Gaskammern extrem schwierig. Die Kammern waren ohnehin voll von Blut, Exkrementen, Erbrochenem und anderen Flüssigkeiten, so dass die ohne Werkzeug arbeitenden Männer es schwer hatten, die hoffnungslos miteinander verwickelten Leichen auseinander und in den Aufzug zum Krematorium zu ziehen. Danach mussten sie die Kammer säubern und neu weißeln, damit die nächsten Ankömmlinge nichts bemerkten.</p><p>Eine gewisse Routine stellte sich ein, wie bereits der Titel von <strong>Kapitel 4</strong>, "<em>Sonderkommando: the work continues</em>", lakonisch feststellt. Die Männer schalteten ihren Verstand fast vollkommen ab; immer wieder nutzt Venecia die Metapher von Robotern, und stellten nicht die Frage nach der Moral ihres Tuns. Ein Zug Neuankömmlinge musste innerhalb von 72 Stunden komplett beseitigt sein. Die grausigen Details der Arbeit - so mussten Knochen wie das Hüftgelenk, die nicht verbrannten, aus der Asche geholt und zermahlen werden - werden zu einem Alltagsrauschen, und es sagt viel über das Morden, dass permanent Horrorszenen aus diesem bereits unvorstellbaren Horror hervorstechen.</p><p>Besonders nennenswert ist der Kommandant aller Krematorien, Otto Moll, der besonders sadistisch ist und vor dem selbst die SS-Wachen in Furcht leben. Wo immer er auftaucht, arbeiten die Männer noch mehr um ihr Leben als ohnehin (Moll wurde glücklicherweise 1945 zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet, anders als andere namentlich identifizierte SS-Wächter). Die Opfer von Mengeles Experimenten zu beseitigen hinterließ ebenfalls über den Alltagshorror hinausreichende Eindrücke. Einmal überlebte ein zwei Monate altes Baby die Gaskammer; ein SS-Soldat erschoss es ohne mit der Wimper zu zucken. Überhaupt ist der Sadismus der SS-Leute ein konstantes Thema. Sie versuchten absichtlich, die letzten Stunden der Todgeweihten so schrecklich wie möglich zu machen, indem sie etwa in der Gaskammer das Licht willkürlich an- und ausschalteten.</p><p>Ein einschneidendes Ereignis findet in <strong>Kapitel 5</strong>, "<em>The revolt of the Sonderkomamndo and the dismantling of the Crematoria</em>", seine Berücksichtigung. Die Revolte vom Oktober war mit dem polnischen Widerstand koordiniert, dessen Ziele aber konträr zu denen der Häftlinge liefen. Die Polen wollten möglichst viel Ressourcen aus dem Lager, um Waffen zu kaufen, und möglichst lange zu warten, um die Hilfe der Roten Armee zu bekommen, während die Häftlinge so früh wie möglich losschlagen wollten. Die Verzögerungen zogen sich über zehn Monate, und dass es den Sonderkommandos gelang, trotz der üblicherweise im Drei-Monats-Takt stattfindenden Ermordungen des Kommandos und der Ersetzung durch neue Häftlinge die Logistik und Planung intakt zu halten, ist ein kleines Wunder.</p><p>Dies funktionierte über seltene Kontakte ins Frauenlager, über die Pulver zu den Krematorien geschmuggelt wurde (die Frauen stellten Munition her). Die (jüdischen) Kapos des Sonderkommandos schafften es, einen Kern von Leuten intakt zu halten, der Planung und Durchführung übernahm. Das Ziel war theoretisch die Flucht, aber vor allem ging es darum, irgendetwas zu tun. Praktisch niemand rechnete mit einem ernsthaften Erfolg (die Parallele zum 20. Juli ist in meinen Augen offenkundig). Der Aufstand scheiterte natürlich. Überzeugt, verraten worden zu sein, begannen die Männer einem Krematorium früher als vereinbart. Ein weiteres schloss sich an. Als Venecias Krematorium vom Aufstand erfuhr, war dieser bereits weitgehend unterdrückt, so dass es sich nie beteiligte. Das rettete dem Sonderkommando das Leben. Die SS tötete die Männer, die das voll erwarteten, nicht, sondern behielt sie für die die restliche Arbeit.</p><p>Im Folgenden wurde Venecia hauptsächlich dafür eingesetzt, die Krematorien Stück für Stück auseinanderzunehmen. Die Arbeit war lang und gründlich und gehörte zu dem großen Versuch der Nazis, ihre Verbrechen zu verheimlichen. Danach begann der Todesmarsch: in langen Reihen wurden die überlebenden Häftlinge durch den Winter gejagt. Venecia konnte diesem Marsch überhaupt nur beitreten, weil es ihm gelang, aus dem Sonderkommando zu flüchten; die SS hatte vorgehabt, es zu liquidieren. Aber dafür waren die Männer inzwischen zu erfahren. Die Strapazen des Marsches ohne Unterkunft und Nahrung waren furchtbar, gehören aber mit den Erschießungen von schwachen Zurückgebliebenen zu den bekannteren Episoden des Holocaust. Vielleicht verwendet Venecia auch deswegen weniger Zeit darauf.</p><p>Gleiches gilt für <strong>Kapitel 6</strong>, "<em>Mauthausen, Melk, and Ebensee</em>", das die letzten drei Lager beschreibt, in denen er dann ankommt. In Mauthausen wurde er zu Zwangsarbeit herangezogen. Die Geschichte ist voller Diebstähle unter den Gefangenen, dominiert stets von dem Versuch, irgendwie an etwas zu essen zu kommen. Am Ende gelang es den Gefangenen in Ebensee, ihre Ermordung durch die SS zu verhindern - vor allem, weil zu wenig Wachen da waren. Zu den letzten feigen Episoden dieser Bande gehört, dass sie sich auf die letzten Tage von nichts ahnenden Wehrmachtssoldaten ablösen ließen, die dann den Zorn der Amerikaner abbekommen würden.</p><p>Die Befreiung erlebten Venecia und seine verbliebenen Freunde und Familienmitglieder am Ende ihrer Kräfte. Sie waren immer noch in einem fast tiergleichen Zustand, plünderten die Amerikaner und die umliegenden Dörfer und versuchten, langsam wieder zu Kräften zu kommen. Über die Hälfte der Häftlinge starb in den Wochen nach der Befreiung, und Venecia selbst erkrankte schwer an Tuberkulose. Aus Furcht vor einem erneuten Holocaust nahm er nicht seinen alten Namen an, sondern ging als christlicher Italiener zurück. Es gelang ihm erst ein Jahrzehnt später, Kontakt zu seiner überlebenden Schwester aufzunehmen; kurz zuvor hatte er seinen Bruder bei dessen Emigration letztmalig getroffen. Erst in den 1990er Jahren begann Venecia über seine Erlebnisse zu sprechen und kehrte erstmals nach Auschwitz zurück. Motiviert wurde er vor allem von der Rückkehr des Rechtsextremismus (der kein allein deutsches Phänomen war). Er beschließt seine Schilderung mit der nüchternen Feststellung, dass er kein Glück in seinem Leben kennt. Stets kehren die Erinnerungen an Auschwitz zurück und belasten ihn.</p><p>Das <strong>letzte Kapitel</strong>, "<em>The Shoa, Auschwitz and the Sonderkommando</em>", entstammt nicht mehr Venecias Hand, sondern kommt als historischer Kommentar. Es legt quasi als Grundlage den Verlauf der Shoa dar, beginnend bei den Judenboykotten 1933 (über die die Behauptung postuliert wird, es habe kaum negative Reaktionen in In- und Ausland gegeben, wo genau diese dazu führten, dass die Nazis ihre Taktik änderten und solche Maßnahmen bis zur Reichspogromnacht 1938 nicht wiederholten). Die kommenden Jahre waren von rechtlicher Diskriminierung gekennzeichnet, die ihren Gipfel in den "Rassegesetzen" 1935 fand. Das Ziel war, die Juden zur Auswanderung zu treiben (was, worauf das Kapitel aber nicht eingeht, durch die gleichzeitige Ausplünderung natürlich konterkariert wurde).</p><p>Die Reichspogromnacht stellte eine erneute Verschärfung dar. Gleichzeitig begann eine Einweisung von Juden in Konzentrationslager, die zu diesem Zeitpunkt massiv ausgebaut wurden und ihren Charakter änderten (vorher dienten sie der Inhaftierung politischer Gegner). Dies betraf aber nur einzelne Gruppen, eine koordinierte Einweisung erfolgte erst im Krieg. Dieser markiert den Beginn der Massentötungen, vor allem ab 1941, zuerst in Erschießungskommandos und mit Gaswägen, dann zunehmend in spezialisierten Lagern. Die ersten Experimente fanden auch für die improvisierten Gaskammern (denen vor allem sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer fielen) mit CO2 statt, doch das für Definizierung benutzte Zyklon B löste dieses bald ab.</p><p>Das System der Konzentrationslager erfuhr eine zweifache Ergänzung. Einerseits wurden zahlreiche Außenlager errichtet, vor allem in Auschwitz, in denen körperlich fähige Gefangene zu Tode gearbeitet wurden, und andererseits die Vernichtungslager, die im Falle Birkenaus in die reguläre Lagerstruktur integriert waren und im Falle von Chelmo, Majdanek, Treblinka und Belczek letztlich nur aus dem Ende der Bahnstrecke und den Gaskammern mit Krematorium bestanden. Der Höhepunkt der Leistungsfähigkeit war 1944 erreicht und fand seinen grausigen Ausdruck in der Vernichtung von über 400.000 ungarischen Juden binnen weniger Wochen. Danach wurden die Lager und viele der Beweise vernichtet, als die Rote Armee näherrückte. Die Todesmärsche begannen. Auch die Arbeit der Sonderkommandos wird in dem Kapitel noch einmal erklärt.</p><p>---</p><p>Die Lektüre von Shlomo Venecias Erinnerungen ist, wie man sich vermutlich denken kann, nicht gerade leichte Kost. Es bietet Antworten auf Fragen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie hatte - und Venecia beantwortet diese auf eine ausführliche Art, die mich an Vladek Spiegelman erinnert - selbst die Diktion, die wenigstens in der englischen Übersetzung durchkommt, erinnert an ihn, obwohl die beiden aus völlig anderen Kulturkreisen kommen (polnische Juden vs. Sephardim), etwa im ständigen Einschub des "<em>anyway</em>". Wie Vladek Spiegelmanns Erzählung bleibt auch Shlomo Venecia eng an seinem eigenen Erleben; er weigert sich kategorisch, über Dinge zu sprechen, die er nicht aus eigener Anschauungn erlebt hat. Der Kosmos des Sonderkommandos war winzig; acht Monate im Krematorium und den Baracken darumherum. Trotzdem enthielten sie unvorstellbaren Horror, und dieser spiegelt sich in Venecias Antworten auf die Fragen, die ihm in dem Interviewformat gestellt werden. Ich fand mich immer wieder zustimmend nickend, wenn es um diese Fragen ging; ich hätte an denselben Stellen dieselben gestellt.</p><p>Da wäre zum Beispiel die Frage nach der Logistik der Gaskammern. Die Bilder, wie Menschen in den Keller steigen sind hinreichend bekannt, aber wie lange dieser Prozess dauerte und wie die SS die Kontrolle über die Todgeweihten behielt eher nicht. So ließ man Familien beieinander, nicht aus Menschlichkeit - die restlichen Prozesse und der ständige Sadismus bezeugen dies nachhaltig -, sondern weil das verhinderte, dass Flucht- oder Widerstandsgedanken entwickelt wurden. Das Hinuntersteigen, Entkleiden und Betreten der Gaskammer dauerte Stunden. Von dem Zeitpunkt, als die ersten Opfer die Kammer betraten, bis zum Verschließen derselben vergingen oft 60-90 Minuten - qualvolle Zeit, die durch die Prügel der SS und ihre psychologische Folter (die die Männer hauptsächlich aus Spaß durchführten) noch erhöht wurde. Da die Kammern so voll wie möglich gemacht wurden, wurden starke Männer zuletzt in die Kammern getrieben und so stark geprügelt, dass sie mit aller Macht hineindrängten - wodurch Kinder und Schwache bereits vor dem Gaseinwurf erquetscht und zu Tode getrampelt wurden.</p><p>Allzu stark hält sich auch noch der Irrglaube, dass der Tod in den Kammern relativ schnell vonstatten ging. Wie Venecia trocken feststellt, sind 10-12 Minuten des nach Luft Schnappens eine lange Zeit. Dazu die Panik, die Schreie, die Enge, die Dunkelheit - das Martyrium ist beinahe unvorstellbar, umso mehr, als dass es keine überlebenden Augenzeugen gibt. Die SS-Männer distanzierten sich in ihrer Feigheit maximal von diesem mörderischen Tun: die Klappe über dem Gaseinwurf wurde vom Sonderkommando geöffnet und geschlossen; nur den Einwurf selbst betätigte ein SS-Mann. Auch beim Herausholen der Leichen und Reinigen der Kammern ließ sich die SS kaum blicken. Die Sonderkommandos arbeiteten recht eigenständig, aber unter ständigem Performancedruck: schafften sie eine "Ladung" nicht innerhalb von 72 Stunden, liefen sie in Gefahr, selbst Teil der nächsten zu werden.</p><p>Da ist natürlich auch die Frage, ob die Sonderkommandos je eigene Verwandte vergasen mussten. Auch dieser Horror blieb ihnen nicht erspart. Venecia erzählt davon, wie sein Onkel Teil einer "Selektion" wurde. Er traf ihn im Ausziehraum der Gaskammer, ein ausgemergeltes Skelett, dem Tode nahe. Die einzig menschlichen Gesten, die ihm blieben, waren ihm einen letzten Bissen Essen zu geben und ihn über die Qual des bevorstehenden Todes zu belügen. Sie umarmten sich kurz, bevor sich die Tür der Gaskammer hinter Venecias Onkel schloss.</p><p>Venecia beantwortet auch ausführlich die Frage, inwieweit die Gefangenen ihr Schicksal ahnten. Üblicherweise tat die Desorientierung der Ankunftsprozedur ihren Dienst und sorgte dafür, dass die in Zügen ankommenden Menschen nicht ahnten, was ihnen bevorstand. Eine andere Sache war das bereits mit den Deportierten aus den Ghettos. Sie, die schon als halbe Leichen ankamen, hatten jede Illusion über den Charakter der Deutschen und ihr Schicksal verloren, ahnten durchaus, was ihnen bevorstand, waren aber psychisch und körperlich so am Ende, dass sie meist willenlos in den Tod stolperten. Am deutlichsten stand Insassen des Lagers selbst ihr Schicksal vor Augen. Wer in Birkenau inhaftiert war, wusste um die Kammern. Meist vergasten die Nazis Häftlinge, die krank waren und dadurch bereits so geschwächt, dass sie keine Chance auf Widerstand hatten (etwa Venecias Onkel), oder sie deportierten die Häftlinge in ein anderes Lager wie Majdanek, um den Effekt der Desorientierung wieder auszunutzen.</p><p>Gab es Solidarität unter den Gefangenen? Für Venecia ist die Frage letztlich ein Kategorienfehler. Solidarität gibt es, wenn man etwas zu essen hat. Wer hungert, lebt in vollständigem Egoismus. Die Beschreibung des nagenden Hungergefühls, das alles andere überschattet, ist mehr als eindrücklich. Die blanke Not verhinderte jede Solidarisierung, machte die Vorstellung eines Austauschs komplett undenkbar. Jede Minute des Tages war auf das eigene, unmittelbare Überleben gerichtet. Dass es den Kapos des Sonderkommandos unter diesen Bedingungen überhaupt gelang, über Monate einen so komplexen Aufstand zu koordinieren, ist absolut beeindruckend.</p><p>Unterhielten sich die Häftlinge untereinander? Praktisch gar nicht. Auch diese Erzählung Venecias deckt sich mit denen anderer Überlebender. Die Reduzierung der Menschen auf das pure Überleben, die permanente Erschöpfung, der nagende Hunger machten jedes Gespräch undenkbar. Sie unterhielten sich nicht einmal über ihre unmittelbare Arbeit und ihren Allltag. Es ist ein vollkommenes Auslöschen der Identität; die Metapher der "Roboter", die Venecia immer verwendet, hat auch hier ihren Ursprung. Auch über die Erlebnisse in den Lagern sprachen die Gefangenen kaum.</p><p>Die Haltung zum Reden über Auschwitz in den Jahren nach 1990 teilt Venecia ebenfalls mit anderen Überlebenden. Erste Versuche, nach dem Krieg über das Erlebte zu sprechen, scheiterten. Nicht an dem Unwillen der Überlebenden zu reden, sondern am Unwillen ihrer Umwelt, ihnen zuzuhören. Ihnen wurde vorgeworfen zu lügen, man hielt sie für verrückt, zweifelte ihre Worte an. Was mich so überrascht ist, dass das Verschließen gegenüber dem Thema, das Totschweigen, dann so lange hielt. Denn spätestens ab den Auschwitz-Prozessen oder doch wenigstens der Ausstrahlung von "Holocaust" 1979 drehte sich der Wind diesbezüglich ja. Aber die Augenzeug*innenberichte nahmen tatsächlich erst in den 1990er Jahren an Fahrt auf. Wie schrecklich musste es gewesen sein, nicht nur diesen Horror zu erleben sondern dann auch noch das Erlebte abgesprochen zu bekommen, oft genug von jenen, die Denunziant*innen oder aktive Täter*innen gewesen waren.</p><p>Ich schreibe in der Rezension immer wieder "die Nazis", aber es ist bemerkenswert, dass Venecia selbst in seinem Bericht immer von "die Deutschen" spricht. Man kann es ihm nicht verübeln. Die einzigen Deutschen, denen er in diesen Tagen begegnete, waren Wehrmachts- und SS-Angehörige, und sie alle waren ausnahmslos willige Partizipierende am Holocaust, in den meisten Fällen mit sadistischem Vergnügen. Dieser Sadismus ist etwas, der ebenfalls eine Hervorherbung verdient. Denn die gleiche Fehleinschätzung von der "deutschen Effizienz", einer angeblichen Kühle und technokratischen Distanziertheit, der die Opfer des Holocaust aufsaßen, teilen wir auch heute noch. Das Bild, das Venecia - und zahlreiche andere Überlebende - von den Tätern zeichnen ist kleiner, gewöhnlicher, banaler. Es sind trinkende, sadistische Gestalten. Keine Herrenrasse weit und breit.</p><p>Was das letzte Kapitel angeht sind die historischen Überblicksinformationen durchaus nützlich, doppeln sich aber stark mit den Erzählungen Venecias. Ich sehe, warum sie integriert wurden - Venecias intellektuelle Integrität, nur über seinen eigenen Erfahrungsbereich zu sprechen, lässt viele Details aus - aber gleichzeitig wäre hier eine bessere Anbindung an das Buch wünschenswert gewesen. Ich frage mich auch, ob das Kapitel vorzuschalten nicht besser gewesen wäre.</p><p>Das aber nimmt nichts von der eindrücklichen Qualität des Werkes. Venecias Schilderung ist von einer brutalen Intensität. Die Geschichten verfolgen mich teilweise immer noch, und die Details des Holocaust auf diese Art erzählt zu bekommen hilft einmal mehr, sich das Ausmaß und die ganze Brutalität, die furchtbare Entmenschlichung, vor Augen zu rufen. Der blanke Horror dieses Ereignisses geht allzu oft in einer ritualisierten, bereinigten Variante unter, weswegen gerade solcherlei Schilderungen so unglaublich notwendig sind. Ich spreche daher eine unbedingte Leseempfehlung aus.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-46947743402221246842024-01-02T06:30:00.002+01:002024-01-02T06:30:00.126+01:00Rezension: Shlomo Venecia - Inside the Gas Chambers. Eight Months in the Sonderkommando of Auschwitz (Teil 2)<p> </p><p><img alt="" height="1" src="https://vg04.met.vgwort.de/na/a7c69aac171e4cf2809c3d27abf445b8" width="1" xe4icks3a="" /><a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Sonderkimmando/dp/0745643841?_encoding=UTF8&qid=1702141867&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=5a0afbbf6ef64887f67ae6797b964f21&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Shlomo Venecia - Inside the Gas Chambers. Eight Months in the Sonderkommando of Auschwitz</a> (<a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Auschwitz/dp/B0BN6TSMZJ?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=2F1YIP8URFNKT&keywords=shlomo+venezia&qid=1702141867&sprefix=shlomo+veneci%2Caps%2C274&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=e3b8e123878947e7fd5131119d9342b8&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)</p><p>Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2023/12/rezension-shlomo-venecia-inside-the-gas-chambers-eight-months-in-the-sonderkommando-of-auschwitz-teil-1/">hier</a>.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Sonderkimmando/dp/0745643841?_encoding=UTF8&qid=1702141867&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=3dfc561ebf47c47653b297798d6cbd02&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=0745643841&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" /></a>Das <strong>letzte Kapitel</strong>, "<em>The Shoa, Auschwitz and the Sonderkommando</em>", entstammt nicht mehr Venecias Hand, sondern kommt als historischer Kommentar. Es legt quasi als Grundlage den Verlauf der Shoa dar, beginnend bei den Judenboykotten 1933 (über die die Behauptung postuliert wird, es habe kaum negative Reaktionen in In- und Ausland gegeben, wo genau diese dazu führten, dass die Nazis ihre Taktik änderten und solche Maßnahmen bis zur Reichspogromnacht 1938 nicht wiederholten). Die kommenden Jahre waren von rechtlicher Diskriminierung gekennzeichnet, die ihren Gipfel in den "Rassegesetzen" 1935 fand. Das Ziel war, die Juden zur Auswanderung zu treiben (was, worauf das Kapitel aber nicht eingeht, durch die gleichzeitige Ausplünderung natürlich konterkariert wurde).<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Auschwitz/dp/B0BN6TSMZJ?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=2F1YIP8URFNKT&keywords=shlomo+venezia&qid=1702141867&sprefix=shlomo+veneci%2Caps%2C274&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=8932e503611e005438aecadfe2e649c3&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" height="164" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=B0BN6TSMZJ&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" width="164" /></a>Die Reichspogromnacht stellte eine erneute Verschärfung dar. Gleichzeitig begann eine Einweisung von Juden in Konzentrationslager, die zu diesem Zeitpunkt massiv ausgebaut wurden und ihren Charakter änderten (vorher dienten sie der Inhaftierung politischer Gegner). Dies betraf aber nur einzelne Gruppen, eine koordinierte Einweisung erfolgte erst im Krieg. Dieser markiert den Beginn der Massentötungen, vor allem ab 1941, zuerst in Erschießungskommandos und mit Gaswägen, dann zunehmend in spezialisierten Lagern. Die ersten Experimente fanden auch für die improvisierten Gaskammern (denen vor allem sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer fielen) mit CO2 statt, doch das für Definizierung benutzte Zyklon B löste dieses bald ab.</p><p>Das System der Konzentrationslager erfuhr eine zweifache Ergänzung. Einerseits wurden zahlreiche Außenlager errichtet, vor allem in Auschwitz, in denen körperlich fähige Gefangene zu Tode gearbeitet wurden, und andererseits die Vernichtungslager, die im Falle Birkenaus in die reguläre Lagerstruktur integriert waren und im Falle von Chelmo, Majdanek, Treblinka und Belczek letztlich nur aus dem Ende der Bahnstrecke und den Gaskammern mit Krematorium bestanden. Der Höhepunkt der Leistungsfähigkeit war 1944 erreicht und fand seinen grausigen Ausdruck in der Vernichtung von über 400.000 ungarischen Juden binnen weniger Wochen. Danach wurden die Lager und viele der Beweise vernichtet, als die Rote Armee näherrückte. Die Todesmärsche begannen. Auch die Arbeit der Sonderkommandos wird in dem Kapitel noch einmal erklärt.</p><p>---</p><p>Die Lektüre von Shlomo Venecias Erinnerungen ist, wie man sich vermutlich denken kann, nicht gerade leichte Kost. Es bietet Antworten auf Fragen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie hatte - und Venecia beantwortet diese auf eine ausführliche Art, die mich an Vladek Spiegelman erinnert - selbst die Diktion, die wenigstens in der englischen Übersetzung durchkommt, erinnert an ihn, obwohl die beiden aus völlig anderen Kulturkreisen kommen (polnische Juden vs. Sephardim), etwa im ständigen Einschub des "<em>anyway</em>". Wie Vladek Spiegelmanns Erzählung bleibt auch Shlomo Venecia eng an seinem eigenen Erleben; er weigert sich kategorisch, über Dinge zu sprechen, die er nicht aus eigener Anschauungn erlebt hat. Der Kosmos des Sonderkommandos war winzig; acht Monate im Krematorium und den Baracken darumherum. Trotzdem enthielten sie unvorstellbaren Horror, und dieser spiegelt sich in Venecias Antworten auf die Fragen, die ihm in dem Interviewformat gestellt werden. Ich fand mich immer wieder zustimmend nickend, wenn es um diese Fragen ging; ich hätte an denselben Stellen dieselben gestellt.