Mittwoch, 8. Januar 2020

Eine kurze Geschichte der Identitätspolitik

Ein dieser Tage häufig nacherzähltes Narrativ ist, dass die so genannte Identitätspolitik, die spätestens seit der Trump-Wahl 2016 in aller Munde sind, von "den Linken" erfunden wurden. Meist wird der Beginn irgendwo in die 1960er Jahre datiert; in den USA üblicherweise in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, in Deutschland in die längst zum Klischee erstarrten 68er. Dem Narrativ folgend begannen linke Parteien damals, sich stärker über Identitätsfragen zu identifizieren und darüber ihre frühere Markenkerne zu vernachlässigen - worin dann das Abwandern ihrer klassischen Klientel zum Rechtspopulismus und der große Backlash, der denselben befeuert, kommt. Es wäre ein Fall von "die Geister, die ich rief, ich werd sie nicht mehr los". Die Geschichte ist hübsch, aber sie ist falsch. Nicht, weil "die Rechten" in Wahrheit die Identitätspolitik erfunden hätten und die Linken quasi nur darauf reagiert hätten; diese Form des Fingerzeigens mag zwar manchem Konservativen heute das Herz erwärmen, aber sie hat nur wenig Erklärgehalt. Nein, Identitätspolitik ist so alt wie die Menschheit selbst. Machen wir uns auf eine kurze Reise durch ihre Geschichte und versuchen zu klären, was die Besonderheit unseres aktuellen historischen Moments sein könnte - so es denn eine gibt.

Auf Spurensuche im Iran

Die ersten schriftlichen Zeugnisse von Identitätspolitik gehen auf den iranischen Religionsstifter Zarathustra zurück. Wer also unbedingt nach einem Schuldigen sucht, der angefangen hat, kann sich ihn herauspicken, wenngleich es vor ihm mit Sicherheit auch schon Leute gab, die den moralischen Zeigefinger schwangen und die Welt in "wir" gegen "die" teilten. Von ihm haben wir es nur zum ersten Mal schriftlich, wenngleich aus zweiter und dritter Hand. Der gute Mann machte einen auf Sokrates und hinterließ uns keine eigenen Zeugnisse.

Die Besonderheit von Zarathustras Religion, die bis heute Anhänger besitzt, lag darin, dass sie erstmals Moral in die religiöse Debatte einführte. Nach allem was wir wissen bestanden frühere Religionen in ihrer Welterklärung eher darin, dass eine bestehende Weltordnung - häufig durch Opfer - gewogen gemacht wurde. Die Welt war, wie sie war, und Religionen erklärten hauptsächlich, warum das so war. Ihre Aufgabe war somit die der Mittler.

Zarathustra dagegen teilte die Welt in zwei Prinzipien ein - gut und böse. Manche Menschen waren gut (seine Leute) und andere waren böse (die anderen). Das war relevant, weil die Menschen seinerzeit aus verschiedenen Gründen, die uns hier nicht interessieren müssen, vermehrt Krieg und Plünderung ausgesetzt waren und eine Erklärung dafür brauchten.

Was Zarathustra ihnen anbot war die Idee, dass manche Menschen dem Bösen verfallen waren. Er assoziierte das vor allem mit der Lüge, wogegen gute Menschen die Wahrheit sprachen, und dem Kämpfen. Wo Zarathustra noch ein Radikalpazifist war (und irgendwann von weniger pazifistisch gesinnten Zeitgenossen ermordet wurde), erfanden seine Nachfolger sehr schnell das Prinzip des heiligen Kriegers. Die töten weil sie böse sind, wir töten weil wir die Guten sind. Deus vult. Auch ein Prinzip, das so alt ist wie die Menschheit.

Meet the populists

Ein weiterer Bestandteil des scheinbar so neuen politischen Gebräus, das wir dieser Tage schlürfen dürfen, ist der  Aufstieg der Populisten, die irgendwie nie so richtig in die etablierte politische arbenlehre passen wollen und häufig genug das bestehende Parteien- bzw. Fraktionssystem durcheinander wirbeln. Eines der ersten ordentlich belegten Exemplare dieser Spezies war der athenische Politiker Kleon, von dem Thukydides in seinem Monumentalwerk über den Peloponnesischen Krieg berichtet.

