Dienstag, 13. Dezember 2022

Oral History: Noch nicht soweit - "Black and White"

Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge soll es um den Zugriff auf mediale Erzeugnisse gehen, von Musik über Filme zu TV-Serien zu Videospielen.

Wir schreiben das Jahr 2001. Peter Molyneux, legendärer Spieleentwickler der 1990er Jahre und Schöpfer von Klassikern wie "Theme Park", "Syndicate" und "Dungeon Keeper", veröffentlicht mit seinem Studio Lionhead Games nach jahrelanger Entwicklungszeit "Black and White", einen Göttersimulator. Falls jemand dachte, dass Peter Molyneux jemals an mangelndem Selbstwertgefühl gelitten hat, wird man hier eines Besseren belehrt.

Freitag, 25. November 2022

Rezension: Peter H. Wilson - Iron and Blood. A Military History of the German Speaking Peoples Since 1500

 

Peter H. Wilson - Iron and Blood. A Military History of the German Speaking Peoples Since 1500 (Hörbuch)

Deutsche Militärgeschichte ist nicht eben ein Feld, das arm an Veröffentlichungen wäre. Es ist allerdings ein Feld, das arm an zeitgenössischer, seriöser Forschung ist und eines, auf dem ansonsten die schlimmsten Exemplare der Populärwissenschaft unterwegs sind (ihr wisst schon, die Hälfte der Zeitschriftenauslage an Kiosken). Klischee reiht sich an Klischee, und in Deutschland selbst ist die Beschäftigung mit dem Gegenstand ohnehin wenn nicht mit einem Tabu belegt so doch zumindest vage unappetittlich. Wenig überraschend, dass die meiste Forschung aus dem englischsprachigen Ausland kommt. Der vorliegende Band, der im November 2022 ganz neu von Peter H. Wilson erschienen ist (bekannt etwa durch seine ausführliche Studie des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in "Heart of Europe", das ich hier besprochen habe) und viele Vorschusslorbeeren erhalten hat, setzt sich explizit das Durchbrechen der typischen borussischen Klischees zum Ziel und legt eine Militärgeschichte aller deutschsprechenden Völker vor, der nicht beim Großen Kurfürsten, sondern über ein Jahrhundert vorher ansetzt. Allein dieser Ansatz macht die Lektüre wert. Doch der Band kann auch anderweitig bestechen.

Rezension: Peter Doyle - Percy. A Story of 1918

 

Peter Doyle - Percy. A Story of 1918

Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs fasziniert Menschen bis heute, weil sie, in den Worten Dan Carlins, die Extreme der menschlichen Existenz so eindrücklich untermalt. Werke wie "Im Westen nichts Neues" oder "In Stahlgewittern", aber auch Dramen wie "Journey's End" oder (neuerdings) "1917" beschäftigen sich mit der Thematik. Das Jahr 1918 hat immer einen besonderen Stellenwert in diesen Erzählungen, weil Tode in diesem Jahr die besondere zusätzliche Dramatik haben, kurz vor Ende dieses sinnlosen Gemetzels stattgefunden zu haben. Der profilierte Weltkriegs-Historiker Peter Doyle, mit dem ich über "Im Westen nichts Neues" im Speziellen und Erster-Weltkriegs-Narrative im Allgemeinen auch einen Podcast aufgenommen habe, hat auf Basis von Briefen und anderen Dokumenten ein Einzelschicksal jener letzten Monate rekonstruiert, das von Tim Godden mit liebenswerten Illustrationen angereichert wurde.

Montag, 21. November 2022

Rezension: Peter H. Wilson – Iron and Blood. A Military History of the German Speaking Peoples Since 1500 (Teil 2)

 

Peter H. Wilson - Iron and Blood. A Military History of the German Speaking Peoples Since 1500 (Hörbuch)

Teil 1 findet sich hier.

Das Ende der napoleonischen Kriege sah die europäischen Staaten erschöpft und ihre Finanzen zerrüttet. Obwohl die Kriege zahlreiche Defizite in den Militärstrukturen der deutschen Staaten aufgezeigt hatten - vom zahlenmäßig zu geringen Anteil der Artillerie über die zu kurze Reichweite der Glattrohre über die Fehleranfälligkeit der Musketen, von organisatorischen Defiziten gar nicht zu sprechen - gab es wenig Anreiz, diese anzugehen, weil sie einerseits teuer waren und andererseits Reformen erforderten, die von den konservativen Fürsten mit Verve abgelehnt wurden. 