</p><p>Da wäre zum Beispiel die Frage nach der Logistik der Gaskammern. Die Bilder, wie Menschen in den Keller steigen sind hinreichend bekannt, aber wie lange dieser Prozess dauerte und wie die SS die Kontrolle über die Todgeweihten behielt eher nicht. So ließ man Familien beieinander, nicht aus Menschlichkeit - die restlichen Prozesse und der ständige Sadismus bezeugen dies nachhaltig -, sondern weil das verhinderte, dass Flucht- oder Widerstandsgedanken entwickelt wurden. Das Hinuntersteigen, Entkleiden und Betreten der Gaskammer dauerte Stunden. Von dem Zeitpunkt, als die ersten Opfer die Kammer betraten, bis zum Verschließen derselben vergingen oft 60-90 Minuten - qualvolle Zeit, die durch die Prügel der SS und ihre psychologische Folter (die die Männer hauptsächlich aus Spaß durchführten) noch erhöht wurde. Da die Kammern so voll wie möglich gemacht wurden, wurden starke Männer zuletzt in die Kammern getrieben und so stark geprügelt, dass sie mit aller Macht hineindrängten - wodurch Kinder und Schwache bereits vor dem Gaseinwurf erquetscht und zu Tode getrampelt wurden.</p><p>Allzu stark hält sich auch noch der Irrglaube, dass der Tod in den Kammern relativ schnell vonstatten ging. Wie Venecia trocken feststellt, sind 10-12 Minuten des nach Luft Schnappens eine lange Zeit. Dazu die Panik, die Schreie, die Enge, die Dunkelheit - das Martyrium ist beinahe unvorstellbar, umso mehr, als dass es keine überlebenden Augenzeugen gibt. Die SS-Männer distanzierten sich in ihrer Feigheit maximal von diesem mörderischen Tun: die Klappe über dem Gaseinwurf wurde vom Sonderkommando geöffnet und geschlossen; nur den Einwurf selbst betätigte ein SS-Mann. Auch beim Herausholen der Leichen und Reinigen der Kammern ließ sich die SS kaum blicken. Die Sonderkommandos arbeiteten recht eigenständig, aber unter ständigem Performancedruck: schafften sie eine "Ladung" nicht innerhalb von 72 Stunden, liefen sie in Gefahr, selbst Teil der nächsten zu werden.</p><p>Da ist natürlich auch die Frage, ob die Sonderkommandos je eigene Verwandte vergasen mussten. Auch dieser Horror blieb ihnen nicht erspart. Venecia erzählt davon, wie sein Onkel Teil einer "Selektion" wurde. Er traf ihn im Ausziehraum der Gaskammer, ein ausgemergeltes Skelett, dem Tode nahe. Die einzig menschlichen Gesten, die ihm blieben, waren ihm einen letzten Bissen Essen zu geben und ihn über die Qual des bevorstehenden Todes zu belügen. Sie umarmten sich kurz, bevor sich die Tür der Gaskammer hinter Venecias Onkel schloss.</p><p>Venecia beantwortet auch ausführlich die Frage, inwieweit die Gefangenen ihr Schicksal ahnten. Üblicherweise tat die Desorientierung der Ankunftsprozedur ihren Dienst und sorgte dafür, dass die in Zügen ankommenden Menschen nicht ahnten, was ihnen bevorstand. Eine andere Sache war das bereits mit den Deportierten aus den Ghettos. Sie, die schon als halbe Leichen ankamen, hatten jede Illusion über den Charakter der Deutschen und ihr Schicksal verloren, ahnten durchaus, was ihnen bevorstand, waren aber psychisch und körperlich so am Ende, dass sie meist willenlos in den Tod stolperten. Am deutlichsten stand Insassen des Lagers selbst ihr Schicksal vor Augen. Wer in Birkenau inhaftiert war, wusste um die Kammern. Meist vergasten die Nazis Häftlinge, die krank waren und dadurch bereits so geschwächt, dass sie keine Chance auf Widerstand hatten (etwa Venecias Onkel), oder sie deportierten die Häftlinge in ein anderes Lager wie Majdanek, um den Effekt der Desorientierung wieder auszunutzen.</p><p>Gab es Solidarität unter den Gefangenen? Für Venecia ist die Frage letztlich ein Kategorienfehler. Solidarität gibt es, wenn man etwas zu essen hat. Wer hungert, lebt in vollständigem Egoismus. Die Beschreibung des nagenden Hungergefühls, das alles andere überschattet, ist mehr als eindrücklich. Die blanke Not verhinderte jede Solidarisierung, machte die Vorstellung eines Austauschs komplett undenkbar. Jede Minute des Tages war auf das eigene, unmittelbare Überleben gerichtet. Dass es den Kapos des Sonderkommandos unter diesen Bedingungen überhaupt gelang, über Monate einen so komplexen Aufstand zu koordinieren, ist absolut beeindruckend.</p><p>Unterhielten sich die Häftlinge untereinander? Praktisch gar nicht. Auch diese Erzählung Venecias deckt sich mit denen anderer Überlebender. Die Reduzierung der Menschen auf das pure Überleben, die permanente Erschöpfung, der nagende Hunger machten jedes Gespräch undenkbar. Sie unterhielten sich nicht einmal über ihre unmittelbare Arbeit und ihren Allltag. Es ist ein vollkommenes Auslöschen der Identität; die Metapher der "Roboter", die Venecia immer verwendet, hat auch hier ihren Ursprung. Auch über die Erlebnisse in den Lagern sprachen die Gefangenen kaum.</p><p>Die Haltung zum Reden über Auschwitz in den Jahren nach 1990 teilt Venecia ebenfalls mit anderen Überlebenden. Erste Versuche, nach dem Krieg über das Erlebte zu sprechen, scheiterten. Nicht an dem Unwillen der Überlebenden zu reden, sondern am Unwillen ihrer Umwelt, ihnen zuzuhören. Ihnen wurde vorgeworfen zu lügen, man hielt sie für verrückt, zweifelte ihre Worte an. Was mich so überrascht ist, dass das Verschließen gegenüber dem Thema, das Totschweigen, dann so lange hielt. Denn spätestens ab den Auschwitz-Prozessen oder doch wenigstens der Ausstrahlung von "Holocaust" 1979 drehte sich der Wind diesbezüglich ja. Aber die Augenzeug*innenberichte nahmen tatsächlich erst in den 1990er Jahren an Fahrt auf. Wie schrecklich musste es gewesen sein, nicht nur diesen Horror zu erleben sondern dann auch noch das Erlebte abgesprochen zu bekommen, oft genug von jenen, die Denunziant*innen oder aktive Täter*innen gewesen waren.</p><p>Ich schreibe in der Rezension immer wieder "die Nazis", aber es ist bemerkenswert, dass Venecia selbst in seinem Bericht immer von "die Deutschen" spricht. Man kann es ihm nicht verübeln. Die einzigen Deutschen, denen er in diesen Tagen begegnete, waren Wehrmachts- und SS-Angehörige, und sie alle waren ausnahmslos willige Partizipierende am Holocaust, in den meisten Fällen mit sadistischem Vergnügen. Dieser Sadismus ist etwas, der ebenfalls eine Hervorherbung verdient. Denn die gleiche Fehleinschätzung von der "deutschen Effizienz", einer angeblichen Kühle und technokratischen Distanziertheit, der die Opfer des Holocaust aufsaßen, teilen wir auch heute noch. Das Bild, das Venecia - und zahlreiche andere Überlebende - von den Tätern zeichnen ist kleiner, gewöhnlicher, banaler. Es sind trinkende, sadistische Gestalten. Keine Herrenrasse weit und breit.</p><p>Was das letzte Kapitel angeht sind die historischen Überblicksinformationen durchaus nützlich, doppeln sich aber stark mit den Erzählungen Venecias. Ich sehe, warum sie integriert wurden - Venecias intellektuelle Integrität, nur über seinen eigenen Erfahrungsbereich zu sprechen, lässt viele Details aus - aber gleichzeitig wäre hier eine bessere Anbindung an das Buch wünschenswert gewesen. Ich frage mich auch, ob das Kapitel vorzuschalten nicht besser gewesen wäre.</p><p>Das aber nimmt nichts von der eindrücklichen Qualität des Werkes. Venecias Schilderung ist von einer brutalen Intensität. Die Geschichten verfolgen mich teilweise immer noch, und die Details des Holocaust auf diese Art erzählt zu bekommen hilft einmal mehr, sich das Ausmaß und die ganze Brutalität, die furchtbare Entmenschlichung, vor Augen zu rufen. Der blanke Horror dieses Ereignisses geht allzu oft in einer ritualisierten, bereinigten Variante unter, weswegen gerade solcherlei Schilderungen so unglaublich notwendig sind. Ich spreche daher eine unbedingte Leseempfehlung aus.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-47526447109167119442023-12-29T06:30:00.001+01:002023-12-29T06:30:00.135+01:00Rezension: Shlomo Venecia - Inside the Gas Chambers. Eight Months in the Sonderkommando of Auschwitz (Teil 1)<p> </p><p><img alt="" height="1" src="https://vg04.met.vgwort.de/na/f002f820e3fa410c86d23978b3e66c67" width="1" wppj3ajxx="" /><a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Sonderkimmando/dp/0745643841?_encoding=UTF8&qid=1702141867&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=5a0afbbf6ef64887f67ae6797b964f21&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Shlomo Venecia - Inside the Gas Chambers. Eight Months in the Sonderkommando of Auschwitz</a> (<a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Auschwitz/dp/B0BN6TSMZJ?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=2F1YIP8URFNKT&keywords=shlomo+venezia&qid=1702141867&sprefix=shlomo+veneci%2Caps%2C274&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=e3b8e123878947e7fd5131119d9342b8&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)</p><p><a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Sonderkimmando/dp/0745643841?_encoding=UTF8&qid=1702141867&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=3dfc561ebf47c47653b297798d6cbd02&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=0745643841&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" /></a>Der Holocaust gehört zu den historischen Ereignissen, die man wohl als die am weitesten bekannte und theoretisch best erforschte betrachten dürfte. Trotzdem ist das Wissen über den industriellen Massenmord an den Juden Europas erstaunlich dünn und oberflächlich, was selbst eigentlich versierten Menschen immer wieder klar wird, wenn sie sich den Details des grausigen Geschehens stellen. Angesichts der steigenden Zahlen von Holocaust-Relativierung und Holocaust-Leugnung ist gerade diese Auseinandersetzung immer wieder geboten, und aus historischer Perspektive schon alleine deswegen interessant, weil das Geschehen des singulären Ereignisses meist nur abstrakt bekannt ist. Sechs Millionen tote Juden - eine, wie das Vorwort feststellt, eher konservative Schätzung - sind eine Statistik. Weder die Schicksale dahinter noch die Abläufe des Massenmords werden dahinter sichtbar. Ein Mosaikstein dieser Abläufe ist die Arbeit der Sonderkommandos, der jüdischen Arbeiter, die die Drecksarbeit erledigten. Shlomo Venecia, italienisch-stämmiger Jude aus Griechenland, ist einer der wenigen Überlebenden der Sonderkommandos. Dieses Buch erzählt seine Geschichte. <span></span></p><a name='more'></a><img alt="" border="0" height="1" src="https://ir-de.amazon-adsystem.com/e/ir?t=httpgeschicht-21&language=de_DE&l=li3&o=3&a=0745643841" style="border: none !important; margin: 0px !important;" width="1" wppj3ajxx="" /><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Inside-Gas-Chambers-Sonderkommando-Auschwitz/dp/B0BN6TSMZJ?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=2F1YIP8URFNKT&keywords=shlomo+venezia&qid=1702141867&sprefix=shlomo+veneci%2Caps%2C274&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=8932e503611e005438aecadfe2e649c3&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" height="164" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=B0BN6TSMZJ&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" width="164" /></a>Venecia beginnt seine Erzählung in <strong>Kapitel 1</strong>, "<em>Life before the Holocaust</em>", in dem er sein Leben in Saloniki und Athen vor 1943 bespricht. Der 1923 geborene Shlomo war nach dem frühen Tod seines Vaters 1935, eines stolzen Faschisten, mitverantwortlich für die Ernährung seiner in bitterer Armut lebenden Familie, eine Erfahrung, die ihn prägte ("<em>poor people have stronger characters</em>"). Saloniki war ein Zentrum jüdischen Lebens; das jüdische Viertel war zu 90% jüdisch. Die meisten Juden dort waren bettelarm, aber es gab eine schmale, sehr wohlhabende Oberschicht (mit der Shlomo nichts zu tun hatte). Die italienische Staatsbürgerschaft beschützte die Familie Venecia bis zur Kapitulation Italiens 1943. Einer der letzten Akte der den Juden gewogenen italienischen Besatzer war es, ihnen ein Evakuierungsschiff bereitzustellen, das sie entweder nach Athen oder Sizilien bringen sollte. Die jüdische Oberschicht entschied im Alleingang für Athen, um ihre Unternehmen und ihren Wohlstand zu schützen - eine tödliche Entscheidung. <img alt="" border="0" height="1" src="https://ir-de.amazon-adsystem.com/e/ir?t=httpgeschicht-21&language=de_DE&l=li3&o=3&a=B0BN6TSMZJ" style="border: none !important; margin: 0px !important;" width="1" wppj3ajxx="" /></p><p>Zwar entging Shlomo einigen Deportationen, doch schließlich erwischten die Nazis ihn, indem sie den Juden eine Falle stellten: da sie sich täglich melden mussten, nutzten sie eine solche Meldung, um alle sich meldenden Juden gefangenzusetzen. Sie wurden dann in einen Zug gesetzt. Das Rote Kreuz versorgte die zusammengepferchten Menschen mit einigen Hilfspaketen und Decken (die Nazis erzwangen die Abgabe einiger dieser Pakete), was die Frage aufwirft, inwiefern das Rote Kreuz letztlich zu unfreiwilligen Helfenden des Holocaust wurde. Die Menschen konnten die elftägige Fahrt nur dank dieser Pakete überleben, und selbst dann verhungerten, verdurstete und erfroren etliche in den Viehwaggons. Shlomo und seine Cousins wollten aus dem Zug flüchten, wurden jedoch von den anderen Gefangenen zurückgehalten, die befürchteten, bei Ankunft als Repressalie erschossen zu werden. Auch hier werden bereits moralische Grautöne sichtbar, die sich im weiteren Verlauf verdichten werden.</p><p><strong>Kapitel 2</strong>, "<em>The first month in Auschwitz-Birkenau</em>", beginnt mit der Ankunft an der "Rampe" in Auschwitz. Die ausgeklügelte Taktik der Nazis wird erneut offenbar: die ankommenden Menschen werden durch grelle Scheinwerfer, künstliche Hektik und infernalische Lärmkulisse desorientiert, so dass an Flucht oder Widerstand nicht zu denken ist. Venecia kann sich deswegen auch nicht an die genauen Wege erinnern, die sie nahmen, als sie nach Birkenau geschickt wurden, wo eine oberflächliche Selektion stattfand. Am nächsten Tag erfuhr er, dass seine Mutter und Schwester bereits vergast worden waren - nicht, dass er es glauben würde. Generell ist die Ungläubigkeit ein Leitmotiv der Erzählungen Überlebender: warum sollten die Nazis diesen Aufwand betreiben, nur um sie umzubringen? Es machte einfach keinen Sinn.</p><p>In der Quarantänebaracke hungerten die Gefangenen und lebten in Langeweile, den Erniedrigungen und Prügeln der Wachen und Kapos ausgesetzt, die sich aus nicht-jüdischen Gefangenen rekrutierten und ihre Macht über Leben und Tod genossen. Venecia nutzte die erste Chance, eine Arbeit im Lager zu bekommen (und dadurch bessere Verpflegung). Was er nicht wusste und wissen konnte war, dass er für das Sonderkommando rekrutiert wurde.</p><p>In <strong>Kapitel 3</strong>, "<em>Sonderkommando: Initiation</em>", wird Venecia in die Arbeit mit den Sonderkommandos eingeführt. Zu Beginn muss er nur Unkraut an den Krematorien jäten, doch schon bald wird ihm bewusst, was hier passiert. Durch die Überlastung der Anlagen werden Gefangene auch in einer Behelfsbaracke ("Bunker") vergast, und das Sonderkommando muss die Toten durch den Schlamm in einen Graben schleppen, wo sie aufeinandergeschichtet und verbrannt werden. Die widerlichen Details dieser Arbeit und der Sadismus der SS-Wachen machen das Geschäft noch schlimmer, als es die Tätigkeit ohnehin ist. Venecia hat insofern Glück, als dass er den vergleichsweise leichten Job hat, den Leichen die Haare abzuschneiden und sie in Säcke zu verpacken. Ein anderer Gefangener muss die Goldzähne herausbrechen, was angesichts der schnell einsetzenden Leichenstarre erfordert, dass er die Kiefer aufstemmt.</p><p>Die Leichenstarre machte auch das Herausholen der Leichen aus den Gaskammern extrem schwierig. Die Kammern waren ohnehin voll von Blut, Exkrementen, Erbrochenem und anderen Flüssigkeiten, so dass die ohne Werkzeug arbeitenden Männer es schwer hatten, die hoffnungslos miteinander verwickelten Leichen auseinander und in den Aufzug zum Krematorium zu ziehen. Danach mussten sie die Kammer säubern und neu weißeln, damit die nächsten Ankömmlinge nichts bemerkten.</p><p>Eine gewisse Routine stellte sich ein, wie bereits der Titel von <strong>Kapitel 4</strong>, "<em>Sonderkommando: the work continues</em>", lakonisch feststellt. Die Männer schalteten ihren Verstand fast vollkommen ab; immer wieder nutzt Venecia die Metapher von Robotern, und stellten nicht die Frage nach der Moral ihres Tuns. Ein Zug Neuankömmlinge musste innerhalb von 72 Stunden komplett beseitigt sein. Die grausigen Details der Arbeit - so mussten Knochen wie das Hüftgelenk, die nicht verbrannten, aus der Asche geholt und zermahlen werden - werden zu einem Alltagsrauschen, und es sagt viel über das Morden, dass permanent Horrorszenen aus diesem bereits unvorstellbaren Horror hervorstechen.</p><p>Besonders nennenswert ist der Kommandant aller Krematorien, Otto Moll, der besonders sadistisch ist und vor dem selbst die SS-Wachen in Furcht leben. Wo immer er auftaucht, arbeiten die Männer noch mehr um ihr Leben als ohnehin (Moll wurde glücklicherweise 1945 zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet, anders als andere namentlich identifizierte SS-Wächter). Die Opfer von Mengeles Experimenten zu beseitigen hinterließ ebenfalls über den Alltagshorror hinausreichende Eindrücke. Einmal überlebte ein zwei Monate altes Baby die Gaskammer; ein SS-Soldat erschoss es ohne mit der Wimper zu zucken. Überhaupt ist der Sadismus der SS-Leute ein konstantes Thema. Sie versuchten absichtlich, die letzten Stunden der Todgeweihten so schrecklich wie möglich zu machen, indem sie etwa in der Gaskammer das Licht willkürlich an- und ausschalteten.</p><p>Ein einschneidendes Ereignis findet in <strong>Kapitel 5</strong>, "<em>The revolt of the Sonderkomamndo and the dismantling of the Crematoria</em>", seine Berücksichtigung. Die Revolte vom Oktober war mit dem polnischen Widerstand koordiniert, dessen Ziele aber konträr zu denen der Häftlinge liefen. Die Polen wollten möglichst viel Ressourcen aus dem Lager, um Waffen zu kaufen, und möglichst lange zu warten, um die Hilfe der Roten Armee zu bekommen, während die Häftlinge so früh wie möglich losschlagen wollten. Die Verzögerungen zogen sich über zehn Monate, und dass es den Sonderkommandos gelang, trotz der üblicherweise im Drei-Monats-Takt stattfindenden Ermordungen des Kommandos und der Ersetzung durch neue Häftlinge die Logistik und Planung intakt zu halten, ist ein kleines Wunder.</p><p>Dies funktionierte über seltene Kontakte ins Frauenlager, über die Pulver zu den Krematorien geschmuggelt wurde (die Frauen stellten Munition her). Die (jüdischen) Kapos des Sonderkommandos schafften es, einen Kern von Leuten intakt zu halten, der Planung und Durchführung übernahm. Das Ziel war theoretisch die Flucht, aber vor allem ging es darum, irgendetwas zu tun. Praktisch niemand rechnete mit einem ernsthaften Erfolg (die Parallele zum 20. Juli ist in meinen Augen offenkundig). Der Aufstand scheiterte natürlich. Überzeugt, verraten worden zu sein, begannen die Männer einem Krematorium früher als vereinbart. Ein weiteres schloss sich an. Als Venecias Krematorium vom Aufstand erfuhr, war dieser bereits weitgehend unterdrückt, so dass es sich nie beteiligte. Das rettete dem Sonderkommando das Leben. Die SS tötete die Männer, die das voll erwarteten, nicht, sondern behielt sie für die die restliche Arbeit.</p><p>Im Folgenden wurde Venecia hauptsächlich dafür eingesetzt, die Krematorien Stück für Stück auseinanderzunehmen. Die Arbeit war lang und gründlich und gehörte zu dem großen Versuch der Nazis, ihre Verbrechen zu verheimlichen. Danach begann der Todesmarsch: in langen Reihen wurden die überlebenden Häftlinge durch den Winter gejagt. Venecia konnte diesem Marsch überhaupt nur beitreten, weil es ihm gelang, aus dem Sonderkommando zu flüchten; die SS hatte vorgehabt, es zu liquidieren. Aber dafür waren die Männer inzwischen zu erfahren. Die Strapazen des Marsches ohne Unterkunft und Nahrung waren furchtbar, gehören aber mit den Erschießungen von schwachen Zurückgebliebenen zu den bekannteren Episoden des Holocaust. Vielleicht verwendet Venecia auch deswegen weniger Zeit darauf.</p><p>Gleiches gilt für <strong>Kapitel 6</strong>, "<em>Mauthausen, Melk, and Ebensee</em>", das die letzten drei Lager beschreibt, in denen er dann ankommt. In Mauthausen wurde er zu Zwangsarbeit herangezogen. Die Geschichte ist voller Diebstähle unter den Gefangenen, dominiert stets von dem Versuch, irgendwie an etwas zu essen zu kommen. Am Ende gelang es den Gefangenen in Ebensee, ihre Ermordung durch die SS zu verhindern - vor allem, weil zu wenig Wachen da waren. Zu den letzten feigen Episoden dieser Bande gehört, dass sie sich auf die letzten Tage von nichts ahnenden Wehrmachtssoldaten ablösen ließen, die dann den Zorn der Amerikaner abbekommen würden.</p><p>Die Befreiung erlebten Venecia und seine verbliebenen Freunde und Familienmitglieder am Ende ihrer Kräfte. Sie waren immer noch in einem fast tiergleichen Zustand, plünderten die Amerikaner und die umliegenden Dörfer und versuchten, langsam wieder zu Kräften zu kommen. Über die Hälfte der Häftlinge starb in den Wochen nach der Befreiung, und Venecia selbst erkrankte schwer an Tuberkulose. Aus Furcht vor einem erneuten Holocaust nahm er nicht seinen alten Namen an, sondern ging als christlicher Italiener zurück. Es gelang ihm erst ein Jahrzehnt später, Kontakt zu seiner überlebenden Schwester aufzunehmen; kurz zuvor hatte er seinen Bruder bei dessen Emigration letztmalig getroffen. Erst in den 1990er Jahren begann Venecia über seine Erlebnisse zu sprechen und kehrte erstmals nach Auschwitz zurück. Motiviert wurde er vor allem von der Rückkehr des Rechtsextremismus (der kein allein deutsches Phänomen war). Er beschließt seine Schilderung mit der nüchternen Feststellung, dass er kein Glück in seinem Leben kennt. Stets kehren die Erinnerungen an Auschwitz zurück und belasten ihn.</p><p>Das <strong>letzte Kapitel</strong>, "<em>The Shoa, Auschwitz and the Sonderkommando</em>", entstammt nicht mehr Venecias Hand, sondern kommt als historischer Kommentar. Es legt quasi als Grundlage den Verlauf der Shoa dar, beginnend bei den Judenboykotten 1933 (über die die Behauptung postuliert wird, es habe kaum negative Reaktionen in In- und Ausland gegeben, wo genau diese dazu führten, dass die Nazis ihre Taktik änderten und solche Maßnahmen bis zur Reichspogromnacht 1938 nicht wiederholten). Die kommenden Jahre waren von rechtlicher Diskriminierung gekennzeichnet, die ihren Gipfel in den "Rassegesetzen" 1935 fand. Das Ziel war, die Juden zur Auswanderung zu treiben (was, worauf das Kapitel aber nicht eingeht, durch die gleichzeitige Ausplünderung natürlich konterkariert wurde).