Kleon war ein Neureicher, der mit seinem Geschäft (Gerberei, in diesem Fall, seinerzeit ähnlich anrüchig wie Immobilien- und Showbusiness) in die Aristokratie Athens aufgestiegen und als Gegner des elder statesman Perikles aufgefallen war. Perikles war ein Politiker der alten Schule gewesen, mit voller rhetorischer Ausbildung und dem richtigen Stammbaum, moderater Politik verpflichtet (was in Athen so viel bedeutet wie immer sicherzustellen, dass es weder zu einem Bürgerkrieg zwischen den Aristokraten noch zu einer Emanzipation der ungewaschenen Massen kam).

Nach Perikles' frühem Tod in einer Pestepidemie ergriff Kleon die Chance beim Rockzipfel. Anstatt den "ordentlichen" Weg zu gehen und die Aristokraten auf seine Seite zu ziehen (die ihn verachteten), peitscht er die Volksmassen auf und machte Stimmung gegen die Ausländer (in dem Fall Sparta). Mit einem entschlossenen "Only I Can Fix It!" auf den Lippen propagierte er Kriegsverbrechen (ein Massaker an der Stadt Mytilene) und die Verdopplung des Tributs für die Verbündeten, um so die Steuerlast der Athener zu senken. Er führte beides denn auch persönlich durch, um einen möglichst großen Teil der Beute selbst einsacken zu können.

Anders als heutige Populisten musste er allerdings seiner Politik an der Front Nachdruck verleihen und fiel dankenswerterweise in der Schlacht gegen seinen spartanischen Erzfeind Brasidas (auch so ein unangenehmes Stück Mensch), woraufhin Athen und Sparta eilig Frieden schlossen.

Ein erster republikanischer Höhepunkt

Mit diesen beiden Zutaten im Gepäck können wir uns den wohl bestdokumentierten antiken Identitätspolitik-Populisten zuwenden, den Politikern, die die römische Republik zu Fall brachten. Diese Geschichte beginnt mit dem Verlierer eines weiteren internen Aristokratenwettstreits um die Macht, Tiberius Gracchus. Die Details habe ich hier aufgeschrieben, daher die Kurzversion:  Gracchus zerstörte die Normen der Republik, indem er direkt an die Massen appellierte und brach die Verfassung, indem er sie plebiszitär über eine Änderung derselben abstimmen ließ. Als ihn die Senatoren mit einem legalistischen Trick ausmanövrierten, setzte er sich an die Spitze eines bewaffneten Mobs, woraufhin die Senatoren einen eigenen Mob mobilisierten und ihn umbrachten. Als sein Bruder zehn Jahre später ebenfalls politisch erfolgreich wurde, brachte man ihn vorsorglich gleich ebenfalls um.

Die Episode ist für unser Thema vor allem deswegen interessant, weil auch Gracchus sich massiv der Identitätspolitik bediente. Wir gegen die, das einfache, bescheidene, ehrliche Volk, salt of the earth, gegen die verkommene, korrupte und verweichliche Ostküstenelite. Die einfachen Leute vom Land gegen die verdammten, arroganten Stadtbewohner mit ihren Servicejobs. Die indignierten Senatoren betrachteten es als einen ungeheuren Affront gegen die guten Sitten. Sie standen dem Ganzen ähnlich hilflos gegenüber wie mancher US-Senator heute, nur dass wir heute keine Dachziegel mehr auf unsere politischen Gegner werfen.

Die Republik erholte sich davon nicht mehr. Zu den Zeiten Julius Cäsars ("ganz Gallien?") teilte sich das politische Leben Roms bereits in zwei Fraktionen: Auf der einen Seite standen die Optimaten, die "Besten", die aristokratische Oberschicht, die so weitermachen wollte wie bisher, und auf der anderen Seite standen die Populares, die Populisten (auch aristokratisch), die die bestehende Ordnung umwerfen wollten, um im entstehenden Chaos aufzusteigen. Unsere heutigen Populisten sind nach ihnen benannt.

Beide Seiten bedienten sich vorrangig der Identitätspolitik, um ihre Anhängerschaft beieinander und mobilisiert zu halten. Wenn ein römischer Aristokrat woke war, dann vertrat er die Sache der verarmten römischen Bevölkerung, die sich in der Hauptstadt ballte (und über das Wahlrecht verfügte, keine Sau interessierte sich für die nichtwählenden Landbewohner oder gar die Bundesgenossen ohne Wahlrecht). Sie schrieben politisches Graffiti an die Wände, verunglimpften ihre Gegner damit keine wahren Römer zu sein und spalteten die Gesellschaft in zwei Teile. Kurz, sie machten Politik.

Eine kurze Pause: Was ist eigentlich Identität?