Freitag, 11. November 2022

Rezension: Peter H. Wilson - Iron and Blood. A Military History of the German Speaking Peoples Since 1500 (Teil 1)

 

Peter H. Wilson - Iron and Blood. A Military History of the German Speaking Peoples Since 1500 (Hörbuch)

Deutsche Militärgeschichte ist nicht eben ein Feld, das arm an Veröffentlichungen wäre. Es ist allerdings ein Feld, das arm an zeitgenössischer, seriöser Forschung ist und eines, auf dem ansonsten die schlimmsten Exemplare der Populärwissenschaft unterwegs sind (ihr wisst schon, die Hälfte der Zeitschriftenauslage an Kiosken). Klischee reiht sich an Klischee, und in Deutschland selbst ist die Beschäftigung mit dem Gegenstand ohnehin wenn nicht mit einem Tabu belegt so doch zumindest vage unappetittlich. Wenig überraschend, dass die meiste Forschung aus dem englischsprachigen Ausland kommt. Der vorliegende Band, der im November 2022 ganz neu von Peter H. Wilson erschienen ist (bekannt etwa durch seine ausführliche Studie des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in "Heart of Europe", das ich hier besprochen habe) und viele Vorschusslorbeeren erhalten hat, setzt sich explizit das Durchbrechen der typischen borussischen Klischees zum Ziel und legt eine Militärgeschichte aller deutschsprechenden Völker vor, der nicht beim Großen Kurfürsten, sondern über ein Jahrhundert vorher ansetzt. Allein dieser Ansatz macht die Lektüre wert. Doch der Band kann auch anderweitig bestechen.

Mittwoch, 2. November 2022

Rezension: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael - Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970

 

Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael - Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970

Ich erinnere mich noch gut daran, im Wintersemester 2006/2007 mein erstes Hauptseminar bei Anselm Doering-Manteuffel belegt zu haben: "Profile der 70er Jahre". Damals war die Erforschung dieser Epoche gerade in den Anfängen. Die Zeitgeschichte hat immer das Problem, dass sie, wenn sie zu nahe an die Gegenwart rückt, nicht nur unter dem fehlenden Zugang zu Quellen leidet (die Sperrfristen der Archive sind unerbittlich), sondern dass zeitgenössische Debatten und Begrifflichkeiten die Diskussionen beeinflussen und verundeutlichen. Zusammen mit Lutz Raphael hat Doering-Manteuffel deswegen schon 2008 den Band "Nach dem Boom: Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970" vorgelegt, der vor allem dazu dient, ein neues Grundgerüst für die Forschung über jene Epoche aufzubauen. Natürlich sorgte der Band in der Fachgemeinschaft für rege Diskussion, und so überarbeiteten die Autoren ihn und schärften ihre Argumente. Ich habe die dritte Auflage von 2010 gelesen und rezensiere diese hier.

Sonntag, 16. Oktober 2022

Rezension: Kyle Harper - Fate of Rome: Climate, Disease, and the End of an Empire

 

Kyle Harper - Fate of Rome: Climate, Disease, and the End of an Empire (Hörbuch)

Spätestens seit Edward Gibbon lässt die Frage, warum das Römische Reich fiel, die westliche Welt nicht los. Zu faszinierend ist das Narrativ von Zivilisation und Dekadenz, von Hochkultur und Niedergang. Allzu offensichtlich ließen sich Parallelen zur stets als prekär empfunden eigenen Lage ziehen, im deutschen Sprachraum am bekanntesten in Oswald Spenglers "Untergang des Abendlands". Die moralisch überhöhten Untergangsnarrative hat die Forschung (wenngleich nicht die populäre Wahrnehmung) mittlerweile glücklicherweise hinter sich gelassen. Trotzdem bereitet der Untergang als Ereignis immer noch zahlreiche Fragen. Kyle Harper legt mit diesem Buch eine neue These vor, die er explizit als komplementär zu bestehenden Argumentationen sieht, für die er aber zuversichtlich einen erhöhten Erklärungsbedarf sieht: das Römische Reich fiel, weil es ihm nicht gelang, ein Gleichgewicht zwischen Ausbeutung und Natur zu schaffen. Es war eine Kombination aus Viren und Klimakrise. Es ist eine starke These, aber es dürfte unbestreitbar sein, dass dies bisher in Narrativen über den Untergang des Reiches keine große Rolle gespielt hat.

Donnerstag, 13. Oktober 2022

Bei Netflix nichts Neues

 

Seit 1979 ist der weltberühmte Roman "Im Westen nichts Neues" nicht mehr verfilmt worden. Zuvor war der Stoff 1930 in einer oscarprämierten und mindestens ebenso berühmten (wenngleich in meinen Augen völlig überschätzten) Version verfilmt worden. Nun hat sich Edward Berger des Stoffes angenommen und für Netflix mit einem Budget von immerhin 16 Millionen Euro verfilmt. Dafür bekommt man eine Folge "House of the Dragon" und immerhin rund 57 Minuten "Herr der Ringe - Die Ringe der Macht". Aber für eine deutsche Produktion ist das ein ordentliches Preisschild, und die Produzierenden gehen auch entsprechend hausieren. Der Film ist der deutsche Beitrag für die Oscar-Verleihung, und niemand macht einen Hehl daraus, dass man den Auslandsfilm-Oscar gewinnen möchte. Darin liegt auch der Grund, dass der Netflix-Film in Deutschland in ausgewählten Kinos läuft - was mir wiederum die Chance gegeben hat, ihn zusammen mit rund 140 Schüler*innen im eigens reservierten Kinosaal anzusehen. Es ist eine Erfahrung, auf die ich lieber verzichtet hätte.