</p><p>Die Reichspogromnacht stellte eine erneute Verschärfung dar. Gleichzeitig begann eine Einweisung von Juden in Konzentrationslager, die zu diesem Zeitpunkt massiv ausgebaut wurden und ihren Charakter änderten (vorher dienten sie der Inhaftierung politischer Gegner). Dies betraf aber nur einzelne Gruppen, eine koordinierte Einweisung erfolgte erst im Krieg. Dieser markiert den Beginn der Massentötungen, vor allem ab 1941, zuerst in Erschießungskommandos und mit Gaswägen, dann zunehmend in spezialisierten Lagern. Die ersten Experimente fanden auch für die improvisierten Gaskammern (denen vor allem sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer fielen) mit CO2 statt, doch das für Definizierung benutzte Zyklon B löste dieses bald ab.</p><p>Das System der Konzentrationslager erfuhr eine zweifache Ergänzung. Einerseits wurden zahlreiche Außenlager errichtet, vor allem in Auschwitz, in denen körperlich fähige Gefangene zu Tode gearbeitet wurden, und andererseits die Vernichtungslager, die im Falle Birkenaus in die reguläre Lagerstruktur integriert waren und im Falle von Chelmo, Majdanek, Treblinka und Belczek letztlich nur aus dem Ende der Bahnstrecke und den Gaskammern mit Krematorium bestanden. Der Höhepunkt der Leistungsfähigkeit war 1944 erreicht und fand seinen grausigen Ausdruck in der Vernichtung von über 400.000 ungarischen Juden binnen weniger Wochen. Danach wurden die Lager und viele der Beweise vernichtet, als die Rote Armee näherrückte. Die Todesmärsche begannen. Auch die Arbeit der Sonderkommandos wird in dem Kapitel noch einmal erklärt.</p><p>---</p><p>Die Lektüre von Shlomo Venecias Erinnerungen ist, wie man sich vermutlich denken kann, nicht gerade leichte Kost. Es bietet Antworten auf Fragen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie hatte - und Venecia beantwortet diese auf eine ausführliche Art, die mich an Vladek Spiegelman erinnert - selbst die Diktion, die wenigstens in der englischen Übersetzung durchkommt, erinnert an ihn, obwohl die beiden aus völlig anderen Kulturkreisen kommen (polnische Juden vs. Sephardim), etwa im ständigen Einschub des "<em>anyway</em>". Wie Vladek Spiegelmanns Erzählung bleibt auch Shlomo Venecia eng an seinem eigenen Erleben; er weigert sich kategorisch, über Dinge zu sprechen, die er nicht aus eigener Anschauungn erlebt hat. Der Kosmos des Sonderkommandos war winzig; acht Monate im Krematorium und den Baracken darumherum. Trotzdem enthielten sie unvorstellbaren Horror, und dieser spiegelt sich in Venecias Antworten auf die Fragen, die ihm in dem Interviewformat gestellt werden. Ich fand mich immer wieder zustimmend nickend, wenn es um diese Fragen ging; ich hätte an denselben Stellen dieselben gestellt.</p><p>Da wäre zum Beispiel die Frage nach der Logistik der Gaskammern. Die Bilder, wie Menschen in den Keller steigen sind hinreichend bekannt, aber wie lange dieser Prozess dauerte und wie die SS die Kontrolle über die Todgeweihten behielt eher nicht. So ließ man Familien beieinander, nicht aus Menschlichkeit - die restlichen Prozesse und der ständige Sadismus bezeugen dies nachhaltig -, sondern weil das verhinderte, dass Flucht- oder Widerstandsgedanken entwickelt wurden. Das Hinuntersteigen, Entkleiden und Betreten der Gaskammer dauerte Stunden. Von dem Zeitpunkt, als die ersten Opfer die Kammer betraten, bis zum Verschließen derselben vergingen oft 60-90 Minuten - qualvolle Zeit, die durch die Prügel der SS und ihre psychologische Folter (die die Männer hauptsächlich aus Spaß durchführten) noch erhöht wurde. Da die Kammern so voll wie möglich gemacht wurden, wurden starke Männer zuletzt in die Kammern getrieben und so stark geprügelt, dass sie mit aller Macht hineindrängten - wodurch Kinder und Schwache bereits vor dem Gaseinwurf erquetscht und zu Tode getrampelt wurden.</p><p>Allzu stark hält sich auch noch der Irrglaube, dass der Tod in den Kammern relativ schnell vonstatten ging. Wie Venecia trocken feststellt, sind 10-12 Minuten des nach Luft Schnappens eine lange Zeit. Dazu die Panik, die Schreie, die Enge, die Dunkelheit - das Martyrium ist beinahe unvorstellbar, umso mehr, als dass es keine überlebenden Augenzeugen gibt. Die SS-Männer distanzierten sich in ihrer Feigheit maximal von diesem mörderischen Tun: die Klappe über dem Gaseinwurf wurde vom Sonderkommando geöffnet und geschlossen; nur den Einwurf selbst betätigte ein SS-Mann. Auch beim Herausholen der Leichen und Reinigen der Kammern ließ sich die SS kaum blicken. Die Sonderkommandos arbeiteten recht eigenständig, aber unter ständigem Performancedruck: schafften sie eine "Ladung" nicht innerhalb von 72 Stunden, liefen sie in Gefahr, selbst Teil der nächsten zu werden.</p><p>Da ist natürlich auch die Frage, ob die Sonderkommandos je eigene Verwandte vergasen mussten. Auch dieser Horror blieb ihnen nicht erspart. Venecia erzählt davon, wie sein Onkel Teil einer "Selektion" wurde. Er traf ihn im Ausziehraum der Gaskammer, ein ausgemergeltes Skelett, dem Tode nahe. Die einzig menschlichen Gesten, die ihm blieben, waren ihm einen letzten Bissen Essen zu geben und ihn über die Qual des bevorstehenden Todes zu belügen. Sie umarmten sich kurz, bevor sich die Tür der Gaskammer hinter Venecias Onkel schloss.</p><p>Venecia beantwortet auch ausführlich die Frage, inwieweit die Gefangenen ihr Schicksal ahnten. Üblicherweise tat die Desorientierung der Ankunftsprozedur ihren Dienst und sorgte dafür, dass die in Zügen ankommenden Menschen nicht ahnten, was ihnen bevorstand. Eine andere Sache war das bereits mit den Deportierten aus den Ghettos. Sie, die schon als halbe Leichen ankamen, hatten jede Illusion über den Charakter der Deutschen und ihr Schicksal verloren, ahnten durchaus, was ihnen bevorstand, waren aber psychisch und körperlich so am Ende, dass sie meist willenlos in den Tod stolperten. Am deutlichsten stand Insassen des Lagers selbst ihr Schicksal vor Augen. Wer in Birkenau inhaftiert war, wusste um die Kammern. Meist vergasten die Nazis Häftlinge, die krank waren und dadurch bereits so geschwächt, dass sie keine Chance auf Widerstand hatten (etwa Venecias Onkel), oder sie deportierten die Häftlinge in ein anderes Lager wie Majdanek, um den Effekt der Desorientierung wieder auszunutzen.</p><p>Gab es Solidarität unter den Gefangenen? Für Venecia ist die Frage letztlich ein Kategorienfehler. Solidarität gibt es, wenn man etwas zu essen hat. Wer hungert, lebt in vollständigem Egoismus. Die Beschreibung des nagenden Hungergefühls, das alles andere überschattet, ist mehr als eindrücklich. Die blanke Not verhinderte jede Solidarisierung, machte die Vorstellung eines Austauschs komplett undenkbar. Jede Minute des Tages war auf das eigene, unmittelbare Überleben gerichtet. Dass es den Kapos des Sonderkommandos unter diesen Bedingungen überhaupt gelang, über Monate einen so komplexen Aufstand zu koordinieren, ist absolut beeindruckend.</p><p>Unterhielten sich die Häftlinge untereinander? Praktisch gar nicht. Auch diese Erzählung Venecias deckt sich mit denen anderer Überlebender. Die Reduzierung der Menschen auf das pure Überleben, die permanente Erschöpfung, der nagende Hunger machten jedes Gespräch undenkbar. Sie unterhielten sich nicht einmal über ihre unmittelbare Arbeit und ihren Allltag. Es ist ein vollkommenes Auslöschen der Identität; die Metapher der "Roboter", die Venecia immer verwendet, hat auch hier ihren Ursprung. Auch über die Erlebnisse in den Lagern sprachen die Gefangenen kaum.</p><p>Die Haltung zum Reden über Auschwitz in den Jahren nach 1990 teilt Venecia ebenfalls mit anderen Überlebenden. Erste Versuche, nach dem Krieg über das Erlebte zu sprechen, scheiterten. Nicht an dem Unwillen der Überlebenden zu reden, sondern am Unwillen ihrer Umwelt, ihnen zuzuhören. Ihnen wurde vorgeworfen zu lügen, man hielt sie für verrückt, zweifelte ihre Worte an. Was mich so überrascht ist, dass das Verschließen gegenüber dem Thema, das Totschweigen, dann so lange hielt. Denn spätestens ab den Auschwitz-Prozessen oder doch wenigstens der Ausstrahlung von "Holocaust" 1979 drehte sich der Wind diesbezüglich ja. Aber die Augenzeug*innenberichte nahmen tatsächlich erst in den 1990er Jahren an Fahrt auf. Wie schrecklich musste es gewesen sein, nicht nur diesen Horror zu erleben sondern dann auch noch das Erlebte abgesprochen zu bekommen, oft genug von jenen, die Denunziant*innen oder aktive Täter*innen gewesen waren.</p><p>Ich schreibe in der Rezension immer wieder "die Nazis", aber es ist bemerkenswert, dass Venecia selbst in seinem Bericht immer von "die Deutschen" spricht. Man kann es ihm nicht verübeln. Die einzigen Deutschen, denen er in diesen Tagen begegnete, waren Wehrmachts- und SS-Angehörige, und sie alle waren ausnahmslos willige Partizipierende am Holocaust, in den meisten Fällen mit sadistischem Vergnügen. Dieser Sadismus ist etwas, der ebenfalls eine Hervorherbung verdient. Denn die gleiche Fehleinschätzung von der "deutschen Effizienz", einer angeblichen Kühle und technokratischen Distanziertheit, der die Opfer des Holocaust aufsaßen, teilen wir auch heute noch. Das Bild, das Venecia - und zahlreiche andere Überlebende - von den Tätern zeichnen ist kleiner, gewöhnlicher, banaler. Es sind trinkende, sadistische Gestalten. Keine Herrenrasse weit und breit.</p><p>Was das letzte Kapitel angeht sind die historischen Überblicksinformationen durchaus nützlich, doppeln sich aber stark mit den Erzählungen Venecias. Ich sehe, warum sie integriert wurden - Venecias intellektuelle Integrität, nur über seinen eigenen Erfahrungsbereich zu sprechen, lässt viele Details aus - aber gleichzeitig wäre hier eine bessere Anbindung an das Buch wünschenswert gewesen. Ich frage mich auch, ob das Kapitel vorzuschalten nicht besser gewesen wäre.</p><p>Das aber nimmt nichts von der eindrücklichen Qualität des Werkes. Venecias Schilderung ist von einer brutalen Intensität. Die Geschichten verfolgen mich teilweise immer noch, und die Details des Holocaust auf diese Art erzählt zu bekommen hilft einmal mehr, sich das Ausmaß und die ganze Brutalität, die furchtbare Entmenschlichung, vor Augen zu rufen. Der blanke Horror dieses Ereignisses geht allzu oft in einer ritualisierten, bereinigten Variante unter, weswegen gerade solcherlei Schilderungen so unglaublich notwendig sind. Ich spreche daher eine unbedingte Leseempfehlung aus.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-33861310755272740692023-12-15T08:26:00.001+01:002023-12-15T08:26:00.131+01:00Rezension: Eleanor Janega - The Once and Future Sex: Going Medieval on Women's Roles in Society<p> </p><p><img alt="" height="1" hsvqli2oo="" src="https://vg07.met.vgwort.de/na/72638a631e7841448ed907388945135c" width="1" /></p><p class="a-size-large a-spacing-none" id="title"><span id="productTitle"><a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/1324074469?_encoding=UTF8&qid=1699422251&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=45e520682829fbd0134d3c02533eec6f&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Eleanor Janega - The Once and Future Sex: Going Medieval on Women's Roles in Society</a> (<a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/B0BRL91R8M?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=I2ASPAND3FK9&keywords=once+and+future+sex&qid=1699422251&sprefix=once+and+future+sex%2Caps%2C177&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=e62bc15f2a18adf53c0d1589fce175c2&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)<br /></span></p><p><a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/1324074469?_encoding=UTF8&qid=1699422251&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=b747be4568dd84628c89f012fdf43ee7&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=1324074469&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" /></a>"Zustände wie im Mittelalter" ist ein geflügeltes Wort, um vage rückständige und unattraktive Zustände zu beschreiben. Dabei wissen wir sehr wenig über diese Epoche und arbeiten oft mit Klischees, die Autoren aus der Renaissance und der Neuzeit prägten, um ihre eigene Zeit in strahlenderem Licht erscheinen zu lassen. Eleanor Janega hat es sich bereits seit Längerem zur Aufgabe gemacht, Fehlvorstellungen über das Mittelalter zu korrigieren. Auf ihrem Blog "<a href="https://going-medieval.com/">Going Medieval</a>" veröffentlicht sie immer wieder solche Betrachtungen. Nun liegt ein Buch von ihr vor, in dem sie die Rollenbilder von Frauen im Mittelalter untersucht - ihre ideengeschichtlichen Ursprünge, die Schönheitsideale, Sexualität, Arbeitswelt und natürlich die Frage, warum uns das alles heute überhaupt noch interessieren sollte. <span></span></p><a name='more'></a> <img alt="" border="0" height="1" hsvqli2oo="" src="https://ir-de.amazon-adsystem.com/e/ir?t=httpgeschicht-21&language=de_DE&l=li3&o=3&a=1324074469" style="border: none !important; margin: 0px !important;" width="1" /><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/B0BRL91R8M?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=I2ASPAND3FK9&keywords=once+and+future+sex&qid=1699422251&sprefix=once+and+future+sex%2Caps%2C177&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=a5b3703da0907a51b074d4d407e3197f&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" height="172" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=B0BRL91R8M&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" width="172" /></a>In <strong>Kapitel 1</strong>, "<em>Back to Basics</em>", beginnt Janega mit der Darstellung der Rolle der antiken Autoren. Diese galten im Mittelalter wie auch in der Renaissance als unbestechliche Autoritäten, weil sie alt waren - und je länger etwas her war, desto näher war e san biblischen Zeiten, desto näher war es an Gott, und desto richtiger musste es also sein. So galt Hippokrates als unbedingte erste Autorität in der Frage der Unterscheidung von Männern und Frauen. Die seinerzeit unhinterfragte Vier-Säfte-Lehre, nach der jeder Mensch vier "Säfte" im Körper habe, deren Austarierung seine Gesundheit und sein Gemüt beeinflusse, diente auch der Herausstellung von Unterschieden zwischen Mann und Frau. Für Hippokrates stellte der Frauenkörper ein unkennbares Mysterium dar, da sich in ihm Prozesse abspielten, die von der Wissenschaft (in Gesellschaften, die Anatomie tabuisierten) völlig unnachvollziehbar waren. Klar war für Hippokrates allerdings, dass der Frauenkörper gegenüber dem männlichen defizitär sein musste.</p><p>Diese Idee wurde von Platon weiter ausgeführt, der gleichzeitig als erster überlieferter Kritiker des männlichen Penises auftrat. Allerdings betrachtete er ihn vor weiblichem Uterus als deutlich überlegen, weil er anders als dieser beseelt sei: der männliche Samen war das entscheidende Element der Fortpflanzung, das aktiv in die Frau gebracht wurde, die diesen nur passiv empfing. Die Vier-Säfte-Lehre zu Platons Zeit betrachtete Frauen zudem als "feucht" und "kalt", Männer als "trocken" und "heiß". Das war relevant, weil die Hitze der Männer überschüssige und schlechte Säfte verbrannte (und sie gleichzeitig aggressiv machte, ein mit ihrer "natürlichen" Dominanz einhergehender Nachteil), während die kühle Feuchtigkeit der Frauen dafür sorgte, dass schlechte Säfte durch die Menstruation ausgeschieden werden mussten und Frauen grundsätzlich weniger zurechnungsfähig waren als Männer, weil ihr Säftehaushalt viel mehr in Unordnung war.</p><p>Aristoteles als geschätztester Autor des Mittelalters (es hilft, eine eigene Schule zu begründen, die das eigene Werk jahrhundertelang reproduziert) brachte den Schlussstein in diese Analyse des weiblichen Körpers mit der Überzeugung ein, dass der Uterus im Körper umherwandere und dadurch für Probleme sorge; einzig durch eine Schwangerschaft werde "fixiert", wodurch Frauen dann temporär halbwegs vernünftig würden.</p><p>Die antiken Autoren wurden im Mittelalter viel rezipiert, geradezu geheiligt. Auch die wenigen Frauen mit Zugang zu Bildung wie Hildegard von Bingen studierten sie, kamen dabei aber zu eigenen Ergebnissen (die vor allem versuchten, die weiterhin unhinterfragte Analyse der antiken Vordenker ins Positive zu wenden); der geringe Stand weiblicher Bildung habe aber einen "Dialog mit dem Patriarchat" verhindert.</p><p>In <strong>Kapitel 2</strong>, "<em>How to look</em>", werden mittelalterliche Schönheitsideale behandelt. Auffällig ist, dass die Schönheitsideale der Antike weitgehend unbekannt sind. Antike Autoren beschrieben zwar Frauen gerne generisch als schön, machten aber selten genaue Angaben, worin diese Schönheit eigentlich bestehen würde. In der mittelalterlichen Rezeption spielte daher vor allem das Ideal der Helena von Troja, das "Gesicht, das tausend Schiffe sandte", eine große Rolle. Da ihr Aussehen aber auch unbekannt war, wurde sie mit den Schönheitsidealen des Mittelalters belegt.</p><p>Für die Menschen des Mittelalters galt eine Kongruenz von Schönheit und Macht beziehungsweise Status: schöne Frauen sind reich und mächtig und umgekehrt. Eine Königin etwa war per Definition schön, weil sie es sein musste: Herrschaft bedingte dies schlicht. Umgekehrt konnten gewöhnliche Frauen niemals schön sein, egal welche Attribute sie ansonsten auch aufwiesen. Dies zeigt sich bereits an den Schönheitsidealen des mittelalterlichen Gesichts. Die schöne Frau hatte graue Augen, weiße Haut und Zähne (die sich entgegen dem Klischee dank mangelnder die Zähne angreifender Nahrungsmittel durch Zähne putzen tatsächlich erreichen ließen), blonde Haare, hohe Stirn, volle Lippen und schwarze Augenbrauen. Dieses Ideal war reichlich spezifisch und offensichtlich europäisch geprägt; zudem war es nur durch solche Frauen zu erreichen, die nicht den Elementen ausgesetzt waren, die weiße Haut schnell verunmöglichen.</p><p>Auch mittelalterliche Beschreibung des restlichen Körpers sind, wie mittelalterliche Literatur generell, stark formalisiert. Es ist gewissermaßen ein Malen nach Zahlen, dem praktisch alle Autoren folgen und das den (literarischen) Blick von oben nach unten gleiten lässt: Von den Haaren zur Stirn und den Augenbrauen zu den Augen, der Nase und den Lippen, den Wangen, dem Hals über die Schultern, Arme und Hände, von dort zu den Brüsten, der Taille und dem Bauch, ehe Beine und Füße den Abschluss bildeten. Dabei wiederholte sich immer das gleiche Muster: weiße und weiche (!) Haut (wie sie nur wohlhabende Fraue haben konnten), kleine und runde Brüste (ganz im Gegensatz zu unserem heutigen Ideal; diese ließen sich nur durch den Einsatz von Ammen erreichen, so dass wohlhabende Frauen ihre Brüste schnell abbinden konnten, damit diese nicht durch Säugen größer wurden), kleine Füße (äußerst unpraktisch bei jeglicher Arbeit), dicker Bauch (ebenfalls in deutlichem Gegensatz zu heute), dicke Schenkel - es ist offenkundig, dass diesen Merkmalen nur reiche Frauen entsprechen konnten.</p><p>Diese Ideale finden sich auch in zahlreichen bildliche Darstellungen, vor allem in solchen der biblischen Eva. Das erlaubte es den Künstlern auch, nackte Frauen zu zeichnen. Die Ubiquität dieser Darstellungen muss auf Kirchenbesucher einen erotisierenden Effekt gehabt haben; die Bilderstürmerei der Protestanten jedenfalls wurde von ihnen explizit damit begründet, dass Männer in der Kirche ständig sexuell erregt würden.</p><p>Dem mittelalterlichen Schönheitsideal war aber auch Sauberkeit sehr wichtig. Das Klischee ist ja, dass die Menschen ständig schmutzig waren. Das allerdings ist nicht korrekt, vielmehr gehörte tägliches Waschen genau wie heute zum Alltag. Nur konnten allein reiche Frauen diese Sauberkeit einigermaßen über den Tag retten. Sauber zu sein galt als rein und nahe am göttlichen Zustand.</p><p>All diese Schönheitsideale mussten aber unbedingt auf "natürliche" Weise erreicht werden. Frauen durften keinesfalls wirken, als würden sie sich um ihre Schönheit kümmern; eine Aura der Ignoranz gegenüber dem Thema gehörte zum guten Ton. Makeup oder Färben der Haare war generell des Teufels und eine große Sünde, wie an der biblischen Geschichte von Jezebel deutlich wird, die weniger wegen ihres Mordens, sondern wegen ihres Eyeliners unter die großen Sünderinnen der Apokalypse eingereiht wurde. Nur minimal weniger verächtlich war Parfüm, das nur so erlaubt war, dass es ausschließlich der eigene Ehemann riechen konnte (um so andere nicht in Versuchung zu führen). Körperbehaarung indessen galt als Ausdruck von zu viel Körpersäften und Unreinheit, weswegen sie geradezu verwerflich waren. Gleichzeitig galt aber - Natürlichkeit, wir erinnern uns - ein hartes Verbot, sie auszuzupfen oder zu rasieren.</p><p>Bei der Kleidung bestand ein Dilemma. Sie waren einerseits Statusmarker des Adels, mit dem sie sich auch von reichen Bürgersfrauen abheben konnten (und waren daher zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung notwendig), andererseits war aber das Tragen schöner Kleidung zur Darstellung von Schönheit sündig. Die Kleidungsverbote hatten so die wichtige Funktion, wohlhabenden gewöhnlichen Frauen zu verunmöglichen, die Schönheitsstandards des Adels zu erreichen (und die selbsterfüllende Prophezeiung von reich/mächtig=schön damit Wirklichkeit werden zu lassen).</p><p>Es ist offensichtlich, dass damals wie heute die Schönheitsideale extrem heuchlerisch waren, weil sie Frauen für das Verfehlen eines Standards bestraften, ihn zu erreichen aber verboten.</p><p><strong>Kapitel 3</strong>, "<em>How to love</em>", befasst sich mit Sex. Erneut beginnt Janega in der Ideengeschichte. Schließlich mussten die mittelalterlichen Autoren die Nacktheit Adams und Evas (vor allem Letzterer), die sie so gerne zeichneten, irgendwie erklären und einordnen. In der mittelalterlichen Theologie hatten Adam und Eva zwar Sex, empfanden dabei aber keine Lust - es war eine körperliche Funktion, die sie an- und ausschalten konnten wie alle anderen auch, weswegen sie auch keine Scham empfanden. Das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis sorgte also dafür, dass sie Lust empfanden (und Scham), was ihren Ausschluss aus dem "reinen" Paradies bedeutete.</p><p>Sex war für Menschen im Mittelalter daher grundsätzlich in Ordnung, so er denn der Fortpflanzung diente und im Sakrament der Ehe eingehegt war. Dieses war anfangs auch noch kein Hinderungsgrund für das Priesteramt; erst ab 1123 wurde ein "hartes" Zölibat eingeführt, das auch vor der Priesterweihe verheirateten Menschen dieselbe verwehrte. Damit einher ging eine zunehmende Betonung der Enthalsamkeit als erstrebsamem Ideal: wer seine Reinheit dadurch bewahrte, keinen Sex zu haben, war besonders nahe an Gott. Alle anderen mussten notgedrungen kopulieren, um den Erhalt der Menschheit sicher zu stellen, was Gott in seiner Weisheit so gefügt hatte.</p><p>Für die Durchführung war ausschließlich die Missionarsstellung geeignet, da sie männlich dominant war und die "natürliche" Ordnung der Dinge wiederspiegelte. Jede andere Haltung war sündig, etwa der Doggy-Style, über dessen Sündigkeit sich die mittelalterlichen Quellen in erklecklichem Detail ausließen. Noch sündiger waren sexuelle Handlungen, die in keiner Fortpflanzung resultieren konnten; von Petting über Küsse zu Onanieren und Reiben und Oralsex war alles verboten und wurde unter dem Catch-all-Begriff der "Sodomie" gefasst.