An dieser Stelle sollten wir eine kurze Pause einlegen. Was ist eigentlich Identitätspolitik, und wie passt es in den politischen Ablauf? Grundsätzlich gilt: All politics is identity politics. Die ganze Begriffsetzung selbst ist ein ungeheurer Erfolg politischer Kommunikation. Solche Erfolge sind natürlich bewundernswert (mit zusammengebissenen Zähnen, wenn man sich selbst dem rechten/konservativen Spektrum wenig zugehörig fühlt), aber man muss  sie anerkennen. Erkenntnisfördernd dagegen ist sie nicht, denn wie dieser Artikel aufzeigen soll, sind Identitätspolitik mit uns, seit Menschen Politik treiben - und das tun sie, seit Gott aus Adams Rippe eine Gefährtin schuf.

Es ist eine fromme Legende, dass Wahlentscheidungen auf der einen und politische Präferenzen auf der anderen Seite durch einen Deliberationsprozess gebildet werden, in dem mündige Bürger ihre Optionen abwägen und so zu einem rationalen Forderungskatalog kommen, anhand dessen sie sich einer Gruppe oder Einzelperson anschließen, die ihnen am ehesten geeignet scheint, diese Forderungen umzusetzen. An dieser Theorie ist in etwa so viel dran wie am homo oeconomicus.

Stattdessen belegt die soziologische und psychologische Forschung hinreichend, dass Forderungen nach dem Zugehörigkeitsprozess gebildet werden. Politische Festlegungen erfolgen erst als Folge von politischem Handeln anhand von Identitätslinien.

Ein Beispiel dafür: Praktisch niemand interessierte sich für Glühbirnen, bevor die EU sie zugunsten der billigeren, effizienteren und umweltfreundlicheren LEDs abschaffte. Urplötzlich aber entstanden landauf, landab glühende (hehehe) Fans der Glühbirne, die sie gegen die böse EU verteidigten und Vorräte des veralteten Leuchtmittels horteten, während sie auf die Krake aus Brüssel schimpften. Sie taten das nicht, weil sie schon immer für die Glühbirne glühten (sorry). Sie taten es, weil es ihnen eine Gelegenheit gab, ihre Identität auszuleben - in dem Fall als reaktionäre EU-Hasser. Auf der anderen Seite formierten sich plötzlich zahllose Experten für die Notwendigkeit des Verbots, die bisher auch nicht durch die Teilnahme an Anti-Glühbirnen-Demonstrationen aufgefallen wären, sondern die die Verteidigung der EU, den Schutz der Umwelt und generell die Abwehrhaltung jener Reaktionären als Teil ihrer Identität begriffen.

Wir definieren uns über eine Identität, und diese bestimmt unsere Gruppenzugehörigkeit. Der innere Drang jedes Menschen, zu einer Gruppe zu gehören und sich in dieser konform zu verhalten, sorgt dann dafür, dass die jeweiligen Positionen übernommen werden. Und so wird man plötzlich zum fanatischen Vorkämpfer für eine Agrarreform in Italien, für die Bestrafung von Mytilene, für den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko oder für das Primat des Papstes, Bischöfe ernennen zu dürfen.

Von Panzerreitern zu Druckerpressen

Die Identitätspolitik lässt uns demzufolge auch nicht los. Ob im Jahr 400 v. Chr. oder 2020 n. Chr., jeder der einmal versucht hat, in einer dörflichen Gemeinschaft Fuß zu fassen, kennt die unbarmherzige Härte von Identitätspolitik. Selbst die ärmsten Ritter verstanden es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Rückgriff auf Identitätspolitik eine Abgrenzung gegenüber bürgerlichen Kaufleuten zu erreichen, und wenn die sich ihr Schloss dreimal aus der Portokasse leisten konnten.

Im gesamten Mittelalter dominierten religiös aufgeladene Identitätspolitiken den Diskurs. So etwa nutzte die katholische Kirche den hypermoralisierend geschwungenen Zeigefinger, um über einen Jahrzehnte währenden Prozess den freischaffenden Panzerreitern das Rauben und Brandschatzen abzugewöhnen und sie zu christlichen Rittern umzuerziehen. Wer den alten heidnischen Göttern anhing, war böse und draußen. Wer weiterhin die Felder der Bauern des Nachbarn niederbrannte, war böse und draußen. Eine Seite sah sich als moralisch klar im Recht und verwarf die Moral der anderen Seiten. Es mangelte damals übrigens nicht an Raubrittern, die dieses Moralisieren verwarfen und das Verbot des Landkriegs als Eingriff in ihre Freiheit sahen, für deren Erhalt sie sich in blutige Bürgerkriege stürzten. Goethe hatte kein Problem damit, dieser Rotte mordlustiger Gesellen mit seinem Drama "Götz von Berlichingen" ein literarisches Denkmal zu setzen und so, wenngleich einige Jahrhunderte verspätet, Stellung in diesem Identitätskonflikt zu beziehen.

