Samstag, 13. August 2022

Rezension: Thomas Sandkühler - Das Fußvolk der »Endlösung«. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. »Aktion Reinhardt«: die Rolle der »Trawniki-Männer« und ukrainischer Hilfspolizisten

 

Thomas Sandkühler - Das Fußvolk der »Endlösung«. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. »Aktion Reinhardt«: die Rolle der »Trawniki-Männer« und ukrainischer Hilfspolizisten

Obwohl der Holocaust wohl eines der best-rezipierten Themen der deutschen Geschichte ist, gibt es in der Forschung immer noch zahlreiche Leerstellen und Unklarheiten. Dazu kommt, dass die Interpretation des Holocaust großen Änderungen unterworfen ist, die von der Öffentlichkeit nicht immer nachvollzogen werden - zumindest nicht auch nur annähernd in der Geschwindigkeit, in der die Forschung voranschreitet. Obwohl etwa die Bedeutung des Teils des Holocaust, der sich außerhalb der Vernichtungslager durch Erschießungen und andere direkte Gewalt vollzog - immerhin etwa die Hälfte der Morde - in der Forschung seit den 1990er Jahren stark in den Fokus gerückt ist, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch die Rampe von Birkenau und mit ihr die Vorstellung eines industriellen, organisierten, effizienten Massenmords vorherrschend. Dazu gehört auch eine kuriose Entfernung von den eigentlichen Taten: die deutsche Rezeption legte in der Forschung und legt noch immer in der Öffentlichkeit großes Gewicht auf die "Schreibtischtäter" und die Bürokratie des Terrors, die das spezifisch Deutsche des Holocaust gut zu unterstreichen scheinen - einerseits seine Singularität in der Industralität, andererseits die Effizienz, die mit dem deutschen Selbstbild auf geradezu perverse Art zusammenpasst. Tatsächlich legten die Nazis Wert darauf, die Drecksarbeit nach Möglichkeit andere für sich machen zu lassen. Auf dieses "Fußvolk der Endlösung" legt Thomas Sandkühler im vorliegenden gleichnamigen Band seine Aufmerksamkeit.

Donnerstag, 11. August 2022

Rezension: Matthew Gabrielle/David M. Perry - The Bright Ages: A New History of Medieval Europe

 

Matthew Gabrielle/David M. Perry - The Bright Ages: A New History of Medieval Europe (Hörbuch)

Im Jahr 476 fiel das Römische Reich. Germanische Stämme plünderten die "Ewige Stadt", der letzte Kaiser wurde abgesetzt und das Reich zerfiel. Mit ihm ging das Licht zivilisatorischen Fortschritts aus der Welt und machte den "Dunklen Zeiten" Platz, einer Ära der Gewalt und der Unwissenheit, in der religiöser Aberglauben die Philosophie, kleine Feudalherren die römische Bürokratie und das Faustrecht den Pax Romana ersetzten. Aus diesem Morast entwickelten sich harte Krieger, die Ritter, und die Beginne der europäischen Nationen, die sich dann in der Neuzeit formieren würden. Sein Ende fand dieses dunkle Mittelalter mit der Renaissance ab dem 15. Jahrhundert, in dem die antiken Wissensbestände wiederentdeckt und der Buchdruck erfunden wurden und die Wissenschaft den Aberglauben zurückzudrängen begann, während die europäischen Nationalstaaten die Welt unterwarfen und schließlich mit der Industriellen Revolution ins Zeitalter der Moderne eintrafen. So zumindest lautet eine grob zusammengefasste Vulgärversion dessen, was viele über das Mittelalter zu wissen glauben. Das Gerede von den "Dunklen Zeiten", den "dark ages", wird von der Wissenschaft seit mittlerweile einem Jahrhundert in Zweifel gestellt, hält sich aber hartnäckig. Matthew Gabrielle und David M. Perry unternehmen in dem vorliegenden Band einen neuen Versuch: sie postulieren, es seien stattdessen "Helle Zeiten", "bright ages", gewesen. Ich kann an revisionistischer Geschichtsschreibung nie einfach nur vorbeigehen, und das Klischee des düsteren Mittelalters stört mich schon lange. Also habe ich mir das Buch zu Gemüte geführt.

Mittwoch, 3. August 2022

Rezension: Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser - Die vergessene Regierung: Die große Koalition 1966-1969 und ihre langfristigen Wirkungen

 

Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser - Die vergessene Regierung: Die große Koalition 1966-1969 und ihre langfristigen Wirkungen

Als ich meine Reihe über das Ranking der deutschen Kanzler*innen nach ihrer historischen Bedeutung schrieb, habe ich Kurt Georg Kiesinger auf den vorletzten Platz verbannt. Während wohl niemand Ludwig Erhardt den wohlverdienten letzten Platz streitig machen würde, gab es durchaus Stimmen, die sich für Kiesinger in die Bresche warfen. Und nicht zu Unrecht. Die Große Koalition ist, abgesehen von ihrer Rolle als Geburtshelferin für die (heillos überschätzt) APO, weitgehend in Vergessenheit geraten. Wie bereits der Titel des Buchs von Reinhard Schmoeckel und Bruno Kaiser verrät, vertreten die Autoren die These, dass die Große Koalition durchaus eine Menge langfristiger Auswirkungen hatte.