Mittwoch, 12. Oktober 2022

Rezension: Andrei Soldatov - The New Nobility: The Restoration of Russia's Security State and the Enduring Legacy of the KGB

Andrei Soldatov - The New Nobility: The Restoration of Russia's Security State and the Enduring Legacy of the KGB (Hörbuch)

Der russische FSB genießt einen schier legendären Ruf, der zu guten Teilen auf einer langen Traditionslinie beruht: der gefürchtete zaristische Geheimdienst stellte sich nach 1917 lückenlos als NKWD in die Dienste der kommunistischen Diktatur und wurde bald darauf in den KGB umstrukturiert, der nicht nur ein Repertoire an Antagonisten für James Bond zu stellen wusste, sondern auch für das Funktionieren der Diktatur unabdingbar war. Über 200.000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen und vermutlich Millionen Zuträger*innen schufen den Polizeistaat der Sowjetunion. Unter Jelzin gab es Versuche, den KGB zu entmachten und demokratischer Kontrolle zu erstellen. Doch bald waren diese beendet, und 2000 übernahm mit Wladimir Putin der ehemalige Chef des nun in FSB umbenannten Geheimdiensts das höchste Amt im Staat. Er belohnte seine Weggefährten fürstlich: ein neuer Adel entstand, der dem vorliegenden Buch von Andrei Soldatov den Namen gegeben hat.

Donnerstag, 22. September 2022

Rezension: M. E. Sarotte - Not one inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate

 

M. E. Sarotte - Not one inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate (Hörbuch)

In der Krise um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022/23 brachten die Gegner*innen einer Sanktionspolitik gegenüber Russland und Unterstützungspolitik für die Ukraine häufig das Argument vor, dass die NATO zumindest eine Mitschuld an dem russischen Angriff trage, da sie durch ihre Osterweiterung und damit eine Verschiebung der strategischen Peripherie nach Russlands Grenzen hin einen sicherheitspolitischen Druck erzeugt habe, den Moskau durch eigene Handlungen erleichtern zu suchen müsste. Sie beklagen das Verpassen einer Chance, Russland in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubunden. Ich habe über den Mythos, dass die Osterweiterung der NATO gegen Versprechen des Westens während des Falls des Eisernen Vorhangs verstoßen habe, schon einmal thematisiert. M. E. Sarottes Buch war nun eine willkommene Gelegenheit, um sich näher mit dieser Epoche und der Diplomatie darin zu beschäftigen.

Montag, 12. September 2022

Rezension: Dan Diner - Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942

 

Dan Diner - Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942

Wir haben sowohl hier in Deutschland als auch im Westen allgemein einen verzerrten Blick auf den Zweiten Weltkrieg. Wir Deutschen betrachten ihn meist mit uns selbst als Zentrum: Westfeldzug, Barbarossa, die Peripherie mit Balkan, Nordafrika (exotisch!) und Griechenland. Jahrzehnte triumphaler popkultureller US-Einflüsse haben uns außerdem sattsam mit dem Unternehmen Overlord und Market Garden gemacht. Dan Diner will von diesen wohlausgetretenen Narrativen nichts wissen. Stattdessen stellt er das jüdische Palästina in den Zentrum seiner Betrachtung der Jahre 1935 bis 1942, die auch nicht eben die übliche chronologische Einordnung des Zweiten Weltkriegs sind. Dafür gibt es gute Gründe, denn dieser Fokus ermöglicht ihm einen faszinierenden Blick auf diesen Konflikt und seine Auswirkungen, der wenig mit den eher deutschzentrischen Sichtweisen, an die wir gewöhnt sind, zu tun haben.

Samstag, 13. August 2022

Rezension: Thomas Sandkühler - Das Fußvolk der »Endlösung«. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. »Aktion Reinhardt«: die Rolle der »Trawniki-Männer« und ukrainischer Hilfspolizisten

 

Thomas Sandkühler - Das Fußvolk der »Endlösung«. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. »Aktion Reinhardt«: die Rolle der »Trawniki-Männer« und ukrainischer Hilfspolizisten

Obwohl der Holocaust wohl eines der best-rezipierten Themen der deutschen Geschichte ist, gibt es in der Forschung immer noch zahlreiche Leerstellen und Unklarheiten. Dazu kommt, dass die Interpretation des Holocaust großen Änderungen unterworfen ist, die von der Öffentlichkeit nicht immer nachvollzogen werden - zumindest nicht auch nur annähernd in der Geschwindigkeit, in der die Forschung voranschreitet. Obwohl etwa die Bedeutung des Teils des Holocaust, der sich außerhalb der Vernichtungslager durch Erschießungen und andere direkte Gewalt vollzog - immerhin etwa die Hälfte der Morde - in der Forschung seit den 1990er Jahren stark in den Fokus gerückt ist, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch die Rampe von Birkenau und mit ihr die Vorstellung eines industriellen, organisierten, effizienten Massenmords vorherrschend. Dazu gehört auch eine kuriose Entfernung von den eigentlichen Taten: die deutsche Rezeption legte in der Forschung und legt noch immer in der Öffentlichkeit großes Gewicht auf die "Schreibtischtäter" und die Bürokratie des Terrors, die das spezifisch Deutsche des Holocaust gut zu unterstreichen scheinen - einerseits seine Singularität in der Industralität, andererseits die Effizienz, die mit dem deutschen Selbstbild auf geradezu perverse Art zusammenpasst. Tatsächlich legten die Nazis Wert darauf, die Drecksarbeit nach Möglichkeit andere für sich machen zu lassen. Auf dieses "Fußvolk der Endlösung" legt Thomas Sandkühler im vorliegenden gleichnamigen Band seine Aufmerksamkeit.