Im 12. Jahrhundert stritten Papst und Kaiser mit dem Mittel der Identitätspolitik um die Macht im Kaiserreich. Jeder war gezwungen, Farbe zu bekennen und seine Identität der Frage unterzuordnen, ob man sich selbst als kaiserlich oder päpstlich sah. Und Kaiser wie Friedrich II. oder Karl V. wurden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verschmäht, weil sie nicht den Regeln der Identitätspolitik genügten und viel zu kosmopolitisch und gebildet auftraten, statt wie die bisherigen deutschen Könige und Kaiser einen auf volksnah zu machen, auf dem Dorffest den Humpen Bier zu leeren und eine Bratwurst zu mampfen.

Breite Schichten erreichten die Feinheiten der Identitätspolitik dann mit der Druckerpresse; erstmals konnte man für einen halbwegs vertretbaren Preis darüber informiert werden, was aktuell angesagt war. In China spielte man diese Politik schon 1000 Jahre vorher; hier wurde mit Identitätspolitik geklärt, wer über das "Mandat des Himmels" verfügte, das zur Herrschaft über das Kaiserreich berechtigte, und wer sich spektakulär genug zum Konfuzianismus bekannte, dem damaligen linksgrünversifften Mainstream. Richtig voran aber ging es erst, als Martin Luther auf die Idee kam, dass das einzige, was besser als eine identitätsstiftende Religion ist, zwei miteinander konkurrierende identitätsstiftende Religionen sind.

Identitätspolitik für alle

Religionskriege hatte es freilich immer schon gegeben. Nichts band die jüdische Diaspora für mehrere Jahrhunderte so eng zusammen wie die Erfahrung des gemeinsamen Unterdrücktwerdens durch den römischen Paganismus, und die Kreuzzüge zeugen noch heute von der Macht, die ein erhobenes Schwert und ein "deus vult!" haben können, wenn man es nur laut und fordernd genug über den Marktplatz schmettert. Die Macht der Identitätspolitik war auch damals bereits so groß, dass man problemlos die Richtung um 180° ändern konnte - ein Kreuzzug, der sich gegen die Muslime richtete, konnte problemlos gegen die Christen Konstantinopels umgelenkt werden, solange nur die eigene Gruppenidentität gewahrt blieb.

Der Qualitätsunterschied der Zeit nach Luthers aber bestand vorrangig aus zwei Faktoren, die so bisher nicht existiert hatten. Der erste war, dass die Politik emanzipiert wurde: Anstatt dass nur eine Schicht von vielleicht 5-10% der Bevölkerung direkt von den jeweiligen Anliegen betroffen und der Rest nur passives Objekt der die Identitätspolitik ausformenden Schicht war, positionierten sich jetzt immer größere Teile der Bevölkerung in denselben Konflikten wie die Adeligen, wurden immer mehr Teilnehmer.

Ohne Identitätspolitik kein Bürgertum, das sich in diesen Zeiten immer mehr Spielräume erkämpfte und eine ganz eigene, vom Adel unabhängige Identität gab - und diese moralisch, mit dem stets erhobenen Zeigefinger, unterfütterte. Auf der einen Seite der dekadente, rückwärtsgewandte Adel, auf der anderen das moderne, der Zukunft zugewandte und tugendhafte Bürgertum.

Der zweite Faktor war eben die Bildung. Mehr und mehr Menschen konnten lesen, mehr und mehr Menschen bekamen Zugang zu Büchern, und mehr und mehr Menschen bildeten sich eine eigene Identität heraus. Wo der Konflikt zwischen Adel und Bürgertum (das wir nicht mit der breiten Mittelschichtenbürgerlichkeit unserer Tage verwechseln sollten!) die Moderne bestimmte, kündigte sich im anbrechenden 19. Jahrhundert eine ungeahnte neue Blüte der Identitätspolitik an.

