Ein dieser Tage häufig nacherzähltes Narrativ ist, dass die so genannte Identitätspolitik, die spätestens seit der Trump-Wahl 2016 in aller Munde sind, von "den Linken" erfunden wurden. Meist wird der Beginn irgendwo in die 1960er Jahre datiert; in den USA üblicherweise in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, in Deutschland in die längst zum Klischee erstarrten 68er. Dem Narrativ folgend begannen linke Parteien damals, sich stärker über Identitätsfragen zu identifizieren und darüber ihre frühere Markenkerne zu vernachlässigen - worin dann das Abwandern ihrer klassischen Klientel zum Rechtspopulismus und der große Backlash, der denselben befeuert, kommt. Es wäre ein Fall von "die Geister, die ich rief, ich werd sie nicht mehr los". Die Geschichte ist hübsch, aber sie ist falsch. Nicht, weil "die Rechten" in Wahrheit die Identitätspolitik erfunden hätten und die Linken quasi nur darauf reagiert hätten; diese Form des Fingerzeigens mag zwar manchem Konservativen heute das Herz erwärmen, aber sie hat nur wenig Erklärgehalt. Nein, Identitätspolitik ist so alt wie die Menschheit selbst. Machen wir uns auf eine kurze Reise durch ihre Geschichte und versuchen zu klären, was die Besonderheit unseres aktuellen historischen Moments sein könnte - so es denn eine gibt.