Donnerstag, 11. August 2022

Rezension: Matthew Gabrielle/David M. Perry - The Bright Ages: A New History of Medieval Europe

 

Matthew Gabrielle/David M. Perry - The Bright Ages: A New History of Medieval Europe (Hörbuch)

Im Jahr 476 fiel das Römische Reich. Germanische Stämme plünderten die "Ewige Stadt", der letzte Kaiser wurde abgesetzt und das Reich zerfiel. Mit ihm ging das Licht zivilisatorischen Fortschritts aus der Welt und machte den "Dunklen Zeiten" Platz, einer Ära der Gewalt und der Unwissenheit, in der religiöser Aberglauben die Philosophie, kleine Feudalherren die römische Bürokratie und das Faustrecht den Pax Romana ersetzten. Aus diesem Morast entwickelten sich harte Krieger, die Ritter, und die Beginne der europäischen Nationen, die sich dann in der Neuzeit formieren würden. Sein Ende fand dieses dunkle Mittelalter mit der Renaissance ab dem 15. Jahrhundert, in dem die antiken Wissensbestände wiederentdeckt und der Buchdruck erfunden wurden und die Wissenschaft den Aberglauben zurückzudrängen begann, während die europäischen Nationalstaaten die Welt unterwarfen und schließlich mit der Industriellen Revolution ins Zeitalter der Moderne eintrafen. So zumindest lautet eine grob zusammengefasste Vulgärversion dessen, was viele über das Mittelalter zu wissen glauben. Das Gerede von den "Dunklen Zeiten", den "dark ages", wird von der Wissenschaft seit mittlerweile einem Jahrhundert in Zweifel gestellt, hält sich aber hartnäckig. Matthew Gabrielle und David M. Perry unternehmen in dem vorliegenden Band einen neuen Versuch: sie postulieren, es seien stattdessen "Helle Zeiten", "bright ages", gewesen. Ich kann an revisionistischer Geschichtsschreibung nie einfach nur vorbeigehen, und das Klischee des düsteren Mittelalters stört mich schon lange. Also habe ich mir das Buch zu Gemüte geführt.

Mittwoch, 3. August 2022

Rezension: Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser - Die vergessene Regierung: Die große Koalition 1966-1969 und ihre langfristigen Wirkungen

 

Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser - Die vergessene Regierung: Die große Koalition 1966-1969 und ihre langfristigen Wirkungen

Als ich meine Reihe über das Ranking der deutschen Kanzler*innen nach ihrer historischen Bedeutung schrieb, habe ich Kurt Georg Kiesinger auf den vorletzten Platz verbannt. Während wohl niemand Ludwig Erhardt den wohlverdienten letzten Platz streitig machen würde, gab es durchaus Stimmen, die sich für Kiesinger in die Bresche warfen. Und nicht zu Unrecht. Die Große Koalition ist, abgesehen von ihrer Rolle als Geburtshelferin für die (heillos überschätzt) APO, weitgehend in Vergessenheit geraten. Wie bereits der Titel des Buchs von Reinhard Schmoeckel und Bruno Kaiser verrät, vertreten die Autoren die These, dass die Große Koalition durchaus eine Menge langfristiger Auswirkungen hatte.

Freitag, 22. Juli 2022

Rezension: Ezra M. Vogel - Deng Xiaoping and the transformation of China (Gesamtartikel)

 

Rezension: Ezra M. Vogel - Deng Xiaoping and the transformation of China (Hörbuch)

Der Tod Mao Zedongs 1976 war eine Wasserscheide in der Entwicklung Chinas. Einer der größten Massenmörder der Geschichte, der mit dem "Großen Sprung nach vorn" und der "Kulturrevolution" sein Land zweimal mutwillig an den Rand des Abgrunds gebracht hatte, war nicht mehr. 1978 folgte ihm Deng Xiaoping nach, der China auf einen "neuen Pfad" setzt - ein Pfad, der rapide zu wirtschaftlichem Aufstieg führen sollte. Deng Xiaoping kann man wohl mit Fug und Recht als Vater des modernen China bezeichnen, was Grund genug ist, sich mit ihm und seiner Politik näher zu beschäftigen. Ezra Vogels umfassende Biografie unternimmt es, sein Leben vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen nachzuzeichnen. Er legt dabei eine Biografie kommunistischer Hinterzimmerpolitik mit all den Stärken und Schwächen vor, die an dem Ansatz hängen - aber dazu gleich mehr.