Brüder zur Sonne, zur Freiheit

Im Mutterland der Identitätspolitik, den USA, entdeckten die bisherigen britischen Kolonisten plötzlich eine neue Identität, die sie (auch kriegerisch) gegen das ehemalige Mutterland durchzusetzen glaubten. Die beiden Jahrzehnte vor 1776 sind voll von identitätspolitischen Konflikten. Wer offiziell importierten Tee trank, galt als Verräter. Prediger wetterten gegen die Sklaverei oder verteidigten sie in ausufernden Pamphleten. Welle um Welle von Abstinenzlern und Quäkern versuchte dem Land, Sauferei und Gewaltlust auszutreiben. Die Überlegenheit der weißen Rasse wurde gegen indigene Bevölkerung und importierte Arbeitssklaven in Stellung gebracht. Vergeblich warnten die sich auf die neue amerikanische Identität berufenden Gründerväter vor der Gefahr der Fraktionsbildung. Bis heute ist die amerikanische Gesellschaft von Spaltungen und Identitätskonflikten definiert. Wer glaubt, das sei eine neue Entwicklung unter Trump oder Obama, hat nie in ein Geschichtsbuch geschehen.

Auch Frankreich hatte in dieser Zeit seine Gelbwestenbewegung, als das Bürgertum in Paris mit hohen Idealen und hehren Ideen gegen die morsche Monarchie stabil machte. So tödlich wie im revolutionären Paris war Identitätspolitik wohl nie, wo die Frage, ob man den Cordelièrs, den Hébertisten, den Jakobinern, den Indulgenten, den Bretoniern oder einer der vielen anderen Splittergruppen, die heute unbedeutend und morgen tonangebend waren, angehörte, über Wohl und Wehe entschied. Bonaparte baute darauf auf, als er eine gemeinsame Identität für alle Franzosen schuf, deren rituelle Bekräftigung noch heute la nation prägt.

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von der Identitätspolitik der Nationalisten bestimmt, die, damals noch deckungsgleich mit den Liberalen, der gegen sie mobil machenden alten Ordnung Rechts- und Nationalstaat abzuzwingen versuchten. Wo die Reaktionären den hypermoralisierenden Zeigefinger der gottgewollten, natürlichen Ordnung schwangen, hielten die Liberalen dem das zitternde, moralintropfende Fingerglied von individueller Freiheit und Selbstbestimmung entgegen. Sieg und Niederlage in diesem identitätspolitischen Wettkampf setzte Nationen für Jahrzehnte auf Entwicklungspfade, die mal mehr, mal weniger glücklich ausgingen.

Die nächste große identitätspolitische Konflikt prägte dann die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als eine völlig neue Schicht, angeleitet von einigen Intellektuellen, sich aggressiv und mit Verve eine eigene Identität schuf, so neu, wie es das Bürgertum im Aufbruch der Moderne tat, und befeuert von der gleichen Gutenberg'schen Wunderwaffe. Sozialistische Klubs, Büchereien, Vereine und Sonntagsschulen taten mehr als alles andere, um "die Arbeiterklasse", deren Existenz zur Zeit von Marx' "Kommunistischem Manifest" eher frommer Wunsch als soziologische Analyse war, überhaupt erst entstehen zu lassen. Ohne Identitätspolitik kein Klassenbewusstsein, ohne Klassenbewusstsein keine Sozialdemokratie, ohne Sozialdemokratie keine moderne Massendemokratie.

Zeitalter der Extreme

Das 20. Jahrhundert war wie wohl kein anderes zuvor durch Identitätskonflikte dominiert, wenngleich nur, weil sie dank moderner Technologie inzwischen die ganze Welt erfassen konnten. Eine allseitige Radikalisierung griff um sich. Teile der Linken spalteten sich, den moralisierenden Zeigefinger munter schwingend, von der zahmen, auf Moderation und Evolution setzenden Sozialdemokratie ab und propagierten die Diktatur des Proletariats. Wie 1794 brachte eine falsche Phrase, eine frühere Zugehörigkeit zu einer obskuren Splittergruppe oder einfach nur missgünstiges Denunziantentum den Tod.

Auf der Rechten radikalisierte sich eine nunmehr revolutionäre statt reaktionär agierende Garde. Das ungleiche Bündnis beider Hälften endete im blutigen Taumel der siegreichen Revolutionäre, die als Faschisten oder Nationalsozialisten ihre Gegner hinwegfegten und den blutigsten Ausbruch der Identitätspolitik überhaupt über den Erdball brachten, der sich in Weltkrieg und Holocaust entfesselte.