</p><p>Für die Theologen galten Frauen anders als Männer auch als besonders lustvoll, weil ihre Säfte und ihr kalter Zustand sie nach der trockenen Hitze des Samens dursten ließen und dieser Durst nie gestillt werden könne; anders als Männer seien sie außerdem schlicht zu dumm, den sexuellen Akt in seiner gottgewollten Glorie zu begreifen und blieben wie Kinder immer passiv und auf der Suche nach mehr. Sie würden quasi als "faules" Element zu dem "reinen" Element des Penis gezogen. Der Sexualakt ging in der mittelalterlichen Vorstellung also von den unersättlichen Frauen aus.</p><p>Dem Orgasmus kam dabei eine überraschend wichtige Rolle zu, weil in der Überzeugung der Zeitgenoss*innen galt, dass ohne ihn keine Empfängnis möglich sei. Anders als etwa in der Antike mussten BEIDE Partner Lust empfinden und zum Höhepunkt kommen. Es war die Aufgabe des Mannes, ihn zu empfinden (also selbst fähig zu sein) und ihn bei der Frau herbeizuführen, und zwar ausschließlich vaginal (weil alles andere ja bedeuten würde, dass Sex auch Spaß macht, und das war wiederum supekt). Bevor man sich aber zu sehr über dieses scheinbar progressive Element freut: es hatte den nicht unerheblichen Nachteil, dass man davon ausging, dass Vergewaltigungen oder Prostitution ohne Schwangerschaft ausgingen, wenn Frauen es nicht genießen würden - und da wir heute wissen, wie die Natur funktioniert, können wir uns die Folgen dieses Irrtums sehr gut ausmalen.</p><p>Ein Organ, das die Denker des Mittelalters nachhaltig verwirrte und faszinierte, war die Klitoris. Da Gott ja unmöglich etwas geschaffen haben konnte, das ausschließlich der Freude an der Sexualität diente, es aber keine erkennbare Funktion hatte, gab es den Menschen Rätsel auf. Ihre Stimulierung während des Vaginalverkehrs war zwar grundsätzlich etwas anrüchig (weil der Mann die Frau nicht aus eigener Penis-Vollkommenheit zum Orgasmus bringen konnte), aber erlaubt. Da sie ebenfalls mit Blut gefüllt und gehärtet werden konnte, einigte man sich schließlich darauf, sie als weibliches Gegenstück zum Penis zu sehen, was angesichts des Größenunterschieds (für gewöhnlich, wie Janega trocken hinzufügt) Sinn zu machen schien.</p><p>Auch zum Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrts hatte das Mittelalter Antworten. Während der Menstruation oder der Schwangerschaft Sex zu haben war absolut verwerflich, weil keine Schwangerschaft resultieren konnte. Zudem war klar, dass während der Menstruation eine enorme Gefahr bestand, sich dabei Lepra holen, die gefürchtetste Krankheit des Mittelalters, die natürlich aus einem Ungleichgewicht der Säfte resultierte (das während der Menstruation am höchsten war) und in Frauen entstand (natürlich) und daher beim Sexualakt übertragen werden konnte. Prostituierte waren dagegen immun, sofern sie nicht verbotenerweise Spaß am Sex gehabt hatten; eine leprakranke Prostituierte war also eindeutig überführt. Außerdem verpönt war Sex an Mittwoch oder Freitag, abgeraten wurde vom Samstag, damit man sich auf den heiligen und selbstverständlich sexfreien Sonntag vorbereiten konnte. Wenn dann alle Sterne richtig standen, wurde der Geschlechtsakt weitgehend bekleidet und in völliger Dunkelheit durchgeführt, damit man möglichst wenig voneinander sah (und andere auch; Privatsphäre war im Mittelalter nur wenigen zugänglich).</p><p>All diese Regeln bedeuteten übrigens auch, dass Frauen in den Wechseljahren in höchstem Maße suspekt waren, weil ihre Säfte nicht mehr abfließen konnten. Man sagte ihnen nach, dass die auflaufenden Gifte ausreichten, dass sie mit einem Blick töten konnten. Sex mit einer Frau in den Wechseljahren war in höchstem Maße unnatürlich und hochgradig gefährlich.</p><p>In <strong>Kapitel 4</strong>, "<em>How to be</em>", beschäftigt sich Janega dann mit der Rolle der Arbeit. Frauen arbeiteten viel: ihre ihnen zugeschriebenen Rollen als Mutter und Hausfrau bedeuteten auch im Mittelalter schwere Arbeit, und damals wie heute war diese Arbeit unsichtbar und wenig als solche anerkannt. Das Machen und Halten des Feuers, Zubereiten von Nahrung, Waschen, Organisieren des Haushalts und vieles mehr war absolut erschöpfendes Tagwerk - das aber, ebenfalls damals wie heute, nur ergänzend zu anderer Arbeit in allen möglichen Berufen stand, denn Janega macht von Beginn an klar, dass die Trennung von häuslicher und beruflicher Sphäre eine Erfindung der bürgerlichen Neuzeit ist.</p><p>Wenig überraschend arbeiteten die allermeisten Frauen als Bäuerinnen, weil die meisten Menschen der Zeit in der Landwirtschaft tätig waren. Sie arbeiteten hier neben Aussaat, Einbringung und Ernte vor allem mit den kleineren Tieren wie Hühnern (da diese geringeres Prestige besaßen als die großen Tiere, mit denen die Männer arbeiteten). Grundsätzlich konnten sie genauso wie Männer erben, allerdings nur, wenn keine männlichen Erben verfügbar waren. Dies führte dazu, dass etwa ein Viertel der Höfe in weiblichem Besitz war (häufig von verwitweten Frauen) und auch eigenständig verwaltetet wurde. Es ist generell spannend, dass Frauen im Mittelalter durchaus eigenen Besitz hatten, der vom Mann losgelöst war; dazu gehörte auch die Aussteuer, die im Falle einer Trennung (üblicherweise durch Tod des Mannes) auch an die Frau zurückfiel.</p><p>Neben der Landwirtschaft arbeiteten Frauen aber auch in den meisten anderen Berufen, meist neben ihren Männern, die diesen Beruf ausübten (und ausgebildet von ihren Eltern, die ihn bereits auch erlernt hatten; Heiraten fanden meist innerhalb desselben Berufsstands statt). Sie konnten als Witwen und Erbinnen auch in die Zünfte gelangen, wo sie als passiv gleichberechtigte Mitglieder wirken konnten - jedenfalls bis zur Heirat, von welchem Zeitpunkt an diese Rechte an den Ehemann übergingen. Dies machte solcherart ausgestattete Frauen zu ungemein attraktiven Partnerinnen und erstklassigen Kandidatinnen auf dem Heiratsmarkt, ein Vehikel des sozialen Aufstiegs.</p><p>Einige Berufe waren besonders weiblich geprägt. Dazu gehörten etwa die Bräuerinnen, die Bier herstellten. Dieses war das alkoholische Getränk der Masse (Wein war ein Elitengetränk) und damals noch kaum haltbar, so dass beständig neues gebraut werden musste. In den Brauereien das Wasser zu kochen und zu schleppen war eine typische Frauenarbeit, die auch recht gefährlich war und zu furchtbaren Unfällen führen konnte. Der Textilbereich war gleichfalls eine weibliche Domäne; das allgegenwärtige Spinnen wurde vor allem in Hausarbeit erledigt. Zudem waren Frauen in allen Arten von Dienstberufen überrepräsentiert, die natürlich ein entsprechend geringes Prestige hatten. In der Medizin arbeiteten Frauen vor allem als Hebammen und in Hilfspositionen, da ihnen das medizinische Studium ebenso wie die entsprechenden Ausbildungshänge verwehrt waren.</p><p>Ein größerer Abschnitt ist der Sexarbeit gewidmet. Sie war als normal akzeptierte Arbeit gesehen und nicht illegal oder grundsätzlich anrüchig, weil man ihre Notwendigkeit anerkannte (für unverheiratete Männer die einzige Möglichkeit, ihre überschüssige Hitze abzubauen und die Körpersäfte im Gleichgewicht zu halten). Trotz des gesetzlichen Schutzes, den sie anders als in anderen Epochen genossen, waren die Prostituierten aber sozial ausgegrenzt, da Sexualität außerhalb der Ehe grundsätzlich suspekt war und mussten sich durch spezifische Kleidung ausweisen. Die Normalität des Gewerbes zeigt sich aber darin, dass immer wieder Frauen in den Beruf gezwungen werden konnten, weil die Rechtsprechung ihn als normale Tätigkeit klassifizierte. Der Ausstieg aus der Prostitution war gängig und geschah vor allem durch Buße, welche üblicherweise in einer Heirat bestand. Männern wurde für das sozial erwünschte Heiraten der Prostituierten oft weltliche und geistliche Vergünstigung gewährt, da die Frauen dadurch wieder unter die ebenso gesellschaftlich erwünschte Kontrolle der Männer kamen - unabhängige Frauen mit eigenem Einkommen waren den Zeitgenossen höchst suspekt.</p><p>Auch viel religiöse Arbeit wurde von Frauen geleistet. Hier waren reiche Frauen überrepräsentiert, da eigentlich nur ihnen die Klöster offenstanden (wegen der hohen Eintrittskosten). Sie waren dort allerdings klar auf untergeordnete Rollen festgelegt; Frauen waren keine eigenständigen Theologinnen, da dies als gefährlich gesehen wurde. Sie seien schlicht zu zu dumm, um Häresie erkennen zu können, und waren deswegen dafür besonders anfällig.</p><p>Die uns bekannteste Frauenarbeit ist die als Herrscherinnen. Adelige Frauen arbeiteteten auch, outsourceten aber schwere körperliche Arbeit an Bedienstete. Stattdessen waren sie viel mit Verwaltung und Diplomatie beschäftigt. Als "<em>Ladies in Waiting</em>", die höhergestellte Adelige umgaben und für diese Botendienste, Beratung und Vermittlung übernahmen, konnten sie auch recht alt sein - Herrscherinnen brauchten auch erfahrene Gehilfinnen und wollten sensible Themen nicht unbedingt 17jährigen Teenagerinnen anvertrauen. Am arbeitsreichsten war der "Job" der Königin, der zusätzlich die entscheidende Rolle zukam, dem König gesichtswahrende Revision zu erlauben, indem sie öffentlich für irgendjemanden bat und so dem König erlaubte, vorherige übereilte Entscheidungen zurückzunehmen.</p><p>Ab Abschluss steht <strong>Kapitel 5</strong>, "<em>Why it matters</em>". Die Frage, warum die Beschäftigung mit dem Mittelalter heute noch irgendwie relevant ist, wabert in dem Bereich ja immer mit, und Janega nennt das relevanteste Argument auch gleich zuerst: weil es dem Erkenntnisgewinn dient und spannend ist. Nicht alle geschichtliche Forschung muss unmittelbar für uns relevant sein. Aber Janega ist natürlich auch der Überzeugung, dass sehr wohl große Relevanz für uns heute bestehe.</p><p>Die Ideen von der Unterlegenheit der Frau wurden schließlich von der Antike über das Mittelalter bis in Neuzeit hinein immer wieder übernommen und rezipiert. Wir stehen bis heute, auch wenn wir es uns häufig nicht bewusst machen, in dieser Tradition. Ebenfalls bis heute ein Dauerschema ist die Unsichtbarkeit von Frauen, besonders im Beruf. Frauenarbeit wird systematisch geringgeschätzt und ignoriert, ob es sich um Haus- und Carearbeit dreht oder um Berufe, die überwiegend weiblich geprägt sind. Ihr Prestige ist immer geringer als das von männlichen Berufen.</p><p>Die untergeordnete Stellung von Frauen ist ebenfalls eine, die sich lange über das Mittelalter hinaus erhalten hat. Zwar änderten sich die Rechtfertigungen dafür - anstatt eine gottgewollte Ordnung anzunehmen, begannen die Aufklärer, natürlich-biologische Gründe für die Unterlegenheit von Frauen zu suchen, eine Tendenz, die sich bis heute in der Vorstellung findet, Frauen neigten "natürlicherweise" zu schlecht bezahlten Berufen und Hausarbeit. Aber das grundsätzliche Schema blieb bestehen.</p><p>Ebenfalls relevant ist die Wandelbarkeit von Schönheitsidealen. Wer auch immer behauptet, dass Attraktivitätsmerkmale irgendwie biologisch determiniert seien, kann sich durch das Mittelalter eines Besseren belehrt sehen. Schönheitsideale sind sozial konstruiert und unterliegen einem permanenten Wandel, und es sei immer wieder sinnvoll, sich dies vor Augen zu führen. Dasselbe gelte für die Rolle der Sexualität. Das in diesem Zusammenhang wohl wichtigste Element des Buchs ist die Erkenntnis, dass im Mittelalter den Frauen unersättliche Lust zugeschrieben wurde, während die Männer eigentlich gar kein großes Interesse an Sex hätten. Heute wird das genaue Gegenteil behauptet und die Theorie verbreitet, dass Frauen natürlich monogam und eher wenig an Sex interessiert seien, während Männer gerne als unersättliche Sexmonster, die sich kaum unter Kontrolle haben, dargestellt werden. In beiden Fällen wird jeweils die natürliche Ordnung der Dinge bemüht, um die Ideologie zu verbrämen.</p><p>---</p><p>Ich empfand die Lektüre des Buchs insgesamt als vergnüglich. Seine überschaubare Länge und vor allem Janegas flotter Schreibstil mit einer feinen, trockenen Ironie, der es immer gelingt, die Balance zu halten und weder in die leider verbreitete Arroganz der Nachgeborenen über die Vergangenheit abzurutschen noch in einen predigenden Tonfall zu verfallen, sondern die Erkenntnisse der Forschung in einer nachvollziehbaren und cleveren Struktur aufzubereiten, tragen maßgeblich zum Lesevergnügen bei. Einzig im letzten Kapitel ist etwas Kritik angebracht, denn hier beginnt die intellektuelle Konsistenz etwas zugunsten Janegas progressiver Agenda ins Wanken zu geraten.</p><p>Ob Kontinuität oder Bruch mit mittelalterlichen Ideen, irgendwie zeigt uns alles, dass Frauen heute immer noch in einer problematischen Situation sind, was irgendwie manchmal aufs Mittelalter zurückzuführen ist und manchmal auch nicht, was entweder das Reaktionäre dieser Ideen heute zeigt oder dass das Mittelalter eigentlich viel weiter war, als es das Klischee üblicherweise vermuten lässt - ich empfand das letzte Kapitel als reichlich inkohärent, und das Buch wäre vermutlich besser bedient gewesen, hätte Janega es weggelassen und das Ziehen von Schlussfolgerungen den Lesenden überlassen. Aber es ist ein kurzes Kapitel, weswegen das nicht allzu negativ ins Gewicht fällt, und die intellektuelle Ehrlichkeit des Rests ist überzeugend genug.</p><p><img alt="" border="0" height="1" hsvqli2oo="" src="https://ir-de.amazon-adsystem.com/e/ir?t=httpgeschicht-21&language=de_DE&l=li3&o=3&a=B0BRL91R8M" style="border: none !important; margin: 0px !important;" width="1" /></p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-44382804453569844102023-12-11T08:24:00.002+01:002023-12-11T08:24:00.146+01:00Rezension: Eleanor Janega - The Once and Future Sex: Going Medieval on Women's Roles in Society (Teil 2)<p> </p><p><img alt="" height="1" n3egm3o15="" src="https://vg06.met.vgwort.de/na/afc5e79858174febae65c0cba3cfba4a" width="1" /></p><p><span id="productTitle"><a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/1324074469?_encoding=UTF8&qid=1699422251&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=45e520682829fbd0134d3c02533eec6f&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Eleanor Janega - The Once and Future Sex: Going Medieval on Women's Roles in Society</a> (<a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/B0BRL91R8M?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=I2ASPAND3FK9&keywords=once+and+future+sex&qid=1699422251&sprefix=once+and+future+sex%2Caps%2C177&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=e62bc15f2a18adf53c0d1589fce175c2&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)</span></p><p>Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2023/12/rezension-eleanor-janega-the-once-and-future-sex-going-medieval-on-womens-roles-in-society-teil-1/">hier</a>.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/1324074469?_encoding=UTF8&qid=1699422251&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=b747be4568dd84628c89f012fdf43ee7&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=1324074469&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" /></a>Dem Orgasmus kam dabei eine überraschend wichtige Rolle zu, weil in der Überzeugung der Zeitgenoss*innen galt, dass ohne ihn keine Empfängnis möglich sei. Anders als etwa in der Antike mussten BEIDE Partner Lust empfinden und zum Höhepunkt kommen. Es war die Aufgabe des Mannes, ihn zu empfinden (also selbst fähig zu sein) und ihn bei der Frau herbeizuführen, und zwar ausschließlich vaginal (weil alles andere ja bedeuten würde, dass Sex auch Spaß macht, und das war wiederum supekt). Bevor man sich aber zu sehr über dieses scheinbar progressive Element freut: es hatte den nicht unerheblichen Nachteil, dass man davon ausging, dass Vergewaltigungen oder Prostitution ohne Schwangerschaft ausgingen, wenn Frauen es nicht genießen würden - und da wir heute wissen, wie die Natur funktioniert, können wir uns die Folgen dieses Irrtums sehr gut ausmalen.<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/B0BRL91R8M?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=I2ASPAND3FK9&keywords=once+and+future+sex&qid=1699422251&sprefix=once+and+future+sex%2Caps%2C177&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=a5b3703da0907a51b074d4d407e3197f&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" height="172" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=B0BRL91R8M&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" width="172" /></a>Ein Organ, das die Denker des Mittelalters nachhaltig verwirrte und faszinierte, war die Klitoris. Da Gott ja unmöglich etwas geschaffen haben konnte, das ausschließlich der Freude an der Sexualität diente, es aber keine erkennbare Funktion hatte, gab es den Menschen Rätsel auf. Ihre Stimulierung während des Vaginalverkehrs war zwar grundsätzlich etwas anrüchig (weil der Mann die Frau nicht aus eigener Penis-Vollkommenheit zum Orgasmus bringen konnte), aber erlaubt. Da sie ebenfalls mit Blut gefüllt und gehärtet werden konnte, einigte man sich schließlich darauf, sie als weibliches Gegenstück zum Penis zu sehen, was angesichts des Größenunterschieds (für gewöhnlich, wie Janega trocken hinzufügt) Sinn zu machen schien.</p><p>Auch zum Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrts hatte das Mittelalter Antworten. Während der Menstruation oder der Schwangerschaft Sex zu haben war absolut verwerflich, weil keine Schwangerschaft resultieren konnte. Zudem war klar, dass während der Menstruation eine enorme Gefahr bestand, sich dabei Lepra holen, die gefürchtetste Krankheit des Mittelalters, die natürlich aus einem Ungleichgewicht der Säfte resultierte (das während der Menstruation am höchsten war) und in Frauen entstand (natürlich) und daher beim Sexualakt übertragen werden konnte. Prostituierte waren dagegen immun, sofern sie nicht verbotenerweise Spaß am Sex gehabt hatten; eine leprakranke Prostituierte war also eindeutig überführt. Außerdem verpönt war Sex an Mittwoch oder Freitag, abgeraten wurde vom Samstag, damit man sich auf den heiligen und selbstverständlich sexfreien Sonntag vorbereiten konnte. Wenn dann alle Sterne richtig standen, wurde der Geschlechtsakt weitgehend bekleidet und in völliger Dunkelheit durchgeführt, damit man möglichst wenig voneinander sah (und andere auch; Privatsphäre war im Mittelalter nur wenigen zugänglich).</p><p>All diese Regeln bedeuteten übrigens auch, dass Frauen in den Wechseljahren in höchstem Maße suspekt waren, weil ihre Säfte nicht mehr abfließen konnten. Man sagte ihnen nach, dass die auflaufenden Gifte ausreichten, dass sie mit einem Blick töten konnten. Sex mit einer Frau in den Wechseljahren war in höchstem Maße unnatürlich und hochgradig gefährlich.</p><p>In <strong>Kapitel 4</strong>, "<em>How to be</em>", beschäftigt sich Janega dann mit der Rolle der Arbeit. Frauen arbeiteten viel: ihre ihnen zugeschriebenen Rollen als Mutter und Hausfrau bedeuteten auch im Mittelalter schwere Arbeit, und damals wie heute war diese Arbeit unsichtbar und wenig als solche anerkannt. Das Machen und Halten des Feuers, Zubereiten von Nahrung, Waschen, Organisieren des Haushalts und vieles mehr war absolut erschöpfendes Tagwerk - das aber, ebenfalls damals wie heute, nur ergänzend zu anderer Arbeit in allen möglichen Berufen stand, denn Janega macht von Beginn an klar, dass die Trennung von häuslicher und beruflicher Sphäre eine Erfindung der bürgerlichen Neuzeit ist.</p><p>Wenig überraschend arbeiteten die allermeisten Frauen als Bäuerinnen, weil die meisten Menschen der Zeit in der Landwirtschaft tätig waren. Sie arbeiteten hier neben Aussaat, Einbringung und Ernte vor allem mit den kleineren Tieren wie Hühnern (da diese geringeres Prestige besaßen als die großen Tiere, mit denen die Männer arbeiteten). Grundsätzlich konnten sie genauso wie Männer erben, allerdings nur, wenn keine männlichen Erben verfügbar waren. Dies führte dazu, dass etwa ein Viertel der Höfe in weiblichem Besitz war (häufig von verwitweten Frauen) und auch eigenständig verwaltetet wurde. Es ist generell spannend, dass Frauen im Mittelalter durchaus eigenen Besitz hatten, der vom Mann losgelöst war; dazu gehörte auch die Aussteuer, die im Falle einer Trennung (üblicherweise durch Tod des Mannes) auch an die Frau zurückfiel.</p><p>Neben der Landwirtschaft arbeiteten Frauen aber auch in den meisten anderen Berufen, meist neben ihren Männern, die diesen Beruf ausübten (und ausgebildet von ihren Eltern, die ihn bereits auch erlernt hatten; Heiraten fanden meist innerhalb desselben Berufsstands statt). Sie konnten als Witwen und Erbinnen auch in die Zünfte gelangen, wo sie als passiv gleichberechtigte Mitglieder wirken konnten - jedenfalls bis zur Heirat, von welchem Zeitpunkt an diese Rechte an den Ehemann übergingen. Dies machte solcherart ausgestattete Frauen zu ungemein attraktiven Partnerinnen und erstklassigen Kandidatinnen auf dem Heiratsmarkt, ein Vehikel des sozialen Aufstiegs.</p><p>Einige Berufe waren besonders weiblich geprägt. Dazu gehörten etwa die Bräuerinnen, die Bier herstellten. Dieses war das alkoholische Getränk der Masse (Wein war ein Elitengetränk) und damals noch kaum haltbar, so dass beständig neues gebraut werden musste. In den Brauereien das Wasser zu kochen und zu schleppen war eine typische Frauenarbeit, die auch recht gefährlich war und zu furchtbaren Unfällen führen konnte. Der Textilbereich war gleichfalls eine weibliche Domäne; das allgegenwärtige Spinnen wurde vor allem in Hausarbeit erledigt. Zudem waren Frauen in allen Arten von Dienstberufen überrepräsentiert, die natürlich ein entsprechend geringes Prestige hatten. In der Medizin arbeiteten Frauen vor allem als Hebammen und in Hilfspositionen, da ihnen das medizinische Studium ebenso wie die entsprechenden Ausbildungshänge verwehrt waren.</p><p>Ein größerer Abschnitt ist der Sexarbeit gewidmet. Sie war als normal akzeptierte Arbeit gesehen und nicht illegal oder grundsätzlich anrüchig, weil man ihre Notwendigkeit anerkannte (für unverheiratete Männer die einzige Möglichkeit, ihre überschüssige Hitze abzubauen und die Körpersäfte im Gleichgewicht zu halten). Trotz des gesetzlichen Schutzes, den sie anders als in anderen Epochen genossen, waren die Prostituierten aber sozial ausgegrenzt, da Sexualität außerhalb der Ehe grundsätzlich suspekt war und mussten sich durch spezifische Kleidung ausweisen. Die Normalität des Gewerbes zeigt sich aber darin, dass immer wieder Frauen in den Beruf gezwungen werden konnten, weil die Rechtsprechung ihn als normale Tätigkeit klassifizierte. Der Ausstieg aus der Prostitution war gängig und geschah vor allem durch Buße, welche üblicherweise in einer Heirat bestand. Männern wurde für das sozial erwünschte Heiraten der Prostituierten oft weltliche und geistliche Vergünstigung gewährt, da die Frauen dadurch wieder unter die ebenso gesellschaftlich erwünschte Kontrolle der Männer kamen - unabhängige Frauen mit eigenem Einkommen waren den Zeitgenossen höchst suspekt.