Mittwoch, 6. Juli 2022

Rezension: Art Spiegelman - Maus

 

Rezension: Art Spiegelman - Maus

Es ist nicht das erste Mal, das ich "Maus" lese, und auch nicht das zweite. Aber ich habe mich zu dem Graphic Novel hingezogen gefühlt, nachdem ich in Krakau im "Galicia Jewish Museum" die dortige Ausstellung "Sweet Home Sweet" gesehen habe. Diese befasste sich mit der Geschichte eines Holocaust-Überlebenden, aber mit dem ungewöhnlichen Zugang, seine Nachkommen in Oral History zu Wort kommen zu lassen. Was mir dabei besonders auffiel war das intergenerationelle Trauma, das in all den Zeugnissen zum Ausdruck kam. Der Holocaust hatte seine Spuren auch noch in der zweiten und dritten Generation hinterlassen, etwa wenn die Kinder nicht verstehen konnten, wie egal ihrem Vater ihre Probleme oftmals waren, weil sie neben der Vernichtung des Rests der Familie in den Gaskammern nie Signifikanz erzielen konnten. Neben der Haupthandlung des Überlebens in Auschwitz, die bisher bei "Maus" mein Hauptaugenmerk eingenommen hatte, thematisiert die Geschichte ja aber auch genau dieses intergenerationelle Trauma, das der nach dem Krieg geborene Art Spiegelman von seinem Vater Vladek indirekt mitbekam. Unter dem Eindruck des Jüdischen Museums, des Schindler-Museums und natürlich der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau selbst, die ich vergangene Woche mit Schüler*innen besucht habe, fühlte ich mich stark zu einer neuen Lektüre des Graphic Novel hingezogen.

Dienstag, 5. Juli 2022

Rezension: Alexander Thiele - Der konstituierte Staat: Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

 

Alexander Thiele - Der konstituierte Staat: Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

Eines der positiven Produkte der Corona-Pandemie war eine Flut von Podcasts, die von Leuten gemacht wurden, die viel zu sagen hatten, aber bis dato das Medium nicht für sich entdeckt hatten. Eine dieser Personen war Alexander Thiele, Verfassungshistoriker an der Universität Göttingen, der angesichts des Lockdowns für seine Studierenden und das interessierte Publikum einen Podcast zur Verfassungsgeschichte der Neuzeit produzierte. Dieser war - völlig zu Recht - sehr erfolgreich, und Thiele tat das, was Wissenschaftler*innen in solchen Fällen immer zu tun pflegen: er machte ein Buch daraus, indem er seine (ohnehin schon druckreifen) Skripte überarbeitete und um einen Fußnotenapparat ergänzte. Das Ergebnis ist ein sehr lesbares Buch zu einem (zumindest aus meiner nerdigen Perspektive) sehr spannenden Thema, das unbedingt empfehlenswert ist.

Mittwoch, 8. Juni 2022

Rezension: Brendan Simms/Charlie Laderman - Hitler's American Gamble: Pearl Harbor and Germany’s March to Global War

 

Brendan Simms/Charlie Laderman - Hitler's American Gamble: Pearl Harbor and Germany’s March to Global War (Hörbuch)

Wenn man sich mit der Geschichte des Dritten Reichs beschäftigt, bleibt eine Entscheidung Hitlers die unerklärbarste. Es ist nicht der Holocaust; der erklärt sich problemlos aus seiner Ideologie einerseits und der institutionellen Logik der Behörden und der Dynamik der Krieges. Nicht einmal der Überfall auf die Sowjetunion 1941, der eine solche Eskalation und seismische Veränderung der Geopolitik hervorbringen würde, qualifiziert sich. Nein, erklärungsbedürftig ist die deutsche Kriegserklärung an die USA fünf Tage nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor im Dezember 1941, als der deutsche Angriff vor Moskau im Schnee stecken blieb. Was hat Hitler geritten, dem mächtigsten Staat der Welt den Krieg zu erklären? War er einfach nur verrückt? Befriedigende Erklärungen sind schwer zu finden, aber es ist besser anzunehmen, dass eine Rationalität dahintersteckte. Brendan Simms und Charlie Laderman versuchen im vorliegenden Buch, mittels einer minutiösen Rekonstruktion der fünf Tage zwischen Pearl Harbor und der Kriegserklärung eben diese offenzulegen.

Freitag, 3. Juni 2022

Eine Einordnung des Ukrainekriegs – Vortrag von Prof. Klaus Gestwa (Teil 2: Fragen)

 


Die folgenden Fragen kamen von den Zuhörenden und sind, genauso wie Gestwas Antworten, paraphrasiert. Es handelt sich also nicht um wörtliche Mitschriebe, sondern sinngemäße Notizen dessen, was gesagt wurde. Deswegen ist die Reihenfolge mitunter nicht so kohärent wie im eigentlichen Vortrag. Ich habe auf ein Lektorat verzichtet, um die Integrität nicht zu zerstören.