In Zahlen jedoch schlägt nichts die Opfer, die die Identitätspolitik der Linken forderte. Kulturrevolution, der Große Sprung nach vorn und Pol Pot verschlangen Millionen von Menschenleben, während sie die eine Hälfte ihres Landes gegen die andere aufhetzten und mit Messern, Knüppeln und Keulen ihr wahnwitziges Werk verrichten ließen.

Und kaum dass die Welle des roten Terrors endlich ihr Ende fand, erhob sich in den neuerdings unabhängigen Kolonien der alten Imperialmächte die hässliche Fratze der ethnischen Säuberungen. Ob man Tutsi oder Hutu war, oder für welche Gruppierung die Nachbarn glaubten dass man Sympathien aufbringen könnte, entschied über Leben und Tod.

Der Siegesmarsch der Progressiven

Dagegen nehmen sich die identitätspolitischen Konflikte im Westen geradezu harmlos aus. Wo in den 1950er Jahren nichts Schrecklicheres vorstellbar war, als in Jeans und mit Haargel Rock'n'Roll zu hören - eine völlig inakzeptable Identität, gegen die das morsche Bürgertum mit aller Macht vergeblich anrannte -, so geschah in den 1960er Jahren etwas, das zuletzt Mitte des 19. Jahrhunderts geschehen war: Völlig neue Gruppen entstanden und bekannten sich zu ihrer eigenen Identität, riefen sie für alle Welt sichtbar hinaus und bestanden darauf, nicht länger unsichtbar zu sein.

Ob Martin Luther King oder Alice Schwarzer, marginalisierte Minderheiten bestanden darauf, anerkannt zu werden, ein Anspruch, der ihnen bis heute virulent abgesprochen wird und der seine Entsprechung in einer ebenso aggressiven Abgrenzung findet. Ein George Washington würde sich in der erbittert vorgetragenen Diskussion, ob nun der Farmer oder Arbeiter aus dem Mittleren Westen der wahre Amerikaner sei, der sich gegen die degenerierte Ostküstenelite nur mit der Wahl von Autoritaristen und der Waffe in der Hand zur Wehr setzen kann, sofort zuhause fühlen. Es ist eine Sprache, die er kennt und so alt ist wie die Menschheit. Bereits im alten Ägypten dürften die Bauern ihr hartes Los sich durch das sichere Wissen erleichtert haben, dass man selbst, anders als die geschminkte Elite in Luxor, der wahre Kern Ägyptens sei.

Diese Entwicklung ist nicht neu. Sie ist zyklisch, kommt wieder und wieder und kann durch die Geschichte solange verfolgt werden, wie wir schriftliche Aufzeichnungen haben. Die Ausfechtung von Politik hat sich schon immer im Rahmen von Identitätspolitik vollzogen. Wir gegen die. Unsere guten Ideen gegen deren böse Überzeugungen, unser Wunsch Gutes zu tun gegen deren Wunsch, Schlechtes anzurichten. Die Parteien, die das vergessen haben, kämpfen gerade am schwersten mit sich. Welche Identität hat die heutige Sozialdemokratie? Diese Frage zerreißt die Parteien in der gesamten westlichen Welt, während der aufstrebende Rechtspopulismus ein attraktives Angebot macht. So erging es dem alten liberalen Bürgertum bereits, als es in den 1920er und 1930er Jahren zwischen den radikalen und attraktiveren Identitäten von rechts und links zerrieben wurde.

Fazit

Worum es mir ging ist also nicht, die müßige Frage zu klären, wer mit der Identitätspolitik angefangen hat. Niemand hat das. Nur sind nicht zu allen Zeiten alle Seiten gleichermaßen versiert in ihrer Anwendung. Wo neue Gruppen noch keine Zugehörigkeit gefunden haben, wo alte Institutionen ihrer Identität selbst nicht mehr sicher sind, wo attraktive Angebote denen, die bisher keinen Ausdruck für tief empfundene Unsicherheiten hatten eine neue Heimat bieten, dort treten diese Konflikte direkt an die Oberfläche. Aber zu glauben, es hätte eine mystische Vorzeit gegeben, in der Politik je ohne Identitätskonflikte ausgefochten worden wäre, ist naive Träumerei. Sie ist gefährlich und öffnet eine Flanke gegenüber jenen, die diese Lektion nicht vergessen haben oder sie vielleicht gerade neu erlernen. Was davon es ist, ist unerheblich. Im Kampf für Freiheit, Offenheit und Toleranz spielt es keine Rolle. Was wir brauchen ist eine Identität, hinter die sich diejenigen stellen können, denen diese Werte wichtig sind - und denjenigen die Stirn bieten, die sie zerstören wollen.

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