</p><p>Auch viel religiöse Arbeit wurde von Frauen geleistet. Hier waren reiche Frauen überrepräsentiert, da eigentlich nur ihnen die Klöster offenstanden (wegen der hohen Eintrittskosten). Sie waren dort allerdings klar auf untergeordnete Rollen festgelegt; Frauen waren keine eigenständigen Theologinnen, da dies als gefährlich gesehen wurde. Sie seien schlicht zu zu dumm, um Häresie erkennen zu können, und waren deswegen dafür besonders anfällig.</p><p>Die uns bekannteste Frauenarbeit ist die als Herrscherinnen. Adelige Frauen arbeiteteten auch, outsourceten aber schwere körperliche Arbeit an Bedienstete. Stattdessen waren sie viel mit Verwaltung und Diplomatie beschäftigt. Als "<em>Ladies in Waiting</em>", die höhergestellte Adelige umgaben und für diese Botendienste, Beratung und Vermittlung übernahmen, konnten sie auch recht alt sein - Herrscherinnen brauchten auch erfahrene Gehilfinnen und wollten sensible Themen nicht unbedingt 17jährigen Teenagerinnen anvertrauen. Am arbeitsreichsten war der "Job" der Königin, der zusätzlich die entscheidende Rolle zukam, dem König gesichtswahrende Revision zu erlauben, indem sie öffentlich für irgendjemanden bat und so dem König erlaubte, vorherige übereilte Entscheidungen zurückzunehmen.</p><p>Ab Abschluss steht <strong>Kapitel 5</strong>, "<em>Why it matters</em>". Die Frage, warum die Beschäftigung mit dem Mittelalter heute noch irgendwie relevant ist, wabert in dem Bereich ja immer mit, und Janega nennt das relevanteste Argument auch gleich zuerst: weil es dem Erkenntnisgewinn dient und spannend ist. Nicht alle geschichtliche Forschung muss unmittelbar für uns relevant sein. Aber Janega ist natürlich auch der Überzeugung, dass sehr wohl große Relevanz für uns heute bestehe.</p><p>Die Ideen von der Unterlegenheit der Frau wurden schließlich von der Antike über das Mittelalter bis in Neuzeit hinein immer wieder übernommen und rezipiert. Wir stehen bis heute, auch wenn wir es uns häufig nicht bewusst machen, in dieser Tradition. Ebenfalls bis heute ein Dauerschema ist die Unsichtbarkeit von Frauen, besonders im Beruf. Frauenarbeit wird systematisch geringgeschätzt und ignoriert, ob es sich um Haus- und Carearbeit dreht oder um Berufe, die überwiegend weiblich geprägt sind. Ihr Prestige ist immer geringer als das von männlichen Berufen.</p><p>Die untergeordnete Stellung von Frauen ist ebenfalls eine, die sich lange über das Mittelalter hinaus erhalten hat. Zwar änderten sich die Rechtfertigungen dafür - anstatt eine gottgewollte Ordnung anzunehmen, begannen die Aufklärer, natürlich-biologische Gründe für die Unterlegenheit von Frauen zu suchen, eine Tendenz, die sich bis heute in der Vorstellung findet, Frauen neigten "natürlicherweise" zu schlecht bezahlten Berufen und Hausarbeit. Aber das grundsätzliche Schema blieb bestehen.</p><p>Ebenfalls relevant ist die Wandelbarkeit von Schönheitsidealen. Wer auch immer behauptet, dass Attraktivitätsmerkmale irgendwie biologisch determiniert seien, kann sich durch das Mittelalter eines Besseren belehrt sehen. Schönheitsideale sind sozial konstruiert und unterliegen einem permanenten Wandel, und es sei immer wieder sinnvoll, sich dies vor Augen zu führen. Dasselbe gelte für die Rolle der Sexualität. Das in diesem Zusammenhang wohl wichtigste Element des Buchs ist die Erkenntnis, dass im Mittelalter den Frauen unersättliche Lust zugeschrieben wurde, während die Männer eigentlich gar kein großes Interesse an Sex hätten. Heute wird das genaue Gegenteil behauptet und die Theorie verbreitet, dass Frauen natürlich monogam und eher wenig an Sex interessiert seien, während Männer gerne als unersättliche Sexmonster, die sich kaum unter Kontrolle haben, dargestellt werden. In beiden Fällen wird jeweils die natürliche Ordnung der Dinge bemüht, um die Ideologie zu verbrämen.</p><p>---</p><p>Ich empfand die Lektüre des Buchs insgesamt als vergnüglich. Seine überschaubare Länge und vor allem Janegas flotter Schreibstil mit einer feinen, trockenen Ironie, der es immer gelingt, die Balance zu halten und weder in die leider verbreitete Arroganz der Nachgeborenen über die Vergangenheit abzurutschen noch in einen predigenden Tonfall zu verfallen, sondern die Erkenntnisse der Forschung in einer nachvollziehbaren und cleveren Struktur aufzubereiten, tragen maßgeblich zum Lesevergnügen bei. Einzig im letzten Kapitel ist etwas Kritik angebracht, denn hier beginnt die intellektuelle Konsistenz etwas zugunsten Janegas progressiver Agenda ins Wanken zu geraten.</p><p>Ob Kontinuität oder Bruch mit mittelalterlichen Ideen, irgendwie zeigt uns alles, dass Frauen heute immer noch in einer problematischen Situation sind, was irgendwie manchmal aufs Mittelalter zurückzuführen ist und manchmal auch nicht, was entweder das Reaktionäre dieser Ideen heute zeigt oder dass das Mittelalter eigentlich viel weiter war, als es das Klischee üblicherweise vermuten lässt - ich empfand das letzte Kapitel als reichlich inkohärent, und das Buch wäre vermutlich besser bedient gewesen, hätte Janega es weggelassen und das Ziehen von Schlussfolgerungen den Lesenden überlassen. Aber es ist ein kurzes Kapitel, weswegen das nicht allzu negativ ins Gewicht fällt, und die intellektuelle Ehrlichkeit des Rests ist überzeugend genug.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-80899608446201398102023-12-08T08:22:00.001+01:002023-12-08T08:22:00.138+01:00Rezension: Eleanor Janega - The Once and Future Sex: Going Medieval on Women's Roles in Society (Teil 1)<p> </p><p><img alt="" height="1" sj57tgn13="" src="https://vg07.met.vgwort.de/na/6174093db98d432f8118a80ee01f88b3" width="1" /></p><p class="a-size-large a-spacing-none" id="title"><span id="productTitle"><a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/1324074469?_encoding=UTF8&qid=1699422251&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=45e520682829fbd0134d3c02533eec6f&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Eleanor Janega - The Once and Future Sex: Going Medieval on Women's Roles in Society</a> (<a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/B0BRL91R8M?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=I2ASPAND3FK9&keywords=once+and+future+sex&qid=1699422251&sprefix=once+and+future+sex%2Caps%2C177&sr=8-1&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=e62bc15f2a18adf53c0d1589fce175c2&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Hörbuch</a>)<br /></span></p><p><a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/1324074469?_encoding=UTF8&qid=1699422251&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=b747be4568dd84628c89f012fdf43ee7&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=1324074469&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" /></a>"Zustände wie im Mittelalter" ist ein geflügeltes Wort, um vage rückständige und unattraktive Zustände zu beschreiben. Dabei wissen wir sehr wenig über diese Epoche und arbeiten oft mit Klischees, die Autoren aus der Renaissance und der Neuzeit prägten, um ihre eigene Zeit in strahlenderem Licht erscheinen zu lassen. Eleanor Janega hat es sich bereits seit Längerem zur Aufgabe gemacht, Fehlvorstellungen über das Mittelalter zu korrigieren. Auf ihrem Blog "<a href="https://going-medieval.com/">Going Medieval</a>" veröffentlicht sie immer wieder solche Betrachtungen. Nun liegt ein Buch von ihr vor, in dem sie die Rollenbilder von Frauen im Mittelalter untersucht - ihre ideengeschichtlichen Ursprünge, die Schönheitsideale, Sexualität, Arbeitswelt und natürlich die Frage, warum uns das alles heute überhaupt noch interessieren sollte. <span></span></p><a name='more'></a> <img alt="" border="0" height="1" sj57tgn13="" src="https://ir-de.amazon-adsystem.com/e/ir?t=httpgeschicht-21&language=de_DE&l=li3&o=3&a=1324074469" width="1" /><p></p><p><a href="https://www.amazon.de/Once-Future-Sex-Medieval-Society/dp/B0BRL91R8M?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=I2ASPAND3FK9&keywords=once+and+future+sex&qid=1699422251&sprefix=once+and+future+sex%2Caps%2C177&sr=8-1&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=a5b3703da0907a51b074d4d407e3197f&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" height="172" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=B0BRL91R8M&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" width="172" /></a>In <strong>Kapitel 1</strong>, "<em>Back to Basics</em>", beginnt Janega mit der Darstellung der Rolle der antiken Autoren. Diese galten im Mittelalter wie auch in der Renaissance als unbestechliche Autoritäten, weil sie alt waren - und je länger etwas her war, desto näher war e san biblischen Zeiten, desto näher war es an Gott, und desto richtiger musste es also sein. So galt Hippokrates als unbedingte erste Autorität in der Frage der Unterscheidung von Männern und Frauen. Die seinerzeit unhinterfragte Vier-Säfte-Lehre, nach der jeder Mensch vier "Säfte" im Körper habe, deren Austarierung seine Gesundheit und sein Gemüt beeinflusse, diente auch der Herausstellung von Unterschieden zwischen Mann und Frau. Für Hippokrates stellte der Frauenkörper ein unkennbares Mysterium dar, da sich in ihm Prozesse abspielten, die von der Wissenschaft (in Gesellschaften, die Anatomie tabuisierten) völlig unnachvollziehbar waren. Klar war für Hippokrates allerdings, dass der Frauenkörper gegenüber dem männlichen defizitär sein musste.</p><p>Diese Idee wurde von Platon weiter ausgeführt, der gleichzeitig als erster überlieferter Kritiker des männlichen Penises auftrat. Allerdings betrachtete er ihn vor weiblichem Uterus als deutlich überlegen, weil er anders als dieser beseelt sei: der männliche Samen war das entscheidende Element der Fortpflanzung, das aktiv in die Frau gebracht wurde, die diesen nur passiv empfing. Die Vier-Säfte-Lehre zu Platons Zeit betrachtete Frauen zudem als "feucht" und "kalt", Männer als "trocken" und "heiß". Das war relevant, weil die Hitze der Männer überschüssige und schlechte Säfte verbrannte (und sie gleichzeitig aggressiv machte, ein mit ihrer "natürlichen" Dominanz einhergehender Nachteil), während die kühle Feuchtigkeit der Frauen dafür sorgte, dass schlechte Säfte durch die Menstruation ausgeschieden werden mussten und Frauen grundsätzlich weniger zurechnungsfähig waren als Männer, weil ihr Säftehaushalt viel mehr in Unordnung war.</p><p>Aristoteles als geschätztester Autor des Mittelalters (es hilft, eine eigene Schule zu begründen, die das eigene Werk jahrhundertelang reproduziert) brachte den Schlussstein in diese Analyse des weiblichen Körpers mit der Überzeugung ein, dass der Uterus im Körper umherwandere und dadurch für Probleme sorge; einzig durch eine Schwangerschaft werde "fixiert", wodurch Frauen dann temporär halbwegs vernünftig würden.</p><p>Die antiken Autoren wurden im Mittelalter viel rezipiert, geradezu geheiligt. Auch die wenigen Frauen mit Zugang zu Bildung wie Hildegard von Bingen studierten sie, kamen dabei aber zu eigenen Ergebnissen (die vor allem versuchten, die weiterhin unhinterfragte Analyse der antiken Vordenker ins Positive zu wenden); der geringe Stand weiblicher Bildung habe aber einen "Dialog mit dem Patriarchat" verhindert.</p><p>In <strong>Kapitel 2</strong>, "<em>How to look</em>", werden mittelalterliche Schönheitsideale behandelt. Auffällig ist, dass die Schönheitsideale der Antike weitgehend unbekannt sind. Antike Autoren beschrieben zwar Frauen gerne generisch als schön, machten aber selten genaue Angaben, worin diese Schönheit eigentlich bestehen würde. In der mittelalterlichen Rezeption spielte daher vor allem das Ideal der Helena von Troja, das "Gesicht, das tausend Schiffe sandte", eine große Rolle. Da ihr Aussehen aber auch unbekannt war, wurde sie mit den Schönheitsidealen des Mittelalters belegt.</p><p>Für die Menschen des Mittelalters galt eine Kongruenz von Schönheit und Macht beziehungsweise Status: schöne Frauen sind reich und mächtig und umgekehrt. Eine Königin etwa war per Definition schön, weil sie es sein musste: Herrschaft bedingte dies schlicht. Umgekehrt konnten gewöhnliche Frauen niemals schön sein, egal welche Attribute sie ansonsten auch aufwiesen. Dies zeigt sich bereits an den Schönheitsidealen des mittelalterlichen Gesichts. Die schöne Frau hatte graue Augen, weiße Haut und Zähne (die sich entgegen dem Klischee dank mangelnder die Zähne angreifender Nahrungsmittel durch Zähne putzen tatsächlich erreichen ließen), blonde Haare, hohe Stirn, volle Lippen und schwarze Augenbrauen. Dieses Ideal war reichlich spezifisch und offensichtlich europäisch geprägt; zudem war es nur durch solche Frauen zu erreichen, die nicht den Elementen ausgesetzt waren, die weiße Haut schnell verunmöglichen.</p><p>Auch mittelalterliche Beschreibung des restlichen Körpers sind, wie mittelalterliche Literatur generell, stark formalisiert. Es ist gewissermaßen ein Malen nach Zahlen, dem praktisch alle Autoren folgen und das den (literarischen) Blick von oben nach unten gleiten lässt: Von den Haaren zur Stirn und den Augenbrauen zu den Augen, der Nase und den Lippen, den Wangen, dem Hals über die Schultern, Arme und Hände, von dort zu den Brüsten, der Taille und dem Bauch, ehe Beine und Füße den Abschluss bildeten. Dabei wiederholte sich immer das gleiche Muster: weiße und weiche (!) Haut (wie sie nur wohlhabende Fraue haben konnten), kleine und runde Brüste (ganz im Gegensatz zu unserem heutigen Ideal; diese ließen sich nur durch den Einsatz von Ammen erreichen, so dass wohlhabende Frauen ihre Brüste schnell abbinden konnten, damit diese nicht durch Säugen größer wurden), kleine Füße (äußerst unpraktisch bei jeglicher Arbeit), dicker Bauch (ebenfalls in deutlichem Gegensatz zu heute), dicke Schenkel - es ist offenkundig, dass diesen Merkmalen nur reiche Frauen entsprechen konnten.</p><p>Diese Ideale finden sich auch in zahlreichen bildliche Darstellungen, vor allem in solchen der biblischen Eva. Das erlaubte es den Künstlern auch, nackte Frauen zu zeichnen. Die Ubiquität dieser Darstellungen muss auf Kirchenbesucher einen erotisierenden Effekt gehabt haben; die Bilderstürmerei der Protestanten jedenfalls wurde von ihnen explizit damit begründet, dass Männer in der Kirche ständig sexuell erregt würden.</p><p>Dem mittelalterlichen Schönheitsideal war aber auch Sauberkeit sehr wichtig. Das Klischee ist ja, dass die Menschen ständig schmutzig waren. Das allerdings ist nicht korrekt, vielmehr gehörte tägliches Waschen genau wie heute zum Alltag. Nur konnten allein reiche Frauen diese Sauberkeit einigermaßen über den Tag retten. Sauber zu sein galt als rein und nahe am göttlichen Zustand.</p><p>All diese Schönheitsideale mussten aber unbedingt auf "natürliche" Weise erreicht werden. Frauen durften keinesfalls wirken, als würden sie sich um ihre Schönheit kümmern; eine Aura der Ignoranz gegenüber dem Thema gehörte zum guten Ton. Makeup oder Färben der Haare war generell des Teufels und eine große Sünde, wie an der biblischen Geschichte von Jezebel deutlich wird, die weniger wegen ihres Mordens, sondern wegen ihres Eyeliners unter die großen Sünderinnen der Apokalypse eingereiht wurde. Nur minimal weniger verächtlich war Parfüm, das nur so erlaubt war, dass es ausschließlich der eigene Ehemann riechen konnte (um so andere nicht in Versuchung zu führen). Körperbehaarung indessen galt als Ausdruck von zu viel Körpersäften und Unreinheit, weswegen sie geradezu verwerflich waren. Gleichzeitig galt aber - Natürlichkeit, wir erinnern uns - ein hartes Verbot, sie auszuzupfen oder zu rasieren.</p><p>Bei der Kleidung bestand ein Dilemma. Sie waren einerseits Statusmarker des Adels, mit dem sie sich auch von reichen Bürgersfrauen abheben konnten (und waren daher zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung notwendig), andererseits war aber das Tragen schöner Kleidung zur Darstellung von Schönheit sündig. Die Kleidungsverbote hatten so die wichtige Funktion, wohlhabenden gewöhnlichen Frauen zu verunmöglichen, die Schönheitsstandards des Adels zu erreichen (und die selbsterfüllende Prophezeiung von reich/mächtig=schön damit Wirklichkeit werden zu lassen).</p><p>Es ist offensichtlich, dass damals wie heute die Schönheitsideale extrem heuchlerisch waren, weil sie Frauen für das Verfehlen eines Standards bestraften, ihn zu erreichen aber verboten.</p><p><strong>Kapitel 3</strong>, "<em>How to love</em>", befasst sich mit Sex. Erneut beginnt Janega in der Ideengeschichte. Schließlich mussten die mittelalterlichen Autoren die Nacktheit Adams und Evas (vor allem Letzterer), die sie so gerne zeichneten, irgendwie erklären und einordnen. In der mittelalterlichen Theologie hatten Adam und Eva zwar Sex, empfanden dabei aber keine Lust - es war eine körperliche Funktion, die sie an- und ausschalten konnten wie alle anderen auch, weswegen sie auch keine Scham empfanden. Das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis sorgte also dafür, dass sie Lust empfanden (und Scham), was ihren Ausschluss aus dem "reinen" Paradies bedeutete.</p><p>Sex war für Menschen im Mittelalter daher grundsätzlich in Ordnung, so er denn der Fortpflanzung diente und im Sakrament der Ehe eingehegt war. Dieses war anfangs auch noch kein Hinderungsgrund für das Priesteramt; erst ab 1123 wurde ein "hartes" Zölibat eingeführt, das auch vor der Priesterweihe verheirateten Menschen dieselbe verwehrte. Damit einher ging eine zunehmende Betonung der Enthalsamkeit als erstrebsamem Ideal: wer seine Reinheit dadurch bewahrte, keinen Sex zu haben, war besonders nahe an Gott. Alle anderen mussten notgedrungen kopulieren, um den Erhalt der Menschheit sicher zu stellen, was Gott in seiner Weisheit so gefügt hatte.</p><p>Für die Durchführung war ausschließlich die Missionarsstellung geeignet, da sie männlich dominant war und die "natürliche" Ordnung der Dinge wiederspiegelte. Jede andere Haltung war sündig, etwa der Doggy-Style, über dessen Sündigkeit sich die mittelalterlichen Quellen in erklecklichem Detail ausließen. Noch sündiger waren sexuelle Handlungen, die in keiner Fortpflanzung resultieren konnten; von Petting über Küsse zu Onanieren und Reiben und Oralsex war alles verboten und wurde unter dem Catch-all-Begriff der "Sodomie" gefasst.</p><p>Für die Theologen galten Frauen anders als Männer auch als besonders lustvoll, weil ihre Säfte und ihr kalter Zustand sie nach der trockenen Hitze des Samens dursten ließen und dieser Durst nie gestillt werden könne; anders als Männer seien sie außerdem schlicht zu dumm, den sexuellen Akt in seiner gottgewollten Glorie zu begreifen und blieben wie Kinder immer passiv und auf der Suche nach mehr. Sie würden quasi als "faules" Element zu dem "reinen" Element des Penis gezogen. Der Sexualakt ging in der mittelalterlichen Vorstellung also von den unersättlichen Frauen aus.</p><p>Weiter geht's in Teil 2.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-32954535612172126502023-12-06T09:27:00.000+01:002023-12-06T09:27:00.135+01:00Rezension: Wolfgang Will - Alexander der Große. Geschichte und Legende<p> </p><p><img alt="" e0mejrzz7="" height="1" src="https://vg09.met.vgwort.de/na/c94c487225aa456696b65119e7dbac35" width="1" /><a href="https://www.amazon.de/Alexander-Gro%C3%9Fe-Geschichte-Wolfgang-Will/dp/3896788094?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=U73AIRG4UX6T&keywords=wolfgang+will+alexander&qid=1697993003&sprefix=wolfgsng+will+alexande%2Caps%2C125&sr=8-2&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=12dd6377cf8cf1b72254c67e9169d929&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Wolfgang Will - Alexander der Große. Geschichte und Legende</a></p><p><a href="https://www.amazon.de/Alexander-Gro%C3%9Fe-Geschichte-Wolfgang-Will/dp/3896788094?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=U73AIRG4UX6T&keywords=wolfgang+will+alexander&qid=1697993003&sprefix=wolfgsng+will+alexande%2Caps%2C125&sr=8-2&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=a94a72271b347c8787beb212aa6234ce&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=3896788094&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" /></a>Es ist wohl keine Übertreibung festzustellen, dass Alexander der Große eine der mythenumranktesten Personen der Weltgeschichte ist. Bereits im antiken Rom erfüllte er eine narrative Rolle, die durchaus mit Marvel-Superhelden vergleichbar ist, war Vorbild und Gegenstand historischer Diskussionen. Merkreime wie "333 - Bei Issos große Keilerei" bestimmten Jahrzehnte den Geschichtsunterricht, in dem weitgehend unkritisch gelernt wurde, dass Alexander den Gordischen Knoten durchschlug und im Suff einen seiner besten Freunde erschlug. Dabei ist erstaunlich, wie wenig tatsächlich über den König bekannt ist - während die Frage, ob er das Attribut "der Große" überhaupt verdient, eine Standardfrage im modernen Geschichtsunterricht darstellt (während die breite Öffentlichkeit ihr Interesse an ihm wie an der Antike generell weitgehend verloren hat). Wolfgang Will hat es sich in diesem schmalen Band zur Aufgabe gemacht, die bekanntesten Mythen auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen. <span></span></p><a name='more'></a><img alt="" border="0" e0mejrzz7="" height="1" src="https://ir-de.amazon-adsystem.com/e/ir?t=httpgeschicht-21&language=de_DE&l=li3&o=3&a=3896788094" style="border: none !important; margin: 0px !important;" width="1" /><p></p><p>In <strong>Kapitel 1</strong>, "<em>Die Überlieferung - ein literarischer Kampf um Alexander</em>", legt Will die Grundlagen, indem er die Primärquellen untersucht (die uns freilich allenfalls fragmentarisch vorliegen). Dabei handelt es sich weitgehend um enge Weggefährten Alexanders (und seine Erben), was allerlei Probleme mit sich bringt. Eine unserer wichtigsten, Kallisthenes, schrieb als Chefpropagandist und fiel noch zu Alexanders Lebzeiten dem wechselnden politischen Klima zum Opfer und wurde exekutiert, während die anderen Generäle und Epigonen ihre Alexanderdarstellungen als Mittel der eigenen politischen Propaganda nutzten und in diesem Kontext gelesen werden müssen.</p><p><strong>Kapitel 2</strong>, "<em>Aufbruch nach Osten - Reise ohne Wiederkehr</em>", stellt den Aufbruch Alexanders nach Persien vor, damals noch mit dem Ziel, die ionischen Städte zu "befreien", was nichts anderes bedeutete, als sie von einem Tributherren unter einen anderen zu stellen (weswegen die "Befreiungen" auch mit monatelangen Belagerungen und Schlachten verbunden waren). Da die Perser das Meer beherrschten, war das Unternehmen von Anfang an logistisch schwierig, was propagandistisch überhöht wurde, indem die Überlieferungen Alexander als ersten der Armee in voller Rüstung das Land betreten ließen, um dem Unternehmen von Anfang an den Ruch einer gewagten Militäroperation zu geben.</p><p>In <strong>Kapitel 3</strong>, "<em>Meer- und andere Wunder - Das schwierige erste Jahr</em>", spielen vor allem diese logistischen Schwierigkeiten eine zentrale Rolle, weswegen die Autoren auf zahlreiche "Wunder" zurückgeifen. Alexanders militärische Erfolge gegen die schwache persische Präsenz in Kleinasien werden alle mit göttlicher Vorsehung und Eingreifen erklärt, seine aus der Not geborenen Lösungen - etwa der Feldzug im Winter, bei dem die Soldaten mangels Schiffen an einer Engstelle bis zur Hüfte im eiskalten Wasser wateten - als brillante Schachzüge verbrämt.