Eine Einordnung des Ukrainekriegs – Vortrag von Prof. Klaus Gestwa (Teil 1: Vortrag)

 

Im Rahmen einer Fortbildung des Fachtags Geschichte-Gemeinschaftskunde, die am 02.06.2022 in Waiblingen stattfand, hielt der Tübinger Osteuropa-Zeithistoriker einen Vortrag zur Einordnung des Ukrainekrieges. Dieser sowie die folgenden Fragen sollen im Folgenden dokumentiert werden.

Mittwoch, 1. Juni 2022

Rezension: Thomas Brechenmacher - Im Sog der Säkularisierung

 

Thomas Brechenmacher - Im Sog der Säkularisierung

Als 1949 zwei deutsche Staaten auf den Trümmern der Kriegsniederlage gegründet wurden, standen auch die beiden christlichen Kirchen vor einem Scherbenhaufen. Die neue Staatsgrenze lief mitten durch Bistumsgrenzen und 12 Jahre nationalsozialistischer Diktatur hatten die Bevölkerung entfremdet und die Kirche moralisch kompromittiert. Im östlichen Teil des Landes trat zudem eine dezidiert atheistische, totalitäre Regierung mit dem expliziten Wunsch an, die Kirchen wenn nicht zu zerstören, so doch zu marginalisieren. Auf der anderen Seite schien gerade für die katholische Kirche mit dem Amtsantritt des Christdemokraten Adenauer eine goldene Zeit kirchlichen Einflusses in die Politik zumindest im westlichen Landesteil anzubrechen. Bald aber zeigte sich, dass der Trend zur Säkularisierung, in dessen Sog die Kirchen gerieten, in beiden Landesteilen nicht aufzuhalten war. Diesen Trend zeichnet Thomas Brechenmacher im vorliegenden Buch nach.

Seine Betrachtung beginnt mit der Niederlage 1945. Für die Kirchen stand diese Zeit ganz unter der Fragestellung "Restauration oder Neuanfang": sollte versucht werden, den Status vor der Diktatur wiederherzustellen und damit eine möglichst vom Staat unbeeinflusste Kirchenstruktur zu bekommen, die sich um die Staatsform wenig scherte, oder sich als eine demokratisch Kirche neu zu verfassen. Bekanntlich hatten sich beide Kirchen mit der Demokratie bislang schwergetan; das Beste, wozu sie sich hatten durchringen können, war eine neutrale Äquidistanz gewesen.

Auch die Schuldfrage stand auf dem Tablett. Zwar äußerten sich sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche recht schnell selbstkritisch, blieben aber weit hinter dem zurück, was wünschenswert gewesen wäre. Vor allem erklärte man, nicht hart genug gebetet zu haben - also quasi den Verlockungen des Materialismus erlegen zu sein -, die eigene Rolle in der Diktatur reflektierte man aber kaum. Dies sollte erst später folgen.

Die deutsche Teilung stellte die Kirchen auch vor eine Herausforderung, weil ihre Organisationsstrukturen aufgespalten wurden. Bei den Protestanten, die sich schon immer an Landesgrenzen ausgerichtet hatten, führte dies zu weniger inhärenten Konflikten als bei den Katholiken, deren Bistumsgrenzen nun mitten durch die Zonengrenze verliefen. Bis zum Fall der Mauer (ironischerweise aber direkt danach) reformierte die Kirche diese Grenzen nicht, sondern weigerte sich, die Spaltung für sich anzuerkennen, egal wie real sie im Alltag auch war.

Der nächte Themenbereich ist die Integration der Kirche ins jeweilige Staatswesen. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes hatten die Kirchen die luxuriöse Situation, dass sie beziehungsweise ihr Glaube die legitimatorische Grundlage des Staates darstellten, der sich explizit als christlich konstitutierte. Brechenmacher weist  aber darauf hin, dass diese christliche Basis ist bei weitem nicht so stark war, wie dies gerade die Unionsparteien gerne betonen. Die Hoffnungen der Kirchen auf eine stärkere Klerikalisierung des Staates zerschlugen sich bald; auch der bundesdeutsche Staat war vergleichsweise säkular und würde dies im Folgenden noch viel mehr werden. Immerhin gelang es den Kirchen, sich mit der Kirchensteuer und den weitgehenden Privilegien im Schulsystem - vor allem der Verankerung des Religionsunterrichts in den Landesverfassungen und der Garantie für freie Bekenntnisschulen - einige Nischen zu sichern. Wesentlich prekärer war die Lage der Kirchen in der DDR: zwar war die grundsätzliche Religionsausübung gewährleistet, aber von ihnen wurde eine klare Unterordnung unter den sozialistischen Staat erwartet. Die späteren DDR-Verfassungen waren demgegebüber wesentlich harscher und drängten die Kirchen mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben heraus.

