Freitag, 23. April 2021

Die verdrängte Dekade, Teil 0: Einführung

 

Wenn die Frage im Raum steht, wann der Umschwung zu einer instabilen Welt der Rechtspopulisten und gefühlten Dauerkrisen entstanden ist, landet man beinahe unweigerlich im Jahr 2015, als die Flüchtlingskrise die Schlagzeilen beherrschte und half, das Brexit-Votum und Trumps Präsidentschaftswahl 2016 zu befeuern. Aber ich halte das für verkürzt gedacht. Diese Ereignisse waren weniger der Beginn als vielmehr der Schlussstein unter einem ganzen Jahrzehnt der Verwerfungen und Krisen, das auf kuriose Weise im öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde, aber im gesellschadftlichen Unterbewusstsein hartnäckig verhaftet bleibt. Es lohnt sich, diese verdrängte Dekade aufzuarbeiten und zu untersuchen, was in ihr vor sich ging.

Im Jahr 2004 gewann George W. Bush als einziger republikanischer Präsident seit 1988 eine Mehrheit der Bevölkerung für sich. Der Irakkrieg war frisch "gewonnen", die Steuern für Reiche radikale gesenkt und die Wirtschaft dereguliert worden. In Europa traten zehn neue Staaten der Europäischen Union bei, voller Zukunftsforderung auf die Verheißungen eines globalen Kapitalismus, unter dessen Auspizien sie sich in den vergangenen Jahren radikal reformiert hatten und an dessen Früchten sie nun teilzuhaben hofften. Unter Führung des überzeugten Europäers Giscard d'Estaigne arbeitete eine Kommission einen Verfassungsentwurf für Europa aus. In Deutschland traten die Hartz-Gesetze in Kraft und brachten die größte innenpolitische Veränderung seit der Wiedervereinigung und die tiefgreifendste Umgestaltung des Sozialstaats seit 1957 mit sich. Horst Köhler wurde zum Bundespräsidenten, was weithin als Signal für einen kommenden Machtwechsel hin zu einer noch entschlosseneren Reformriege im Geiste des Leipziger Programms interpretiert wurde. Trotz gefälschter Wahlen in Russland orientierte sich das Land in eine Integration ins Weltwirtschaftssystem, ebenso wie China, das 2001 der WTO beigetreten war und sich seither als Musterschüler zu etablieren versuchte.

2005 schwang die Stimmung in den USA und endgültig weltweit gegen den Irakkrieg, als die scheinbar so mächtige Nation von terroristischen Milizen in den Straßenschlachten Falludjas vorgeführt wurde. Gleichzeitig offenbarte die katastrophale Reaktion auf den Hurrikan "Katrina" die Brüchigkeit des amerikanischen Staates zuhause und die tiefen Gräben, die sich durch die Gesellschaft zogen. Bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden wurde die Europäische Verfassung abgelehnt und brachte das gesamte Projekt der Europäischen Union zu einem unerwarteten und plötzlichen Stopp. In Deutschland fanden vorgezogene Bundestagswahlen statt, bei denen die SPD einen Überraschungserfolg erzielte, indem sie sich gegen die USA stellte und als Verfechterin sozialer Gerechtigkeit gegen den Neoliberalismus inszenierte; die eigentlich fest geplante Wunschhochzeit des bürgerlichen Lagers fiel aus und machte einer Großen Koalition Platz. Russland führte den ersten von vielen Gasstreits mit der Ukraine.

Solcherlei Grenzziehungen sind natürlich immer etwas arbiträr. Es ist allerdings auffällig, wie sehr die Welt Anfang der 2000er Jahre noch in Richtung der "neuen liberalen Weltordnung" unterwegs schien, geprägt von der Harmonisierung des internationalen Handelsregimes, das alle Nationen auf dieselben liberalen Werte verpflichten werde. Die Erwartung war, dass die internationalen Finanzmärkte und Handelsregulierungen der WTO Länder wie China schrittweise liberalisieren würden. Das alles ist, vorsichtig gesagt, nicht unbedingt eingetreten.

Die Gründe dafür finden sich in der Dekade zwischen 2005 und 2015. Die Krisen, die die Welt in diesen zehn Jahren erschüttert haben, sind tiefgreifend und haben nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdient haben. Dabei sind sie für das Verständnis unserer gegenwärtigen Situation zentral. Die merkwürdige Amnesie dieser Ereignisse lassen mich von einem "verdrängten Jahrzehnt" sprechen.

Die grundsätzlichen Linien, die ich im Folgenden nachzeichnen möchte, verlaufen entlang der folgenden Fragestellungen:

  1. Warum verloren die USA ihren globalen Führunganspruch, und wer stieß in das entstehende Machtvakuum?
  2. Warum folgte aus der Finanzkrise kein grundsätzlicher Legitimitätsverlust des Kapitalismus und Aufstieg der Linken?
  3. Warum zerbrach die liberale Weltordnung, anstatt wichtige Teilnehmer wie Russland oder China zu integrieren, wie man das in den frühen 2000er Jahren zuversichtlich voraussagte?
  4. Warum gelingt es der EU bis heute nicht, als größter Wirtschaftsraum der Welt eine internationale Rolle zu spielen, und warum sind die Zersetzungserscheinungen an ihrer Peripherie so wirkmächtig?
  5. Warum begann in der verdrängten Dekade der Aufstieg des Rechtspopulismus zu einer weltweiten politischen Kraft?

In den folgenden Artikeln dieser Serie sollen all diese Fragen verhandelt werden.

 

 

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