</p><p>Die wohl berühmteste Episode spielt in <strong>Kapitel 4</strong>, "<em>Der Gordische Knoten - Asien im Schwertstreich</em>", die Hauptrolle. Das auf griechischen Karten im Weltmittelpunkt gelegene Gordia war von großer symbolischer Bedeutung; der Knoten dort, dessen genaue Gestalt völlig unbekannt ist, sollte als Signal für die Eroberung Kleinasiens (!) dienen. Alexander ging ein propagandistisches Wagnis ein, indem er öffentlich das Rätsel zu lösen gedachte. Worin dieses bestand und wie er das genau tat, ist völlig unklar; die berühmteste Version, in der er den Knoten durschlägt, stammt von seinen Gegnern, die ihn als aggressiven imperialistischen Barbaren darstellen wollten.</p><p>Narrative Spielereien sind das Zentrum von <strong>Kapitel 5</strong>, "<em>Issos und Gaugamela - Die Schlacht als Duell</em>". In beiden Schlachten erfinden die Autoren direkte Duelle zwischen Alexander und Dareios, die mit Sicherheit so nicht stattgefunden haben (aber auch die berühmteste Alexanderdarstellung, <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Alexandermosaik">das Mosaik von Pompeii</a>, dominieren). Auffällig ist, dass dieses Duell nicht nur einmal, sondern zweimal stattgefunden haben soll, noch dazu in praktisch derselben Form, bei Issos und bei Gaugamela. Schon ein einmaliges Treffen dieser Art ist mehr als unwahrscheinlich; seine Wiederholung ist reine narrative Fiktion. Dass die Schlacht bei Issos nicht 333, sondern 328 stattgefunden hat, fällt da kaum mehr ins Gewicht. Der Reim ist aber auch zu schön.</p><p>Noch unklarer sind die religiösen Aspekte, wie <strong>Kapitel 6</strong>, "<em>Der Zug zum Ammonorakel - Weltherrscher und Gottessohn</em>", aufzeigt. In Ägypten - in das Alexander nach den Schlachten gegen Dareios abbog, was im Übrigen gegen einen Plan zur Welteroberung vor diesem Zeitpunkt spricht - besuchte er das Ammonorakel, in dem ihm irgendetwas prophezeit wurde. Was genau das war, ist ein weiteres Mal unklar; das Einzige, das halbwegs gesichert gesagt werden kann ist, dass Alexanders Größenwahn erst irgendwann nach dem Besuch dieses Orakels einsetzte. Will geht auch etwas stärker auf die Kompatibilität zum griechischen Kosmos ein: Ammon als höchster Gott der Ägypter und direkte Gottheit der Pharaonen war quasi automatisch für Alexander zuständig, der als nun neuer Pharaoh Ägyptens automatisch zum Sohn Ammons wurde. Da die Griechen vermutlich Ammon und Zeus gleichsetzten, wurde Alexander damit auch zum Zeussohn (was die Autoren durch diverse Wunder wie Sichtungen von Adlern, Schlangen und ähnlichem Getier untermauern). Alexander erhielt dadurch göttliche Züge.</p><p>Der in <strong>Kapitel 7</strong>, "<em>Der Brand von Persepolis - Ein kalkulierter Affekt</em>", beschriebene Brand des persischen Königspalasts wird in den Quellen gerne als Affekthandlung Alexanders beschrieben, der persönlich mit der Fackel in der Hand den (hölzernen) Palast in der Residenzstadt niederbrennt. Seine eigene propagandistische Absicht ist etwas nebulös, aber Will ist sicher, dass es, unabhängig seiner Intention, ein Fehler war, der schnell zu einer Gegenreaktion der Perser führte, gegenüber denen sich Alexander bislang nicht als barbarischer Eroberer präsentiert und auf allzu offensichtliche Darstellungen seiner Überlegenheit verzichtet hatte. Die Idee, dass er quasi aus einer Laune heraus den Palast angesteckt habe, ist aber gar nicht so unwahrscheinlich. Alexander war vergleichsweise stark affektgetrieben, weswegen diese Tat ins Bild passen würde.</p><p>Ebenfalls ins Bild passt die in <strong>Kapitel 8</strong>, "<em>Feinde und Narren - Die Legende vom königlichen Trinker</em>", beschriebene Trinksucht des Königs. Seine Feinde versuchten, diese propagandistisch auszuschlachten, und es ist auffällig, dass die Makedonen ihrerseits vor allem eine Überhöhung der Trinkerei - Alexander als wiedergeborener Dionysos - oder eine Relativierung (in Wirklichkeit hielt sich der König klug und maßvoll zurück und trank viel weniger als seine Umgebung) versuchten. Tatsächlich scheint Alexander Unmengen an Alkohol konsumiert zu haben. Die Quellen sind voll von mehrtägigen Trinkgelagen, die zu allen möglichen Gelegenheiten veranstaltet wurden und den Doppeleffekt hatten, die Truppen zu motivieren und zu belohnen.</p><p>Eine Legende der eigenen Art wird in <strong>Kapitel 9</strong>, "<em>Und wo war ich denn damals? - Alexander und die Amazonen</em>", beschrieben. Die Existenz der sagenumwobenen Amazonen ist ohnehin ein Zankapfel der Forschung. Es gibt zahlreiche Theorien, woher der Mythos stammen könnte, aber zumindest in der Form, wie es die Geschichten klassischerweise behaupten, existierten die Amazonen sicher nicht. Das war selbst den Zeitgenossen so offensichtlich, dass die Quellen es als Anlass nehmen, die Bescheidenheit und den Witz Alexanders herauszustellen, indem er angesichts von Geschichten über seine Begegnung mit den Amazonen gefragt haben soll "Und wo war ich damals?" Solche selbstironischen Äußerungen sind natürlich von vielen Herrschern überliefert und gehören fest in den narrativen Kanon von Königspropaganda.</p><p>Ein schwierigeres Rätsel stellt die in <strong>Kapitel 10</strong>, "<em>Für alle zu wenig, für einen zu viel - Durch die Wüste von Gedrosien</em>", beschrieben Durchquerung der Wüste von Gedrosien dar, durch die Alexander einen Großteil seiner Armee auf dem Rückzug vom Indus ziehen ließ. Es ist unklar, warum er diese Entscheidung traf, obwohl wesentlich ungefährlichere Alternativen zur Verfügung standen; der Rückzug wurde auch zum Desaster, bei dem zehntausende zu Tode kamen. Es gibt Vermutungen, dass er es bewusst als Bestrafung der beim Indus meuternden Truppen tat (die sich als unzuverlässig herausgestellt hatten) oder als Inszenierung seiner Führungsrolle, um ihr Vertrauen wiederzugewinnen (weil er ihre Qualen teilte, ein weiterer Topos der Königspropaganda).</p><p>Seine ideologische Ausrichtung spielt in <strong>Kapitel 11</strong>, "<em>Alle Menschen werden Brüder - Alexanders "Unity of Mankind"</em>", die Hauptrolle. Die Idee, die gesamte Menschheit in einem Reich zu einen, kam erst spät in Alexanders Karriere auf. In diesen Kontext fällt die berühmte Massenheirat, bei der tausende Makedonen zusammen mit ihrem König persische Frauen nahmen (freilich ohne diese später auch zu ehren, nach Alexanders Tod ließen sie sie ebenso zu Tausenden zurück) oder die Schaffung der Epigonen, jener nach griechischem Vorbild ausgerüsteten und ausgebildeten Einheiten aus jungen Persern. Gleichzeitig haben wir die Persifizierung Alexanders und vieler Madedonen, die sich immer weiter von ihren griechischen Wurzeln entfernten. Man sollte jedoch den späteren Rechtfertigungen als großem Plan nicht zu viel Gewicht beimessen; es gibt wenig Hinweise dafür, dass hier tatsächlich ein universalistisches ideologisches Konzept zugrundelag, und die geringe Haltbarkeit der bestehenden Versuche Alexanders spricht hier eine deutliche Sprache zumindest über die Priorität dieses Projekts, so es je existiert hat.</p><p>Kurios ist die Rolle Roms, wie in <strong>Kapitel 12</strong>, "<em>Auf dem Höhepunkt der Macht - Alexander gegen Rom</em>", dargestellt wird. Angeblich wurde Alexander in Babylon kurz vor seinem Tod von Delegationen aus dem ganzen Mittelmeerraum bis nach Spanien besucht, darunter auch einer aus Rom, das damals kaum mehr als eine aufstrebende Regionalmacht war. Diese Delegationen sind insgesamt extrem unwahrscheinlich; gerade im Falle Roms kennen wir aber aus den römischen Quellen die Darstellungen genauer, die alle darauf schließen lassen, dass sie nachträglich erfunden wurden, um die Ewige Stadt in besserem Licht erscheinen zu lassen. Das gilt umso mehr für das blühende Genre der virtuellen Geschichte, in dem römische Autoren zwar Alexanders Leistungen bewunderten, aber immer wieder Abhandlungen darüber schrieben, wie er sich gegen römische Legionen geschlagen hätte - natürlich ohne Zweifel daran zu lassen, dass die Römer obsiegt hätten und er nur deswegen so erfolgreich war, weil er "nur" gegen den verweichlichten Osten gekämpft hatte. Angesichts der anhaltenden Popularität dieses Genres fand ich das eine sehr amüsante Randnote.</p><p>Das letzte Kapitel, <strong>Kapitel 13</strong>, "<em>Ein sterbendes Imperium - Die letzten Tage Alexanders</em>" befasst sich kurz mit seinem Tod. Wie viele Autoren vor ihm bemerkt will, dass nicht Alexanders Tod mit "nur" 33 Jahren bemerkenswert ist, sondern dass er angesichts seines ungesunden Lebenswandels überhaupt so alt wurde. Nicht nur die bereits beschriebene Trinkerei, sondern auch der ständige Wechsel von Hitze und Kälte, die Entbehrungen auf dem Marsch und die Exzesse forderten ihren Tribut, so dass Alexanders Körper zum Zeitpunkt seines Todes ein Wrack gewesen sein muss. Die spätere Überhöhung ist natürlich wieder legendenumrankt (inklusive Giftmorden), aber es gibt wenig Grund anzunehmen, dass der Tod nicht natürlich war.</p><p>---</p><p>Insgesamt fand ich die Darstellung angenehn und frisch zu lesen. Der Fokus auf der Untersuchung der Legenden und das ständige kritische Hinterfragen der Quellen sind ein stabiler Ansatz und sorgen für echten Erkenntnisgewinn der Lesenden. Einige Grundkenntnisse werden vorausgesetzt (die Legenden zu kennen ist hilfreich, wenngleich man sie sich gut aus dem Text erschließen kann). Ich finde auffällig, was bezüglich Alexander und dem ganzen Genre der "Geschichte gr0ßer Männer" für ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Wo früher Generationen mit diesen Geschichten aufwuchsen, spielen sie heute überhaupt keine Rolle mehr. Wir haben unsere historisch geerdeten Fantasiefiguren mittlerweile durch offensichtliche Fantasiefiguren ersetzt. Ich halte das für eine gute Entwicklung. Debatten, ob Sauron das Prädikat "der Große" verdient hat, bleiben einem so erspart.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-49517063220651890812023-12-04T09:10:00.002+01:002023-12-04T09:10:00.141+01:00Rezension: Frank Bösch - Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann<p> </p><p><img alt="" amqo624qr="" height="1" src="https://vg07.met.vgwort.de/na/858eb24394524d7eb2bf92ae3f869078" width="1" /><a href="https://www.amazon.de/Zeitenwende-1979-Welt-heute-begann/dp/3406754961?_encoding=UTF8&qid=1697360209&sr=8-3&linkCode=ll1&tag=httpgeschicht-21&linkId=43a3046d70a48b2eff8f980268d54067&language=de_DE&ref_=as_li_ss_tl">Frank Bösch - Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann</a></p><p><a href="https://www.amazon.de/Zeitenwende-1979-Welt-heute-begann/dp/3406754961?_encoding=UTF8&qid=1697360209&sr=8-3&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=b1fa002df33e45f2191ef5ebe30d84bd&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=3406754961&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" /></a>Die Frage, wann die Moderne beginnt, ist eine in der Geschichtswissenschaft hochumstrittene. Der untere Rand des Spektrums wird üblicherweise durch die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts gebildet. Frank Bösch legt die Latte in seinem vorliegenden Buch wesentlich höher: er lässt unsere moderne Welt 1979 beginnen. Dabei behauptet er nicht, dass Schlag am 1.1.1979 ein neues Zeitalter anbrach, sondern eher, dass in dieses Jahr viele Ereignisse fielen, deren Genese und Folgewirkungen besonders prägend waren. Diese Ereignisse und Dynamiken, die üblicherweise fernab deutscher Grenzen stattfanden, hatten doch immer Rückwirkungen auf das damals noch geteilte Deutschland. Trotz des internationalen Ansatzes der Ereignisse legt er daher den Schwerpunkt darauf, ihre Auswirkungen auf die beiden Deutschland zu beschreiben. Inwieweit dieser Ansatz trägt, soll die folgende Rezension erkunden. <span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>In <strong>Kapitel 1</strong>, "Die Revolution im Iran", beginnt Bösch seine Darstellung. Diese hat ihre Genese in der langen Kooperation des Westens mit dem diktarorischen Schah-Regime, das im Land für eine antiwestliche und antimoderne Stimmung sorgte. Erste Reformversuche des Schah-Regimes selbst in den 70er Jahren wurden vom Westen bekämpft, weil sie aus seiner Sicht das Land destabilisierten und ein Einfallstor für kommunistische Agitation darstellten. Da der Schah selbst keinen sonderlich stringenten Reformkurs vor, sondern eher erratisch agierte, ermunterte er mit dem Schlingerkurs nur die Opposition, die sich immer größer und lautstärker formierte.</p><p>Ein entscheidender Kopf dieser Opposition war trotz der anfänglich geringen Größe seiner Anhänger*innenschaft der im Exil lebende Ayatollah Khomeini. Seine Fähigkeit war es, sich als Gesicht der Opposition uns als ihr Anführer zu gerieren und als zentrale Opposition des Schahs wahrgenommen zu werden. Das lag an seiner Fähigkeit, westliche Journalisten (und das waren alles Männer) um den Finger zu wickeln; vor allem Peter Scholl-Latour, der den Ayatollah im Flugzeug in den Iran begleiten durfte und von der eigenen Bedeutung besoffen unkritisch die Progaganda der Islamisten schluckte. Damit war er nicht allein; fast der ganze Westen ließ sich anfangs von moderater Rhetorik und scheinbar demokratischen Elementen täuschen, die Liberalen wie Konservativen gefielen, während die Linke schon allein wegen der klar antiamerikanischen Haltung des Ayatollahs von ihm begeistert waren.</p><p>Khomeini reagierte allerdings sobald er sicher im Iran und der Schah geflohen war schnell mit Gewalt und begann, die Bevölkerung und vor allem die anderen Strömungen der Opposition zu unterdrücken. Dabei war seine Stellung nicht unangefochten; die Geiselnahme in der US-Botschaft aus den eskalierenden Protesten etwa war nicht seine Idee, aber er nahm es hin und intervenierte nicht - schon allein, weil er gar nicht Macht hatte, irgendetwas zu unternehmen. Während des Geiseldramas versuchte die bundesrepublikanische Regierung, die zahlreiche Kontakte im Iran besaß, weitgehend erfolglos zu vermitteln.</p><p>Khomeini selbst versuchte, eine Ideologie des schiitischen Panislamismus zu propagieren, scheiterte damit jedoch schnell, schon allein, weil seine Nachbarländer alle von säkularen Diktatoren regiert und eher sunnitisch geprägt waren. Dieses Scheitern mündete im verheerenden Krieg mit Irak, der allerdings außerhalb des Rahmens des Buchs liegt. Die BRD indessen unterhielt, unter Gefährdung ihrer Beziehungen zu den USA, ein hervorragendes Verhältnis zum sich rasch zur Theokratie entwickelnden Iran. Die Wirtschaft ging über alles, vor allem für Bundeskanzler Schmidt. Diese freundschaftliche Haltung zu einem mörderischen Regime zeigte sich etwa am neuen Botschafter in Teheran, der erklärte, die Berichterstattung über täglich mehr als 30 Todesurteile unterschlage, "wie sehr diese von linksextremen Militanten provoziert" würden. Wenn etwas eine moralische Bankrotterklärung ist, dann wohl das. Erst unter dem im Zug des Antiterrorkampfs massiv zunehmenden Druck der USA ab 2003 endete dieses deutsche Sonderverhältnis, das im Übrigen keine iranische Ausnahme darstellt: bis dahin unterhielt die Bundesrepublik auch extensive Kontakte nach Libyen und ignorierte nur zu gerne Gaddafis Terrorfinanzierung.</p><p>In Deutschland selbst führte die Revolution nach einer kurzen Begeisterungsphase wie im ganzen Westen schnell zu einem Backlash gegen den Islam in der öffentlichen Meinung. Man identifizierte den gesamten Nahen Osten nun zunehmend als kulturell fremd und bedrohlich, wo man ihn zuvor eher als unterentwickelt, analphabetisch und die Segnungen der Zivilisation erwartend begriffen hatte. Dieser Wandel des islamischen Fremdbilds betraf auch die Türkei und damit die Millionen von Deutschtürk*innen auf negative Weise.</p><p>In<strong> Kapitel 2</strong>, "<em>Papst Johannes Paul II. in Polen</em>", könnten geneigte Beobachtende versucht sein, aufgrund der Gleichzeitig der Ereignisse Parallelen zu religiöser Radikalisierung zu ziehen: der 1978 gewählte neue Papst trat seine große Auslandsreise nach Polen an. Seine Rolle bezüglich der Menschenrechte war ambivalent: auf der einen Seite prangerte er Menschenrechtsverstöße kommunistischer Regime an, auf der anderen Seite war der konservative Papst sicherlich kein Freund von Frauenrechten.</p><p>Die Hoffnung der polnischen Kommunisten, die den Besuch überhaupt zuließen, war der auf Stabilisierung ihres Regimes, indem sie den Glanz des ersten polnischen Papstes für sich nutzen konnten. Entsprechend großes Gewicht hatte die detaillierte Vorbereitung des Besuchs. Bösch warnt vor Überinterpretationen des Ereignisses, aber die Begeisterung der Bevölkerung war gewaltig. Ihre Bedeutung liegt für Bösch darin, als eine erste Übung in Massenversammlungen und ihrer Organisation gedient zu haben, die der polnischen Opposition noch zugute kommen würde. Der Papst selbst hielt sich bewusst politisch zurück und zeigte keine Solidarität mit Solidarnosc, um die Machthaber nicht zu provozieren und weil er Gewerkschaften misstraute; erst bei seinen Besuchen 1983 und 1987 würde er sich offener auf die Seite der Opposition stellen. In der öffentlichen Erinnerung sind diese Besuche natürlich mittlerweile verschmolzen.</p><p>Der Besuch mobilisierte vor allem junge Menschen und war von einer Aura des polnischen Nationalismus durchwoben, die sich kaum trennen ließ. Er gehörte zudem in den Kontext der Entspannungspolitik mit Jaruzelski, der so versuchte, das Ansehen der Volksrepublik Polen zu verbessern.</p><p>Die BRD versuchte ihrerseits ebenfalls, den Papst für sich zu vereinnahmen, aber der blieb im Kalten Krieg äquidistant und unpolitisch. Die Begeisterung bei seinem ersten Besuch in der BRD war auch bei weitem nicht so groß wie in Polen, was vermutlich auch mit der zu diesem Zeitpunkt rapide fortschreitenden Säkularisierung zu tun hat (<a href="https://www.deliberationdaily.de/2022/06/rezension-thomas-brechenmacher-im-sog-der-saekularisierung/">siehe auch hier</a>). Selbst die DDR versuchte sich an der Vereinnahmung des Papstes, indem sie dessen antikoloniale Aussagen für sich zu interpretieren versuchte. Wie auch in Polen wurden in der DDR in den 1980er Jahren die Kirchen relevanter, weil sich unter ihrem Dach der Protest der Jugend artikulieren konnte; wie die Zeit nach 1990 allerdings zeigte, war das aber kein Ausdruck von Religiosität.</p><p>Wesentlich säkularer geht es in <strong>Kapitel 3</strong>, "<em>Die Revolution in Nicaragua</em>", zu. Die Diktatur Nicaragua wies gewisse Ähnlichkeiten zum Iran auf: Auch hier gab es einen Diktator, von den USA unterstützt, der mit Gewalt, Folter und Tod regierte. Wenig überraschend war die Opposition nicht sonderlich US-freundlich. Die Revolution durch die Sandinisten genoss dann wegen des offensichtlichen Charakter des alten Regimes große internationale Solidarität, die auch lagerübergreifend war; die Politik dagegen war ebenso lagerübergreifend eher distanziert - auch hier drängen sich die Parallelen zum Iran auf, da die BRD wie bei Iran vor allem an Wirtschaftskontakten interessiert war. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung schwenkte sie dann aber auf Entwicklungshilfen um; die USA dagegen änderten ihre feindselige Haltung nie.</p><p>Im Westen bildeten sich zahlreiche Solidaritätsgruppen mit Nicaragua, die ungemeine Mengen privater Entwicklungshilfen aufbrachten, die schnell mit großen staatlichen Hilfen gepaart wurden. Die Masse dieser Sympathie kam natürlich aus der politischen Linken, aber auch junge Christen engagierten sich für Nicaragua; ich gehe davon aus, dass es hier eine Schnittstelle mit der Befreiungstheologie gibt. Auch der Osten unterstützte Nicaragua massiv, vor allem die DDR und Kuba, obwohl deren Budgets das eigentlich nicht hergaben - der Prestigegewinn stand über allem.</p><p>Nicaragua wurde dabei von allen Seiten romantisiert, was dabei half, zahlreiche Freiwillige zu rekrutieren, die als Entwicklungshelfer für einige Wochen oder Monate nach Nicaragua gingen, um dort mitzuarbeiten. Dabei zeigten sich allerdings schnell Konflikte mit der örtlichen Bevölkerung. Die westlichen Linken kamen mit der machoistischen und religiösen Kultur Mittelamerikas nicht zurecht, während die jungen Christen starke theologische Differenzen ausmachen mussten.</p><p>Die Sandinisten wurden zudem zunehmend autoritärer, so dass die Unterstützung abzunehmen begann. Das Intereresse an dem Land blieb aber überparteilich, schon allein, weil die CDU Nicaragua dazu nutzen konnte, um die Linken mit dem Menschenrechtsknüppel zu schlagen, den diese im Iran und an anderen Orten gegen von den USA unterstützte Diktatoren benutzt hatten. Hier endlich war eine aufstrebende Linksdiktatur, die Menschenrechte verletzte - und die Linken schwiegen.</p><p>Auffällig war, dass besonders die junge Partei der Grünen in Nicaragua sehr engagiert blieb. Sie betrieb in den 1980er Jahren vielfach eine "kommunale Nebenaußenpolitik", indem sie Partnerschaften mit Nicarauga schloss, wo ihr dies wie nach den Wahlerfolgen in Hessen durch die Teilhabe an der kommunalen Macht möglich wurde. Dadurch gewannen viele grüne Politiker*innen erste außenpolitische Erfahrung, die sie später gewinnbringend würden einsetzen können.</p><p>Nicaragua führte auch zu einer weiteren und schweren Desavouierung der USA, die im Ausmaß ähnlich wie Vietnam war, weil die USA die Gewalt der Contra-Rebellen stützten, die offenkundig noch schlimmer als die Sandinisten waren. Diese Unterstützung trug maßgeblich dazu bei, dass Nicaragua in eine Spirale der Bürgerkriegsgewalt rutschte, aus der sie erst die politische Niederlage der Sandinisten 1990, nach der sich das Land dem "Washington Consensus" anschloss (zur Enttäuschung aller Aktivist*innen), befreien konnte. Auch die Hoffnungen der jungen Christen wurden enttäuscht, als zunehmend ein reaktionärer Katholizismus gegenüber den reformorientierten Graswurzelbewegungen die Macht übernahm.</p><p>In eine ganz andere Richtung geht <strong>Kapitel 4</strong>, "<em>Chinas Öffnung unter Deng Xiaoping</em>". Die Öffnung selbst begann zwar bereits 1978; Bösch rechtfertigt die Aufnahme neben der offensichtlichen Bedeutung aber, indem er als Anlass Dengs Besuch in den USA im Januar 1979 nimmt. Das Kapitel selbst öffnet mit einem Rückblick auf Maos katastrophale Wirtschaftspolitik und Abschottung. Diese hatten neben den offensichtlichen Effekten auf China auch die Wirkung, dass der Westen praktisch keinen Einblick in das Land hatte. Die wenigen Expert*innen, die sich mit dem Land beschäftigten, waren oft darauf zurückgeworfen, Textexzegese aus Zeitungsschnippseln zu betreiben und auf diese Art den Kurs der KPCh herauszufinden.