Im folgenden Segment, das sich mit Schule und Jugend beschäftigt, geht Brechenmacher stärker auf die Rolle der der Bekenntnisschulen ein, mit denen vor allem die katholische Kirche ihren Einfluss auf die Jugend zu wahren hofften und die Verankerung des Religionsunterrichts, der massiv dazu beitrug, wenigstens die formellen Konfessionszahlen hochzuhalten. Beides allerdings half dabei, die Säkularisierung aufzuhalten. Die DDR dagegen schuf den Kirchen, vor allem der protestantischen, mit der Jugendweihe massive Konkurrenz. Durch die Diskriminierung der Jugendlichen, die die Jugendweihe nicht wahrnahmen, und der Unvereinbarkeit mit der Konfirmation sorgte dies für einen massiven Rückgang der konfessionell gebundenen Jugendlichen, was mit der Zeit dazu führte, dass zwei konfessionell effektiv atheistische Konfessionen heranwuchsen.

Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat beschäftigt Brechenmacher ebenfalls. In beiden Konfessionen und beiden Landesteilen galt, dass die Kirchen sich sehr für die deutsche Einheit einsetzten, vor allem die Protestanten. Der Protestantismus als Staatsreligion des (preußischen) Nationalstaats konnte nie von der Einheitsidee lassen. In der BRD war die Abendland-Idee besonders stark; man fühlte sich als Frontstaat gegen den Kommunismus und fand so problemlos Anschluss an den neuen Staat. Das wurde durch die nun erfolgende Integration in die Demokratie und die Aufgabe der vorherigen Äquidistanz erleichtert, die beide Kirchen entschieden in den demokratischen Konsens integrierte. In der DDR dagegen waren die Kirchen zu einem schwierigen Lavieren zwischen Unterwürfigkeit und Selbstbehauptung gezwungen. Um überhaupt bestehen zu können war eine weitgehende Kollaboration mit dem Regime notwendig, was einen sehr schwierigen Tanz darstellte. Sehr zum Unwillen der Christdemokraten entspannte sich das Verhältnis zum Ostblock mit dem Amtsantritt Johannes XIII. sehr. Für die Zeit nach der Wende konstituierte dies gleich noch eine Schulddebatte, der sich die Kirchen aber bis heute weitgehend entziehen.

Mindestens so schwierig wie das Verhältnis zum (geteilten) Staat war für die Kirchen das Thema gesellschaftlicher Wandel. In beiden deutschen Staaten taten sie sich schwer damit, die Modernisierung konstruktiv zu begleiten und relevant zu bleiben. Sie spürten ihren schleichenden Bedeutungsverlust, waren aber nicht in der Lage, etwa Harvey Cox und seiner These der "secular city" zu folgen, nach der die Kirchen ihren Frieden mit dieser Säkularisierung machen mussten. Zwar gab es eine innerkirchliche Modernisierung, aber diese betraf vor allem interne Organisationsstrukturen (es spricht nicht eben für die Kirchen, dass ihre Strukturen derart verkrustet waren, dass selbst diese harmlosen Schritte massiv umkämpft waren). Der offensichtlichste Wandel kam bei der Einstellung zum Judentum: anstatt es weiterhin als Feind zu betrachten, erfolgte hier eine nachhaltige Aussöhnung.

Wesentlich stärkere Autorität konnten die Kirchen, vor allem die protestantische, auf dem Feld von Krieg und Frieden entfalten: Beide Kirchen waren stark in die Friedensbewegungen eingebunden. Besonders die evangelische Kirche engagierte sich in den 1950er Jahren stark gegen die Wiederbewaffnung und war später bei der Friedensbewegung der 1980er Jahre vorne dabei. Dies war in der DDR problematischer als im Westen, weil das SED-Regime dieses Friedensengagement gegen alle Staaten (nicht nur das imperialistische Ausland) als staatskritisch wahrnahm. Das berühmte Logo "Schwerter zu Pflugscharen" etwa wurde nur von einem einzigen Bischof getragen, und er verstand das dezidiert als Widerstandssymbol. Die restlichen Kirchenautoritäten versuchten stets, den SED-Sensibilitäten entgegenzukommen.

Die Kirchen im Osten hätten jedoch ohne Transfers und Kontakte aus dem Westen nicht bestehen können. Die westlichen Kirchen finanzierten auf diskrete Art ihre östlichen Pendnants. Priester gingen Patenschaften mit ihren Kollegen im Osten ein und sandten ihnen Teile ihrer Bezüge oder Sachgeschenke, während die Kirchen selbst Subventionen zahlten. Dies half dabei, die Kirchenstrukturen über die gesamte Teilungszeit gesamtdeutsch zu halten und nach der Wende recht problemlos wieder zu fusionieren.

Das letzte Thema ist dann die deutsche Einheit. Entgegen der landläufigen Narrative lief diese nach Brechenmacher weitgehend ohne die Kirchen ab; die Rolle der protestantischen Kirche sieht er als überschätzt. Das macht Sinn, denn die Funktion als Konzentrationspunkt des Widerstands hatten die Kirchen ja gerade bewusst NICHT eingenommen, um im SED-Regime überlebensfähig zu sein. Sie konnten diesen daher auch in den kurzen Monaten 1989 nicht plötzlich übernehmen. Zwar begrüßten sie die Einheit und boten teilweise einen Schutzraum, aber sie waren keine treibenden Kräfte. Ein ironisches Informationsnugget war für mich, dass die Einheit für einen weiteren massiven Rückgang der Konfessionalisierten sorgte, weil in der DDR nun die Kirchensteuer durch den Staat eingetrieben wurde und nicht mehr freiwillig war, weswegen eine wahre Austrittswelle in den neuen Bundesländern erfolgte.

Zum Abschluss gibt Brechenmacher einen kurzen Ausblick auf die Zukunft. Er hat wenig Hoffnung auf einen neuen Bedeutungsgewinn der Kirchen und eine Umkehr der Säkularisierung. Zwar versucht er einige Lichtblicke für die Kirchen zu finden, aber das Rückzugsgefecht, das diese "im Sog der Säkularisierung" seit 1945 führen macht keine Anstalten, sich in eine neue Offensive zu verwandeln.

Montag, 30. Mai 2022

Rezension: Stephen Wertheim - Tomorrow, the world. The birth of US supremacy

 

Stephen Wertheim - Tomorrow, the world. The birth of US supremacy

Seit der sakralisierten Warnung George Washingtons am Ende seiner Amtszeit, Amerika solle sich aus "entangling alliances" und Europa heraushalten, betrieb das Land eine isolationistische Außenpolitik. Am Ersten Weltkrieg nahm es gezwungenermaßen teil, und als die Vision des Völkerbunds scheiterte, zog sich die Nation auf sich selbst zurück. Erst der Angriff von Pearl Harbor zwang die USA in den Zweiten Weltkrieg und legte den Grundstein für die folgende Dominanz als Supermacht. Dieses Narrativ ist hinreichend bekannt - und falsch, wenn man Stephen Wertheim Glauben schenken darf. Er argumentiert in "Tomorrow, the world" viel mehr, dass die USA Anfang der 1940er Jahre auf einem bewussten Kurs waren, die Weltherrschaft anzustreben. Das klingt nach einem Buch, das im Compact-Magazin empfohlen wird, aber dieser Eindruck täuscht. Wertheim zeichnet keine Verschwörungstheorie auf; vielmehr zeichnet er nach, wie sich die strategischen Debatten in den USA in diesen entscheidenden Monaten änderten und auf welchen Prämissen sie basierten. Das Resultat ist sehr erhellend.

Mittwoch, 25. Mai 2022

Rezension: Antonio Scurati - M - Son of the Century

 

Antonio Scurati - M - Son of the Century

Wir betrachten Mussolini und den italienischen Faschismus gerne aus der Perspektive seines Endes, als zur Farce gewordener Wurmfortsatz des ungleich zerstörerischen Nationalsozialismus. Eventuell bleibt der desaströse Griechenlandfeldzug von 1940 in Erinnerung, oder das völlige Versagen der italienischen Armee gegen die Briten in Nordafrika, das den Einsatz des Afrikakorps nötig machte. Das Bild aus deutscher Perspektive ist das eines inkompetenten, operettenhaften Staates. Vergessen wird darüber gerne, welche Anziehungskraft das faschistische Italien einmal hatte, und welch stilbildende Wirkung es besaß - gerade auch auf Hitler, aber auch auf viele andere rechte Regime jener Epoche. Es gab eine Zeit, in der Mussolini und sein Faschismus den Weg nach vorne zu weisen schienen, eine Zeit, in der sich Mussolini ohne allzuviel Lächerlichkeit als "Sohn des Jahrhunderts" inszenieren konnte. Von dieser Phase zwischen 1919 und 1925, als der Faschismus erstmals die Macht errang und absicherte, handelt dieses Buch von Antonio Scurati, das gerade nicht umsonst Wellen schlägt - nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seiner Form.

Donnerstag, 28. April 2022

Rezension: Hannah Brinkmann - Gegen mein Gewissen

 

Hannah Brinkmann - Gegen mein Gewissen

Die Wiedereinführung der Wehrpflicht führte in den 1950er Jahren, zusammen mit der Debatte um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, zu den ersten großen Protesten der Bundesrepublik ("Ohnemich-Bewegung"). Begründet wurde die Einführung unter andem absurderweise mit dem Argument, dass das Recht auf Wehrdienstverweigerung, das im Grundgesetz festgeschrieben war, die Einführung der Wehrpflicht quasi bedinge. Ungeachtet solcher juristischen Spitzfindigkeiten sprachen handfeste außenpolitische Gründe dafür, und so kam die Wehrpflicht 1956. Das Recht auf Verweigerung dagegen blieb ein weitgehend theoretisches. Wie die Entscheidung gegen den Wehrdienst selbst in den 1970er Jahren zu massiven Repressionsmaßnahmen und Tragödien führte, zeigt Hannah Brinkmann in dieser als Comic illustrierten Familiengeschichte ihres Onkels Herrmann auf.