</p><p>Die Haltung des Westens gegenüber China hatte sich bereits in den 1970er Jahren geändert, weil der Wandel der Beziehung zu Moskau durch Pekings 180-Grad-Wende die Nutzung von China als Hebel gegen die UdSSR erlaubte. Auf diese Art wurde die Volksrepublik vom Feind plötzlich zum Verbündeten der USA und damit der Konservativen. Doch auch die Linken entdeckten ab 1968 eine Liebe zu dem Land, weil die Ernüchterung über den Charakter des Sowjetkommunismus, die spätestens mit dem Prager Frühling weite Teile der europäischen Linken erfasst hatte, zu einem Umschwenken vom Leninismus auf den scheinbar "reineren" und "unverfälschteren" Maoismus ermöglichte. Umgekehrt lief es entsprechend für das sozialistische Deutschland, dessen Beziehungen zu Peking sich drastisch verschlechterten.</p><p>Dengs Antrittsbesuch in den USA war nur der erste in einer ganzen Reihe von Auslandsreisen sowohl Dengs als auch anderer Funktionäre. Sie entledigten sich praktisch des kompletten normalen Protokolls solcher Staatsbesuche und legten den Fokus auf die Besichtigung von Fabriken statt Monumenten und symbolisch relevanten Orten. Die Chinesen inszenierten sich als lernwillig und untergeordnet, was der Westen liebte - und den Gästen so bereitwillig Zugang verschaffte, in der Hoffnung, Zugang zu dem potenziell riesigen chinesischen Markt zu bekommen, den man als Konkurrent nie ernst nahm.</p><p>China indes legte ein Modernisierungsprogramm auf, in dem die Sonderwirtschaftszonen das Kernstück bildeten. Die Hoffnungen der deutschen Wirtschaft blieben aber vorerst unerfüllt; die Investitionen und Absätze blieben sehr begrenzt. Ein Avantgardist war VW, die in der Standardform der Joint Venture unter chinesischer Führung eine frühe Vorreiterrolle bei der Motorisierung des Landes einnahmen. Auch die DDR näherte sich wieder an das Regime an, da Deng doch keine Liberalisierung zu planen schien, die den Kommunisten gefährlich werden könnte. Das zeigte sich dann an Tiananmen, der die Beziehungen zum Westen (und dem Großteil des Ostblocks) kurzzeitig eintrübte und der nur in Ostberlin glühende Anfänger fand. Die deutsche Einheit war kein Ereignis, das China sonderlich gefiel; die Beziehungen zwischen Peking und dem wiedervereinigten Land waren fast ein Jahrzehnt eher frostig, schon allein, weil Deng und seine Nachfolger die Sowjetunion und ihren Sturz als völlig bescheuert betrachteten. Die Beziehungen erholten sich allerdings wieder und sorgten für einen Exportboom des deutschen Chinageschäfts, mit den Folgen, die uns bis heute prägen.</p><p><strong>Kapitel 5</strong>, "<em>Die Boat People aus Vietnam</em>", beschäftigt sich zwar auch mit dem Fernen Osten, allerdings aus einer ganz anderen Perspektive. Die 1978 massive Ausmaße annehmende Flucht aus Vietnam fand im Westen breite Anteilnahme. Wie 2015 geriet eine länger schwelende Flüchtlingskrise plötzlich in den Fokus der westlichen Öffentlichkeit, und eine positive Stimmung gegenüber den Geflüchteten griff um sich. Diese erreichte 1979 einen ersten Höhepunkt, als das privat betriebene Rettungsschiff "Cap Anamur" Geflüchtete rettete und nach Deutschland ausflog, das ansonsten kein natürlicher Fluchtpunkt gewesen wäre.</p><p>Anders als 2015ff. waren es aber die CDU/CSU, massiv Druck zur Aufnahme von Geflüchteten machten, während die Linke die Aufnahme eher ablehnte. Der Grund dafür lag in der parteipolitischen Instrumentalisierung: die Boat People flüchteten aus einem kommunistischen Staat, so dass man die Menschenrechte und das eigene christliche Werteverständnis gegen die Linken in Stellung bringen konnte, die ihrerseits aus ebenso parteilicher Prägung ein Problem mit Geflüchteten aus kommunistischen Staaten hatten. Wie bereits in Nicaragua bildetete sich das gesamtgesellschaftlich aber nicht ab; die Unterstützung war hier übergreifend. Unterstützt wurde diese "refugees welcome"-Stimmung von sich aktivistisch gerierender Presse, die - angetrieben durch die gute Pressearbeit des "Cap Anamur"-Teams - den Boden bereitete.</p><p>Es wird wohl niemand überraschen, dass die deutsche Bürokratie und der Föderalismus Rettungen stark erschwerten. Deswegen schafften die Bundesländer damals die Kontigentstruktur (und den so genannten "Kontingentflüchtling") und modifizierten so das Asylrecht, das damit in seiner heutigen Form überhaupt erst geschaffen wurde und den Sprung von individuellen staatlich Verfolgten und Deutschen Geflüchteten aus der DDR zu einem weltweiten System machte. Die CDU/FDP unterstützten damals auch noch die "Cap Anamur" und forderten eine gesamtdeutsche Lösung (im Sinne von: alle westlichen Bundesländer gemeinsam). Dies stieß der Schmidt-Regierung sauer auf, schon allein, weil die amateurhaften Rettungsaktionen für zahlreiche diplomatische Verwicklungen in der Region sorgten. Zu Beginn der 1980er Jahre war auch ein deutlicher Wechsel der Stimmung bemerkbar, und es mehrten sich Vorwürfe, die "Cap Anamur" schaffe überhaupt erst die Geflüchteten, weil es quasi sichere Rettung auf dem Pazifik böte, ein Argument, das angesichts der Weite des Ozeans und eines einzelnen Schiffs reichlich absurd ist.</p><p>Die CDU-geführten Bundesländer, allen voran Niedersachsen unter der Regierung Albrecht, unterliefen lange die Regierungsablehnung und erhöhten auf eigene Kosten die Kontingente und halfen bei der Finanzierung der "Cap Anamur". Auf diese Art konnten sie eine hochgradig sichtbare "Nebenaußenpolitik" betreiben (wie die Grünen im Fall Nicaragua) und sich profilieren. 1982 endeten die Rettungen dann, einerseits wegen den dauferhaften diplomatischen Verwicklungen, andererseits aber auch wegen der geänderten öffentlichen Stimmung und sicherlich nicht zuletzt wegen dem Regierungswechsel, der die Union in Regierungsverantwortung brachte.</p><p>Deutlich kriegerischer geht es in <strong>Kapitel 6</strong>, "<em>Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan</em>", zu. Das Land hatte lange eine Pendelpolitik zwischen dem Westen und der UdSSR betrieben und sich nicht auf eine Seite festgelegt. Der Widerstand im Land gegen die brutale Herrschaft des Diktators Amin aber weckte in der UdSSR Befürchtungen vor Aufständen in den demografisch aufstrebenden, islamisch geprägten Südrepubliken der Sowjetunion. Im Westen andererseits betrachtete man das sowjetische Interesse mit Sorge, da die Ölkrise die Befürchtung einer sowjetischen "Umarmung" des Mittleren Ostens aufkommen ließ ("Roter Ring ums Öl"). Beide Befürchtungen waren völlig überzogen, erklären aber die gewaltige Bedeutung, die beide Supermächte dem Konflikt in einem der ärmsten Länder der Erde beimaßen.</p><p>Der offizielle Grund für den sowjetischen Einmarsch war das Beenden der Gewalt von Amin, was zuerst durchaus auch positiv wahrgenommen wurde. Es gelang eine schnelle Übernahme der Regierung. Zu diesem Zeitpunkt standen 80.000 Rotarmisten im Land; das wäre der Moment des Abzugs gewesen. Stattdessen enagierte sich die UdSSR, trotz starker Konflikte zu dem Thema im Politbüro, stärker in Afghanistan und versuchte, das neue Regime zu stabilisieren. Diese Missachtung der Souveränität führte zu einer zunehmenden internationalen Isolation (besonders markant am Boykott der Olympischen Spiele 1980 zu sehen), aber auch zu Spannungen im Ostblock selbst, weil kein Land bereit war, die Politik der UdSSR mitzutragen.</p><p>Der Westen framte den Einmarsch als Angriff auf die Blockfreien und gegen den Islam. Dieses Narrativ war eine Art Doppelschlag, um nicht die Beziehungen zum Ostblock (Entspannungspolitik!) zu gefährden und geichzeitig die Blockfreien gegen UdSSR aufzubringen. In diesen Tagen begann auch der Aufstieg des Narrativs der "Befreiungskämpfer" über die Mudjaheddin. Diese erhielten ihre Unterstützung aber von Pakistan, das seinerseits einen deutlichen Influx von Militärhilfen aus dem Westen erhielt, damit keine direkte Verwicklung nachweisbar war. Ab 1984 leisteten die USA allerdings auch offene Hilfe für die Mudjaheddin und lieferten moderne Waffen und Wissen anstatt nur ausrangiertes sowjetisches Gerät über Pakistan zu liefern.</p><p>Auch im Fall Afghanistans positionierte sich die CDU für die Geflüchteten aus dem Konflikt und die von ihr geführten Bundesländer leisteten umfangreiche Hilfen, um so den eigenen Antikommunismus zu verknüpfen. Die Schmidtregierung trug die Unterstützungspolitik der USA überhaupt nicht mit, weil man die Beziehungen zum Osten - die Früchte der Ostpolitik - nicht gefährden wollte.</p><p>Die UdSSR unterdrückte nachhaltig sämtliche Informationen über den Krieg und verschwieg den Einsatz der Soldaten, deren Tod nicht einmal in Todesanzeigen veröffentlicht werden durfte. Der Krieg wurde verschwiegen und hatte einen unangenehmen, falschen Ruch im Land; im Ostblock sowieso. Nach dem unrühmlichen Rückzug 1988 waren die Veteranen dann entsprechend isoliert. In der heutigen Geschichtsklitterung verherrlicht Putin den Krieg als Antiterroreinsatz, während der Westen bequem und gerne seine Begeisterung für die Mudjaheddin vergessen hat, die 1995 den Taliban Platz machten, die dann ihrerseits die Technik und Kenntnisse 2001 zum Einsatz brachten.</p><p><strong>Kapitel 7</strong>, "<em>Thatchers Wahl und die Gründung der Grünen</em>", fasst zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Themen zusammen. Wie sich aber im Verlauf des Kapitels zeigt, macht dies durchaus Sinn. Bösch kümmert sich zuerst um Thatcher. Ihr Amt als Parteichefin erreichte sie ähnlich wie Angela Merkel durch eine Krise der alten Führungsschicht und das mit ihr einhergehende Machtvakuum. Sie nutzte eine betont weibliche Erscheinung, um Problemlösungskompetenz und emotionale Kompetenz zu vermitteln und kombinierte dies mit "männlicher" Härte und Entschlusskraft. Letztlich war ihr Image das einer zupackenden Hausfrau, die jetzt den Saustall aufräumt. Zu dieser Inszenierung gehörte auch die als Aufsteigerin aus armen Verhältnissen, die aber wenig Verankerung in der Realutät hatte. In Wahrheit entstammte Thatcher dem oberen Bürgertum und war zudem mit einem Millionär verheiratet. Sie interessierte sich nicht für Gleichberechtigungsthemen und ist daher keine Feministin; den Begriff lehnte sie auch entschieden ab.</p><p>Der historische Moment ihrer Machtübernahme fiel in den Krisensituation 1978/79, den "<em>Winter of Discontent</em>". Die große Macht der Gewerkschaften, die diese in rücksichtslosen Streiks ausspielten, hatten in den vergangenen beiden Jahren für einen wachsenden gesamtgesellschaftlichen Hass auf die Gewerkschaften gesorgt, die das normale Leben zum Erliegen brachte. Als Thatcher sich ihnen entgegenstellte hatte sie nicht nur ihren Wahlkampfschlager, sondern auch den Hebel zu einer Umgestaltung der britischen Gesellschaft, wie sie erstrebte.</p><p>Ihr Konzept der Liberalisierung und Deregulierung scheiterte allerdings recht schnell und blieb sehr inkonzise. Zwar wurden zahlreiche Staatsunternehmen privatisiert; die Sozialausgaben stiegen aber rasant an, so dass von einem geringerern Staatshaushalt keine Rede sein konnte. Ohne die Falklandkrise und die kulminierte Auseinandersetzung mit den Bergbaugewerkschaften bei den Streiks 1983 hätte sie die Wiederwahl wohl nicht geschafft.</p><p>Man sollte allerdings nicht annehmen, dass ihre Regierungszeit folgenlos geblieben sei. Die Ungleichheit im Vereinigten Königreich stieg drastisch, ohne dass Staatssektor wesentlich kleiner geworden wäre (ein Muster, das sich unter Reagan in den USA wiederholen sollte). Die Ideologie des Monetarismus sorgte für eine scharfe Wirtschaftskrise (die maßgeblich zu Thatchers schwieriger politischer Situation Anfang der 1980er Jahre beitrug), dann aber in den 1980er Jahren selbst für eine Erholung der Wirtschaft und eine Begrenzung der Inflation, das große Schreckgespenst der 1970er Jahre. Die größere Ungleichheit aber blieb erhalten und machte Großbritannien zu einem Spezialfall innerhalb Europas.</p><p>In Deutschland galt Thatcher als Vorbild, ironischerweise auch auch bei einigen Linken. Helmut Schmidt glaubte, sich in ihr wiederzuzerkennen, und Franz Josef Strauß bezeichnete sich im Wahlkampf 1980 als "deutscher Thatcher". Auch Kohl und seine Weggefährten modellierten sich bewusst als ihre Erben (ähnlich wie Gerhard Schröder 1998 den Schulterschluss zu Tony Blair suchen würde). In dem Zusammenhang geht Bösch auch auf das Wort der "geistig-moralischen Wende" ein, das er als rein linke Rhetorik sieht; die CDU selbst verwendete den Begriff nicht. Es handelt sich also, ähnlich wie bei "neoliberal", eher um einen politischen Kampfbegriff als ein real existierendes Programm. Ähnlich wie in Großbritannien wurde auch in Deutschland kein grundsätzlicher Kurswechsel eingeleitet, sondern eher umverteilt und die Ungleichheit vertieft, wenngleich bei weitem nicht in dem Ausmaß wie im Vereinigten Königreich. Die schwarz-gelbe Regierung setzte allenfalls einen Thatcherismus-light um, und der war schon bestenfalls Friedman-light.</p><p>Die Gründung der Grünen indessen sieht Bösch als liberales Spiegelbild dieser eher auf die Wirtschaft fokussierten liberalen Entwicklung. Natürlich setzten sie auf völlig andere Konzepte als die Wirtschaftsliberalen, aber genauso wie bei Thatcher und Co kamen die Grünen aus dem Bürgertum. Sie hatten ihre Ursprünge beim klassischen großstädtischen FDP-Milieu, das bereits in den 1970er Jahren seinen linksliberalen Flügel in dem Maße an die neue Bewegung zu verlieren begann, in dem die Partei in Richtung des Lambsdorff-Flügels wanderte. Die Betonung von Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Staatsskepsis bei den Grünen genauso wie ihr Glaube an Maßnahmen, die von Einzelnen getroffen wurden, machen sie quasi zum Spiegelbild der Neoliberalen.</p><p>In <strong>Kapitel 8</strong>, "<em>Die zweite Ölkrise</em>", geht es dann endlich zu dem Ereignis, das die anderen Kapitel immer wieder berührte: die zweite Ölkrise. Bösch beginnt sinnigerweise mit einem Rückblick auf die Ölkrise 1973. Diese kam nicht aus dem Nichts; die Ölpreise waren bereits seit den 1960ern im Anstieg, was ein ganzes Bündel von Ursachen hatte und für das auf das billige Öl angewiesene Wirtschafts- und Wachstumssystem des Westens ein Anzeichen für Probleme wenigstens hätte sein sollen. Der eigentliche Ölboykott im Rahmen des Jom-Kippur-kriegs diente den westlichen Regierungen dann als praktischer Sündenbock, um eigene Versäumnisse zu übertünchen (ein Schelm, wer da Parallelen zur heutigen Situation erkennen möchte).</p><p>Der Boykott aber war globapolitisch bedeutsam, weil der Paukenschlag des Entstehens eines neuen Machtblocks in der OPEC, die scheinbar die Macht zur Abwürgung des Westens hatte, die ohnehin durch die Entspannungspolitik laufende Annäherung von Ost und West stark begünstigte. Der Westen kaufte in hohem Maße Rohstoffe aus dem Osten und lieferte im Gegenzug vor allem Pipelines. Daran knüpften sich (wie wir heute wissen: völlig überzogene) Hoffnungen auf "Wandel durch Handel". Beide hatten wenig Interesse an einem neuen Machtblock (der dann auch nicht kommen sollte, aber das war in der hitzigen Atmosphäre 1973 noch nicht absehbar). Die Ölpreise stiegen 1973 auch gar nicht so stark und die Krise war daher weniger einschneidend als die von 1979, blieb aber wegen der ergriffenen symbolischen Maßnahmen wie autofreien Sonntage (die sich 1979 nicht wiederholen würden) einprägsamer.</p><p>Die Krise von 1979 befeuerte allerdings einen bereits begonnen Trend zum Energiesparen. Während manche der verordneten Maßnahmen nur symbolisch zu sehen waren, sollte man ihren Wert trotzdem nicht unterschätzen, da sie der Schaffung von Aufmerksamkeit für das Thema dienten. Die bundesdeutsche Regierung versuchte vor allem, die Wirtschaft und die Bevölkerung zu effizienteren Geräten zu bringen um direkte Interventionen zu vermeiden, weswegen die BRD auch - anders als praktisch alle anderen europäischen Länder - kein Tempolimit einführte, ein Sonderweg, den wir bis heute trotz seiner klaren Energiesparpotenziale aufrecht erhalten.</p><p>Für den Energiemix war die Ölkrise ebenfalls bedeutsam. Die Bundesrepublik schwenkte von Öl auf Kohle und Gas um (letzteres hauptsächlich aus der Sowjetunion, mit den bekannten Konsequenzen). Es erfolgten zwar rhetorische Bekenntnisse zum Ausbau der Erneuerbaren Energien, anders als etwa Dänemark aber unternahm man keine Schritte in diese Richtung, sondern schätzte, dass dies um 2000 herum von allein geschehen würde.</p><p>Die Sowjetunion profitierte durch die gestiegenen Rohstoffpreise und die Entspannung von der Ölkrise, was aber auch im Ostblock zu steigenden Preisen führte. Die DDR schwenkte deswegen auf den umweltverpestenden Abbau von Braunkohle um, von dem wir uns bis heute nicht entfernt haben. Die Konsolidierung eines neuen OPEC-Machtblocks blieb letztendlich aus; die viel beschworene Einigkeit der arabischen Staaten war eine Schimäre. Vor allem Saudi-Arabien brach in den frühen 1980er Jahren aus und senkte die Preise durch Erhöhung der Fördermengen, während es sich außenpolitisch an die USA anschmiegte.</p><p>Bösch sieht die Ölkrise zudem als Grund für die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre deutlich unterschätzt. Die steigenden Preise würgten die Wirtschaft ab und heizten die Inflation an, ein nicht unerheblicher Grund für die Stagflation. Umgekehrt sorgten die fallenden Preise in den frühen 1980er Jahren für einen erneuten Wirtschaftsaufschwung, der auch das Scheitern der Privatisierungsprogramme übertünchte und wesentlich zur Erholung der Wirtschaft beitrug.</p><p>Der Energiemix spielt auch in <strong>Kapitel 9</strong>, "<em>Der AKW-Unfall bei Harrisburg</em>", eine tragende Rolle. Genauso wie gegen Atombomben hatte es stets Widerstand gegen die Atomenergie gegeben (weswegen die Branche auch den Begriff "Kernenergie" zu etablieren versuchte), aber den Unfall von Harrisburg sieht Bösch als Wegmarke. Bereits in den 1960er Jahren und besonders dann ab den 1970er Jahren mehrten sich die Proteste gegen die Atomenergie.</p><p>Bösch zeigt dabei auf, dass es bereits vor Harrisburg zahlreiche Störfälle, auch in BRD, gegeben hatte, die immer wieder für Teilabschaltungen der Kraftwerke und aufwändige Reparaturen sorgten, was die Energieform sehr viel weniger effizient als ihr viel beschworenes Potenzial machte. Auch die ebenso viel beschworene Unabhängigkeit, die gerade im Zuge der Ölkrise in den Fokus rückte, war angesichts der Abhängigkeit von Uranimporten (das vor allem aus den USA bezogen wurde) wenig tragfähig. Die Bundesrepublik schwenkte ab 1973 auf Importe aus Namibia und der UdSSR um, weil diese als sicherere Quelle schienen als die USA (mit denen man politisch immer wieder über Kreuz lag). Auch hier sind die Parallelen zur Ölkrise offenkundig. Für die BRD war die Kernkraft allerdings in anderer Hinsicht wirtschaftlich bedeutend, nämlich als Exportmarkt: das Know-How zum Bau und Unterhalt von Reaktoren wurde in die ganze Welt verkauft, was maßgeblich zu den Spannungen mit den USA beiträgt, wo etwa Iran betroffen ist.</p><p>Bösch arbeitet auch die internationale Vernetzung der Kernkraftgegner heraus. Dies war ein Novum der Protestbewegung, aus dem sie große Kraft schöpfte: die Globalisierung sorgte dafür, dass man sich als eine Gemeinschaft fühlte, und ein Störfall in einem AKW in einem anderen Land wirkte plötzlich als Bedrohung im eigenen und als Bestätigung des eigenen Gefühls der Unsicherheit, das dadurch stetige Nahrung erhielt - und natürlich durch die schiere Zahl an Störfällen, die zunehmend das Vertrauen in die Expert*innen erschütterte; auch eine Dynamik, die wir heute gut kennen.</p><p>Zwar wurde das Vertrauen im Westen durch Reformen und verbesserte Sicherheitsmaßnahmen im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre teilweise wiederhergestellt; die Bevölkerung blieb aber überwiegend skeptisch, weswegen es ab 1970 auch mehr zu einem weiteren Ausbau der Atomkraft kam. Auffällig ist die Dynamik, dass die zahlreichen Störfäll im Westen gut aufgearbeitet wurden und daher zu mehr Protest und sinkender Unterstützung für die Energieform, aber zu wesentlich besserer Sicherheitführten), während sie im Osten vertuscht wurden, was genau den gegenteiligen Effekt hatte. In zahlreichen Ländern wurden in den 1970er Jahren Moratorien auf die Kernkraft ausgegeben; vielerorts (etwa in Dänemark, Italien, Schweden, USA) entstanden praktisch keine neuen Kraftwerke, allenfalls wurden alte Baustellen fertiggestellt.</p><p>All diese Dynamiken wurden durch den Unfall von Harrisburg wie durch ein Brennglas verschärft. Die Medien sprangen mit Begeisterung auf den Zug auf; besonders der Spiegel titelte mit kernkraftkritischen Covern und trug maßgeblich zu der Anti-Atomkraft-Haltung der Bevölkerung bei. Ein Großteil der westeuropäischen Länder und der USA kam zu dem Schluss, dass Atomenergie zu teuer und störanfällig war; in den Ausnahmefällen Großbritannien und Frankreich wurde sie vor allem als nationales Prestigeobjekt weiter betrieben.</p><p>Den Abschluss der Ereignisse macht in <strong>Kapitel 10</strong>, "<em>Die Fernsehserie "Holocaust"</em>", das Thema Vergangenheitsbewältigung. Die Fernsehserie war ein globales Fernsehereignis, das weltweit 250 Millionen Zuschauer*innen vor die Bildschirme lockte. Vor der Ausstrahlung war der Holocaust im öffentlichen Gedächtnis nicht besonders stark verankert gewesen. Die deutsche Regierung fürchtete einen großen Imageschaden und wollte sie eigentlich gar nicht ausstrahlen; besonders die CDU-geführte Länder blockierten den Ankauf der Rechte und die Ausstrahlung, weswegen die Serie schließlich im dritten Programm gesendet wurde. Das war durchaus mehrheitsfähig; die deutschen Medien und die Politik machten die Serie unisono schlecht, bevor sie ausgestrahlt wurde (und bevor irgendjemand sie gesehen haben konnte), indem sie - mit einer gehörigen Portion Antiamerikanismus - ihre Trivialität und den amerikanisierten Unterhaltungscharakter betonten. In Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit bislang lag die Betonung auf dem deutschen Widerstand; die 1970er Jahre sahen zudem einen Fokus auf die Nazi-Haupttäter, paradigmatisch in Fests Hitlerbiografie.</p><p>"Holocaust" war dagegen als Familiendrama mit zwei Seiten (eine jüdische Familie und eine deutsche Familie mit SS-Mann) konzipiert, um für eine möglichst breite Schicht ansprechend zu sein. Sie war zudem erstaunlich nah an den geschichtswissenschaftlichen Trends, indem sie (anders als die deutschen Produktionen) die Idee der "Radikalisierung von unten", also des Holocausts als Eskalation der Bürokratie, zum ersten Mal breitflächig rezipierte. Zwar war die Serie ein Melodrama, aber historisch erstaunlich korrekt (jedenfalsl für den damaligen Stand der Wissenschaft). Die deutsche Geschichtswissenschaft hinkte dem ziemlich hinterher, weil sie sich mit dem Holocaust kaum beschäftigt hatte.</p><p>Die CDU bestand dann auf der Position, die Serie nur auszustrahlen, wenn gleichzeitig auch das Leid der Deutschen gezeigt werde, weswegen rasch einige Dokus produziert wurden, die auch "anspruchsvoll" sein sollten (anders als, so behauptete man, "Holocaust"). Dahinter stand die Furcht, dass der die Serie ankaufende WDR ("Rotfunk") eine linke Agenda verfolge, der man sich präventiv entgegenstellen müsse (Kohls Interesse an einer geschichtspolitischen Wende wird hier wieder deutlich). Vorsorglich wurde die Serie so geschnitten, dass die Deutschen weniger schuldig erschienen; das hoffnungsvolle Ende mit der Auswanderung nach Palästina wurde gleich ganz gekürzt. Zudem wurde die Serie auf schlechte Sendeplätze (21 Uhr) gedrängt. Es war das Dauerthema der Kritik, dass "Holocaust" zu seicht und trivial sei, während deutsche Werke dagegen ernstzunehmend und qualitativ wertvoll seien.</p><p>Trotz all dieser Hürden war die Serie ein Riesenerfolg (ein Viertel aller Deutschen sah sie komplett, deutlich über die Hälfte wenigstens eine Folge) und brachte einen Boom der Beschäftigung mit dem Thema, gerade auch in die Schulen (wo sie bisher praktisch nicht stattfand). Anders als behauptet war die Qualität der Serie nicht das Problem; vielmehr konnten die deutschen Konkurrenzproduktionen (die wie gefordert dann vor allem die Vertreibung aus den Ostgebieten thematisierten und die Rettung von Juden durch Deutsche zeigten) kaum überzeugen. Ironischerweise übernahmen in der Folgezeit deutsche Produktionen das emotionalisierende Schema der Serie, bauten dieses aber so um, dass Holocaust ausgespart wurde und ständig bildungsbürgerliche Mischehen im Zentren standen. Auch der in der Serie thematisierte jüdische Widerstand wurde konsequent ausgespart. Generell verweigerte sich die Bundesrepublik unter Kohls Kanzlerschaft konsequent einem zentralen Gedenken (weswegen das Holocaust-Mahnmal in Berlin auch erst 2006 fertig wurde und in Bonn nie eines entstand).</p><p>Für den Umgang mit dem Holocaust kann die Serie, die den Begriff selbst überhaupt erst salonfähig machte (zum Leidwesen derer, die den Begriff der Shoa zu etablieren versuchen), kaum überschätzt werden. Außerhalb Deutschlands fällt vor allem die Amerikanisierung des Holocaust auf. Anders als befürchtet führte die Ausstrahlung nicht zu einem Imageschaden Deutschlands; vielmehr bezogen die Amerikaner*innen das Geschehen auf sich, und 75% der Befragten gaben an zu glauben, dass dies auch im eigenen Land möglich sei. Die USA bauten noch lange vor Deutschland Holocaust-Mahnmähler und richteten zentrale, große Museen für den Genozid ein.</p><p>All das ging an DDR vorbei, wo keine Debatte über den Holocaust stattfand. Stattdessen erklärte das SED-Regime, dass man in vorbildlicher antifaschistischer Haltung das Problem des Rassimus überwunden habe und fuhr damit fort vor allem der kommunistischen Opfer der NS-Terrorherrschaft zu gedenken. Der bis heute auch wesentlich schlechtere Kenntnisstand über die NS-Verbrechen in Ostdeutschland ist auch ein Erbe dieser Verweigerung der SED, sich mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen.</p><p>In einem <strong>Epilog </strong>bindet Bösch dann alles noch einmal zusammen und betont vor allem die globalen Verflechtungen der verschiedenen Themen. Die 1970er Jahre warfen bereits deutliche Schatten auf die kommende Globalisierung und zeitigten den Zeitgenossen ein erstes Wetterleuchten einer global vernetzten Gesellschaft, wenngleich vorläufig noch auf den Westen begrenzt.</p><p>---</p><p>Insgesamt fand ich die Lektüre des Buch überaus bereichernd. Ich war anfangs skeptisch über die Struktur, die globale Phänome so explizit auf den deutschen Kontext bezog, aber die Konsequenz und bewusste Setzung stellte sich für mich schnell als ungeheurer Gewinn heraus, weil sie anders als "unabsichtlich" deutschzentrierte Darstellungen stets die internationale Dynamik mitdenkt. Die Auswahl der Ereignisse ist natürlich, genauso wie das Jahr, etwas reißerisch und arbiträr, taugt aber als Gedankenstütze völlig und sollte nicht zu wörtlich genommen werden.</p><p>Ein Faktor, der mir neu war und mich besonders fasziniert, ist die 180-Grad-Wende bei der Positionierung in vielen Themen seitens der CDU und SPD (etwa in der Flüchtlingspolitik), die durch die spezifische Situation des Kalten Krieges erklärbar ist (und natürlich das Spiel von Opposition und Regierung). Der christliche Flügel der CDU war aber seinerzeit noch wesentlich stärker als heute, und der Menschenrechtsdiskurs der Zeit hatte in der Partei zwar spezifisch konservative, aber deutlich wahrnehmbare Spuren hinterlassen.</p><p>Ebenfalls erleuchtend fand ich, wie international viele der Ereignisse, etwa die Atomkraftgegnerschaft, rezipiert wurden. Darin findet sich sicherlich ein wesentlicher Bruch gegenüber der Zeit zuvor; die Globalisierung war, anders als die Ende des 19. Jahrhunderts, wesentlich breiter und erfasste viel mehr Bevölkerungsschichten.</p><p>Auffällig ist für mich auch die wahnsinnig schlechte Holocaustbildung in den 1970er Jahren. Der Geschichtsunterricht endete damals üblicherweise mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus, und die breite Öffentlichkeit beschäftigte sich kaum mit der Thematik, die man weitgehend zu verdrängen versuchte. Der für unsere heutige Gesellschaft so konstitutive Umgang mit dem NS-Genozid fand seinen Ursprung in jener Ära. Vielleicht wäre er auch ohne die Serie gekommen, aber sicherlich nicht mit solcher Wucht. Die Versuche einer neuen geschichtlichen Identität, die Kohl stärker als jeder andere Kanzler betrieb, hätten wohl ohne die Sensibilisierung durch die Serie auch nicht so viel Widerstand hervorgerufen. Bösch sieht - und ich stimme ihm zu - die Proteste angesichts von Kohls Bitburg-Besuch als direkte Folge der Ausstrahlung.</p><p>Zuletzt finde ich die Rolle des Medienaktivismus auffällig. Ob "Cap Anamur" oder Kernkraft, die Medien waren in den 1970er Jahren wesentlich daran beteiligt, die kritischen Öffentlichkeiten mitzugestalten. Die oft behauptete Vorstellung, dass wir es heute mit besonders aktivistischen Medien zu tun hätten, während früher mehr Neutralität geherrscht habe, kann also einmal mehr in den Bereich des Wunschdenkens verwiesen werden (eine Entwicklung, die ich bereits in meiner wissenschaftlichen Arbeit 2010 für den Wahlkampf 1972 nachgewiesen habe).</p><p>Damit bleibt mir eigentlich nur, eine unbedingte Empfehlung für das Buch auszusprechen.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-3876841684069318666.post-80663041011136193802023-12-01T09:09:00.002+01:002023-12-01T09:09:00.133+01:00Rezension: Frank Bösch - Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann (Teil 3)<p> </p><p><img alt="" height="1" src="https://vg04.met.vgwort.de/na/92777f2a4ef6439a9e674e9bfdd5db82" w7ny3954p="" width="1" />Teil 1 <a href="https://www.deliberationdaily.de/2023/11/rezension-frank-boesch-zeitenwende-1979-als-die-welt-von-heute-begann-teil-1/">hier</a>, Teil 2 hier.</p><p><a href="https://www.amazon.de/Zeitenwende-1979-Welt-heute-begann/dp/3406754961?_encoding=UTF8&qid=1697360209&sr=8-3&linkCode=li3&tag=httpgeschicht-21&linkId=b1fa002df33e45f2191ef5ebe30d84bd&language=de_DE&ref_=as_li_ss_il" rel="noopener" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;" target="_blank"><img border="0" class="alignleft" src="//ws-eu.amazon-adsystem.com/widgets/q?_encoding=UTF8&ASIN=3406754961&Format=_SL250_&ID=AsinImage&MarketPlace=DE&ServiceVersion=20070822&WS=1&tag=httpgeschicht-21&language=de_DE" /></a>In <strong>Kapitel 8</strong>, "<em>Die zweite Ölkrise</em>", geht es dann endlich zu dem Ereignis, das die anderen Kapitel immer wieder berührte: die zweite Ölkrise. Bösch beginnt sinnigerweise mit einem Rückblick auf die Ölkrise 1973. Diese kam nicht aus dem Nichts; die Ölpreise waren bereits seit den 1960ern im Anstieg, was ein ganzes Bündel von Ursachen hatte und für das auf das billige Öl angewiesene Wirtschafts- und Wachstumssystem des Westens ein Anzeichen für Probleme wenigstens hätte sein sollen. Der eigentliche Ölboykott im Rahmen des Jom-Kippur-kriegs diente den westlichen Regierungen dann als praktischer Sündenbock, um eigene Versäumnisse zu übertünchen (ein Schelm, wer da Parallelen zur heutigen Situation erkennen möchte).<span></span></p><a name='more'></a><p></p><p>Der Boykott aber war globapolitisch bedeutsam, weil der Paukenschlag des Entstehens eines neuen Machtblocks in der OPEC, die scheinbar die Macht zur Abwürgung des Westens hatte, die ohnehin durch die Entspannungspolitik laufende Annäherung von Ost und West stark begünstigte. Der Westen kaufte in hohem Maße Rohstoffe aus dem Osten und lieferte im Gegenzug vor allem Pipelines. Daran knüpften sich (wie wir heute wissen: völlig überzogene) Hoffnungen auf "Wandel durch Handel". Beide hatten wenig Interesse an einem neuen Machtblock (der dann auch nicht kommen sollte, aber das war in der hitzigen Atmosphäre 1973 noch nicht absehbar). Die Ölpreise stiegen 1973 auch gar nicht so stark und die Krise war daher weniger einschneidend als die von 1979, blieb aber wegen der ergriffenen symbolischen Maßnahmen wie autofreien Sonntage (die sich 1979 nicht wiederholen würden) einprägsamer.</p><p>Die Krise von 1979 befeuerte allerdings einen bereits begonnen Trend zum Energiesparen. Während manche der verordneten Maßnahmen nur symbolisch zu sehen waren, sollte man ihren Wert trotzdem nicht unterschätzen, da sie der Schaffung von Aufmerksamkeit für das Thema dienten. Die bundesdeutsche Regierung versuchte vor allem, die Wirtschaft und die Bevölkerung zu effizienteren Geräten zu bringen um direkte Interventionen zu vermeiden, weswegen die BRD auch - anders als praktisch alle anderen europäischen Länder - kein Tempolimit einführte, ein Sonderweg, den wir bis heute trotz seiner klaren Energiesparpotenziale aufrecht erhalten.</p><p>Für den Energiemix war die Ölkrise ebenfalls bedeutsam. Die Bundesrepublik schwenkte von Öl auf Kohle und Gas um (letzteres hauptsächlich aus der Sowjetunion, mit den bekannten Konsequenzen). Es erfolgten zwar rhetorische Bekenntnisse zum Ausbau der Erneuerbaren Energien, anders als etwa Dänemark aber unternahm man keine Schritte in diese Richtung, sondern schätzte, dass dies um 2000 herum von allein geschehen würde.</p><p>Die Sowjetunion profitierte durch die gestiegenen Rohstoffpreise und die Entspannung von der Ölkrise, was aber auch im Ostblock zu steigenden Preisen führte. Die DDR schwenkte deswegen auf den umweltverpestenden Abbau von Braunkohle um, von dem wir uns bis heute nicht entfernt haben. Die Konsolidierung eines neuen OPEC-Machtblocks blieb letztendlich aus; die viel beschworene Einigkeit der arabischen Staaten war eine Schimäre. Vor allem Saudi-Arabien brach in den frühen 1980er Jahren aus und senkte die Preise durch Erhöhung der Fördermengen, während es sich außenpolitisch an die USA anschmiegte.</p><p>Bösch sieht die Ölkrise zudem als Grund für die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre deutlich unterschätzt. Die steigenden Preise würgten die Wirtschaft ab und heizten die Inflation an, ein nicht unerheblicher Grund für die Stagflation. Umgekehrt sorgten die fallenden Preise in den frühen 1980er Jahren für einen erneuten Wirtschaftsaufschwung, der auch das Scheitern der Privatisierungsprogramme übertünchte und wesentlich zur Erholung der Wirtschaft beitrug.</p><p>Der Energiemix spielt auch in <strong>Kapitel 9</strong>, "<em>Der AKW-Unfall bei Harrisburg</em>", eine tragende Rolle. Genauso wie gegen Atombomben hatte es stets Widerstand gegen die Atomenergie gegeben (weswegen die Branche auch den Begriff "Kernenergie" zu etablieren versuchte), aber den Unfall von Harrisburg sieht Bösch als Wegmarke. Bereits in den 1960er Jahren und besonders dann ab den 1970er Jahren mehrten sich die Proteste gegen die Atomenergie.</p><p>Bösch zeigt dabei auf, dass es bereits vor Harrisburg zahlreiche Störfälle, auch in BRD, gegeben hatte, die immer wieder für Teilabschaltungen der Kraftwerke und aufwändige Reparaturen sorgten, was die Energieform sehr viel weniger effizient als ihr viel beschworenes Potenzial machte. Auch die ebenso viel beschworene Unabhängigkeit, die gerade im Zuge der Ölkrise in den Fokus rückte, war angesichts der Abhängigkeit von Uranimporten (das vor allem aus den USA bezogen wurde) wenig tragfähig. Die Bundesrepublik schwenkte ab 1973 auf Importe aus Namibia und der UdSSR um, weil diese als sicherere Quelle schienen als die USA (mit denen man politisch immer wieder über Kreuz lag). Auch hier sind die Parallelen zur Ölkrise offenkundig. Für die BRD war die Kernkraft allerdings in anderer Hinsicht wirtschaftlich bedeutend, nämlich als Exportmarkt: das Know-How zum Bau und Unterhalt von Reaktoren wurde in die ganze Welt verkauft, was maßgeblich zu den Spannungen mit den USA beiträgt, wo etwa Iran betroffen ist.</p><p>Bösch arbeitet auch die internationale Vernetzung der Kernkraftgegner heraus. Dies war ein Novum der Protestbewegung, aus dem sie große Kraft schöpfte: die Globalisierung sorgte dafür, dass man sich als eine Gemeinschaft fühlte, und ein Störfall in einem AKW in einem anderen Land wirkte plötzlich als Bedrohung im eigenen und als Bestätigung des eigenen Gefühls der Unsicherheit, das dadurch stetige Nahrung erhielt - und natürlich durch die schiere Zahl an Störfällen, die zunehmend das Vertrauen in die Expert*innen erschütterte; auch eine Dynamik, die wir heute gut kennen.</p><p>Zwar wurde das Vertrauen im Westen durch Reformen und verbesserte Sicherheitsmaßnahmen im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre teilweise wiederhergestellt; die Bevölkerung blieb aber überwiegend skeptisch, weswegen es ab 1970 auch mehr zu einem weiteren Ausbau der Atomkraft kam. Auffällig ist die Dynamik, dass die zahlreichen Störfäll im Westen gut aufgearbeitet wurden und daher zu mehr Protest und sinkender Unterstützung für die Energieform, aber zu wesentlich besserer Sicherheitführten), während sie im Osten vertuscht wurden, was genau den gegenteiligen Effekt hatte. In zahlreichen Ländern wurden in den 1970er Jahren Moratorien auf die Kernkraft ausgegeben; vielerorts (etwa in Dänemark, Italien, Schweden, USA) entstanden praktisch keine neuen Kraftwerke, allenfalls wurden alte Baustellen fertiggestellt.</p><p>All diese Dynamiken wurden durch den Unfall von Harrisburg wie durch ein Brennglas verschärft. Die Medien sprangen mit Begeisterung auf den Zug auf; besonders der Spiegel titelte mit kernkraftkritischen Covern und trug maßgeblich zu der Anti-Atomkraft-Haltung der Bevölkerung bei. Ein Großteil der westeuropäischen Länder und der USA kam zu dem Schluss, dass Atomenergie zu teuer und störanfällig war; in den Ausnahmefällen Großbritannien und Frankreich wurde sie vor allem als nationales Prestigeobjekt weiter betrieben.</p><p>Den Abschluss der Ereignisse macht in <strong>Kapitel 10</strong>, "<em>Die Fernsehserie "Holocaust"</em>", das Thema Vergangenheitsbewältigung. Die Fernsehserie war ein globales Fernsehereignis, das weltweit 250 Millionen Zuschauer*innen vor die Bildschirme lockte. Vor der Ausstrahlung war der Holocaust im öffentlichen Gedächtnis nicht besonders stark verankert gewesen. Die deutsche Regierung fürchtete einen großen Imageschaden und wollte sie eigentlich gar nicht ausstrahlen; besonders die CDU-geführte Länder blockierten den Ankauf der Rechte und die Ausstrahlung, weswegen die Serie schließlich im dritten Programm gesendet wurde. Das war durchaus mehrheitsfähig; die deutschen Medien und die Politik machten die Serie unisono schlecht, bevor sie ausgestrahlt wurde (und bevor irgendjemand sie gesehen haben konnte), indem sie - mit einer gehörigen Portion Antiamerikanismus - ihre Trivialität und den amerikanisierten Unterhaltungscharakter betonten. In Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit bislang lag die Betonung auf dem deutschen Widerstand; die 1970er Jahre sahen zudem einen Fokus auf die Nazi-Haupttäter, paradigmatisch in Fests Hitlerbiografie.</p><p>"Holocaust" war dagegen als Familiendrama mit zwei Seiten (eine jüdische Familie und eine deutsche Familie mit SS-Mann) konzipiert, um für eine möglichst breite Schicht ansprechend zu sein. Sie war zudem erstaunlich nah an den geschichtswissenschaftlichen Trends, indem sie (anders als die deutschen Produktionen) die Idee der "Radikalisierung von unten", also des Holocausts als Eskalation der Bürokratie, zum ersten Mal breitflächig rezipierte. Zwar war die Serie ein Melodrama, aber historisch erstaunlich korrekt (jedenfalsl für den damaligen Stand der Wissenschaft). Die deutsche Geschichtswissenschaft hinkte dem ziemlich hinterher, weil sie sich mit dem Holocaust kaum beschäftigt hatte.</p><p>Die CDU bestand dann auf der Position, die Serie nur auszustrahlen, wenn gleichzeitig auch das Leid der Deutschen gezeigt werde, weswegen rasch einige Dokus produziert wurden, die auch "anspruchsvoll" sein sollten (anders als, so behauptete man, "Holocaust"). Dahinter stand die Furcht, dass der die Serie ankaufende WDR ("Rotfunk") eine linke Agenda verfolge, der man sich präventiv entgegenstellen müsse (Kohls Interesse an einer geschichtspolitischen Wende wird hier wieder deutlich). Vorsorglich wurde die Serie so geschnitten, dass die Deutschen weniger schuldig erschienen; das hoffnungsvolle Ende mit der Auswanderung nach Palästina wurde gleich ganz gekürzt. Zudem wurde die Serie auf schlechte Sendeplätze (21 Uhr) gedrängt. Es war das Dauerthema der Kritik, dass "Holocaust" zu seicht und trivial sei, während deutsche Werke dagegen ernstzunehmend und qualitativ wertvoll seien.</p><p>Trotz all dieser Hürden war die Serie ein Riesenerfolg (ein Viertel aller Deutschen sah sie komplett, deutlich über die Hälfte wenigstens eine Folge) und brachte einen Boom der Beschäftigung mit dem Thema, gerade auch in die Schulen (wo sie bisher praktisch nicht stattfand). Anders als behauptet war die Qualität der Serie nicht das Problem; vielmehr konnten die deutschen Konkurrenzproduktionen (die wie gefordert dann vor allem die Vertreibung aus den Ostgebieten thematisierten und die Rettung von Juden durch Deutsche zeigten) kaum überzeugen. Ironischerweise übernahmen in der Folgezeit deutsche Produktionen das emotionalisierende Schema der Serie, bauten dieses aber so um, dass Holocaust ausgespart wurde und ständig bildungsbürgerliche Mischehen im Zentren standen. Auch der in der Serie thematisierte jüdische Widerstand wurde konsequent ausgespart. Generell verweigerte sich die Bundesrepublik unter Kohls Kanzlerschaft konsequent einem zentralen Gedenken (weswegen das Holocaust-Mahnmal in Berlin auch erst 2006 fertig wurde und in Bonn nie eines entstand).</p><p>Für den Umgang mit dem Holocaust kann die Serie, die den Begriff selbst überhaupt erst salonfähig machte (zum Leidwesen derer, die den Begriff der Shoa zu etablieren versuchen), kaum überschätzt werden. Außerhalb Deutschlands fällt vor allem die Amerikanisierung des Holocaust auf. Anders als befürchtet führte die Ausstrahlung nicht zu einem Imageschaden Deutschlands; vielmehr bezogen die Amerikaner*innen das Geschehen auf sich, und 75% der Befragten gaben an zu glauben, dass dies auch im eigenen Land möglich sei. Die USA bauten noch lange vor Deutschland Holocaust-Mahnmähler und richteten zentrale, große Museen für den Genozid ein.</p><p>All das ging an DDR vorbei, wo keine Debatte über den Holocaust stattfand. Stattdessen erklärte das SED-Regime, dass man in vorbildlicher antifaschistischer Haltung das Problem des Rassimus überwunden habe und fuhr damit fort vor allem der kommunistischen Opfer der NS-Terrorherrschaft zu gedenken. Der bis heute auch wesentlich schlechtere Kenntnisstand über die NS-Verbrechen in Ostdeutschland ist auch ein Erbe dieser Verweigerung der SED, sich mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen.</p><p>In einem <strong>Epilog </strong>bindet Bösch dann alles noch einmal zusammen und betont vor allem die globalen Verflechtungen der verschiedenen Themen. Die 1970er Jahre warfen bereits deutliche Schatten auf die kommende Globalisierung und zeitigten den Zeitgenossen ein erstes Wetterleuchten einer global vernetzten Gesellschaft, wenngleich vorläufig noch auf den Westen begrenzt.</p><p>---</p><p>Insgesamt fand ich die Lektüre des Buch überaus bereichernd. Ich war anfangs skeptisch über die Struktur, die globale Phänome so explizit auf den deutschen Kontext bezog, aber die Konsequenz und bewusste Setzung stellte sich für mich schnell als ungeheurer Gewinn heraus, weil sie anders als "unabsichtlich" deutschzentrierte Darstellungen stets die internationale Dynamik mitdenkt. Die Auswahl der Ereignisse ist natürlich, genauso wie das Jahr, etwas reißerisch und arbiträr, taugt aber als Gedankenstütze völlig und sollte nicht zu wörtlich genommen werden.</p><p>Ein Faktor, der mir neu war und mich besonders fasziniert, ist die 180-Grad-Wende bei der Positionierung in vielen Themen seitens der CDU und SPD (etwa in der Flüchtlingspolitik), die durch die spezifische Situation des Kalten Krieges erklärbar ist (und natürlich das Spiel von Opposition und Regierung). Der christliche Flügel der CDU war aber seinerzeit noch wesentlich stärker als heute, und der Menschenrechtsdiskurs der Zeit hatte in der Partei zwar spezifisch konservative, aber deutlich wahrnehmbare Spuren hinterlassen.</p><p>Ebenfalls erleuchtend fand ich, wie international viele der Ereignisse, etwa die Atomkraftgegnerschaft, rezipiert wurden. Darin findet sich sicherlich ein wesentlicher Bruch gegenüber der Zeit zuvor; die Globalisierung war, anders als die Ende des 19. Jahrhunderts, wesentlich breiter und erfasste viel mehr Bevölkerungsschichten.</p><p>Auffällig ist für mich auch die wahnsinnig schlechte Holocaustbildung in den 1970er Jahren. Der Geschichtsunterricht endete damals üblicherweise mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus, und die breite Öffentlichkeit beschäftigte sich kaum mit der Thematik, die man weitgehend zu verdrängen versuchte. Der für unsere heutige Gesellschaft so konstitutive Umgang mit dem NS-Genozid fand seinen Ursprung in jener Ära. Vielleicht wäre er auch ohne die Serie gekommen, aber sicherlich nicht mit solcher Wucht. Die Versuche einer neuen geschichtlichen Identität, die Kohl stärker als jeder andere Kanzler betrieb, hätten wohl ohne die Sensibilisierung durch die Serie auch nicht so viel Widerstand hervorgerufen. Bösch sieht - und ich stimme ihm zu - die Proteste angesichts von Kohls Bitburg-Besuch als direkte Folge der Ausstrahlung.</p><p>Zuletzt finde ich die Rolle des Medienaktivismus auffällig. Ob "Cap Anamur" oder Kernkraft, die Medien waren in den 1970er Jahren wesentlich daran beteiligt, die kritischen Öffentlichkeiten mitzugestalten. Die oft behauptete Vorstellung, dass wir es heute mit besonders aktivistischen Medien zu tun hätten, während früher mehr Neutralität geherrscht habe, kann also einmal mehr in den Bereich des Wunschdenkens verwiesen werden (eine Entwicklung, die ich bereits in meiner wissenschaftlichen Arbeit 2010 für den Wahlkampf 1972 nachgewiesen habe).</p><p>Damit bleibt mir eigentlich nur, eine unbedingte Empfehlung für das Buch auszusprechen.</p>Stefan Sassehttp://www.blogger.com/profile/03504751435668017553noreply@blogger.com0