Dienstag, 25. Januar 2022

Kontrafaktische Geschichte: Die Annahme der Stalinnote 1952

 

Der Historiker Oliver Haardt hat auf Twitter die spannende Frage nach einem kontrafaktischen Geschichtsszenario gestellt, in dem das Angebot Stalins zur Wiedervereinigung Deutschlands 1952 angenommen worden wäre:


Bevor wir uns in die eigentliche Fragestellung vertiefen, kurz etwas Kontext zur sogenannten "Stalinnote".

1952 sandte Stalin ohne diplomatische Vorarbeit und für alle Beteiligten überraschend eine Note an die Westalliierten und die BRD, die den Abschluss eines Friedensvertrags und die Wiedervereinigung der getrennten Landesteile vorschlug. Viele Politiker vermuteten damals dahinter eine Falle, und weder in Bonn noch in Washington, Paris oder London wurde der Vorschlag ernsthaft in Erwägung erzogen. Die Ablehnung kam recht schnell; in Deutschland forderte die oppositionelle SPD zwar eine "ernsthafte Prüfung" des Vorschlags, war aber auch sehr skeptisch und war nicht bereit, sich vorbehaltlos dahinterzustellen. Die Proteste gegen die Ablehnung blieben denn auch vergleichsweise verhalten.

Die Gründe für die Ablehnung waren zweifacher Natur. Einerseits war unklar, ob es sich überhaupt um einen ernstgemeinten Vorschlag oder nicht viel eher eine diplomatische Falle Stalins zur Spaltung des Westens handelte. Andererseits aber steckten Befürchtungen dahinter, nach denen ein wiedervereinigtes Deutschland in die sowjetische Machtsphäre fallen würde. Ersteres ist bis heute nicht völlig entschieden, für unsere Diskussion aber auch irrelevant. Wir wollen für unser heutiges Gedankenexperiment annehmen, dass der Vorschlag 100% ernstgemeint war und 1952/53 durchgeführt worden wäre. Hierfür spielen die damaligen Sorgen eine große Rolle.

Deutschland 1952

Eine Gefahr, der wir für diese Fragestellung entgehen müssen, ist zu sehr von den Ereignissen nach 1952 rückwärts zu denken und eine spätere, verfasstere Position von BRD und DDR rückwärts anzuwenden. Deswegen müssen wir uns kurz klarmachen, wie die Situation 1952 war.

Die innerdeutsche Grenze war noch nicht komplett geschlossen. Zwar hatte die DDR diese 1951 dichtgemacht, aber der Prozess war noch nicht abgeschlossen, und in Berlin war ein Übertritt zwischen den Sektoren noch vergleichsweise einfach möglich. Die Wiedervereinigung war also territorial noch etwas leichter vorstellbar als später, wo ein festungsartiger Todesstreifen die beiden Deutschlands trennte. Kontakte über die Grenze waren noch häufiger.

Innenpolitisch befand sich der Bundestag noch in seiner ersten Legislaturperiode. Adenauer war gerade drei Jahre Kanzler. Ähnliches galt für die DDR, wo Ulbricht formell erst seit 1949 Staatsoberhaupt war (de facto natürlich bereits länger). Die Entnazifizierung war in beiden Teilen de facto abgeschlossen. In der DDR war jedoch das unabhängige Justizwesen bereits fast vollständig zerstört, die Verwaltung und Polizei unter Kontrolle des Parteiapparats gebracht worden.

Außenpolitisch befand sich die BRD zwar bereits in Kurs auf die Westbindung, aber diese war noch nicht so weit fortgeschritten. Die Montanunion war der wohl größte außenpolitische Stolperstein, was bereits abgeschlossene Verträge anbelangte. Wir werden auf dieses Thema wieder zurückkommen. Die größte außenpolitische Debatte zu der Zeit war die Wiederbewaffnung, die damals noch als eine gemeinsame deutsch-französische Armee (unter französischer Führung, versteht sich) diskutiert wurde. Das Hauptthema für die DDR waren die gewaltigen Reparationen, die Stalin aus ihr bezog, und ihre Integration in das Zwangswirtschaftssystem des späteren RGW.

Damit wären wir auch schon beim Wirtschaftlichen. Im Westen war seit 1947 die Marktwirtschaft nach amerikanischem Vorbild eingeführt worden, während der Osten seit 1945/46 unter einer Planwirtschaft im Sowjetstil litt. Die Trennung der beiden deutschen Staaten war auf diesem Gebiet am weitesten vorangeschritten, denn die Sowjets hatten das freie Unternehmertun bereits praktisch zerschlagen, Großgrundbesitzer enteignet, Kombinate gegründet, die DDR auf den irren Pfad zur Schwerindustrie gesetzt und große Teile der bestehenden Substanz geraubt. Von einem Wirtschaftswunder war allerdings auf beiden Seiten der Grenze noch wenig zu spüren; die Arbeitslosigkeit war hoch, die Wohnungssituation furchtbar.

Die Stalinnote

In diese Situation fiel nun die Stalinnote 1952. In ihr schlug die Sowjetunion vor, einen Friedensvertrag mit Deutschland zu schließen. Hierzu war eine gesamtdeutsche Regierung zu bilden. Die Grenzen Deutschlands sollten die durch das Potsdamer Abkommen 1945 festgelegten sein, sprich: die heutigen Grenzen entlang der Oder-Neiße-Linie. Demokratische Rechte sollten garantiert sein (wenngleich keine freie Wahlen), die Besatzungsmächte sollten komplett abziehen, Deutschland ein eigenes Militär bekommen und ein explizites Verbot, sich einem gegen eines der Siegermächte gerichteten Bündnis anzuschließen.

Es ist offensichtlich, was die Zielrichtung der UdSSR war. Die Macht der SED sollte institutionalisiert, die territoriale Nachkriegsordnung festgeschrieben und eine Westbindung verhindert werden. Es gab zu diesem Zeitpunkt nur ein gegen eine Siegermacht gerichtetes Bündnis, die 1949 gegründete NATO (der Warschauer Pakt würde erst 1955 gegründet werden). Deren Gründung war eine unangenehme Überraschung für die UdSSR gewesen, die auf einen Rückzug der USA aus Europa gesetzt hatte, eine Entwicklung, die durch eine Neutralisierung Deutschlands beschleunigt werden sollte.

Die Regierungen der Westmächte antworteten auf die Stalinnote mit eigenen Forderungen: die Wahlen sollten unter Aufsicht einer UN-Kommission stattfinden (und damit frei sein), die Grenzen sollten frei verhandelt werden (da die des Potsdamer Abkommens offiziell provisorisch waren), Deutschland sollte Bündnisfreiheit haben und explizit in eine defensive europäische Bündnisstruktur eingebunden werden, also kein eigenes, unabhängiges Militär besitzen.

In einer zweiten Note forderte Stalin nun ein generelles Bündnisverbot, akzeptierte aber eine von den Siegermächten gebildete Kommission zur Wahlprüfung. Durch die Vetomacht der Sowjetunion hätte ein solcher Kompromiss natürlich bedeutet, dass zumindest auf dem Gebiet der DDR keine freien Wahlen stattgefunden hätten.

In einem dritten Notenaustausch wurde klarer, dass es keine gemeinsame Grundlage gab. Der Westen lehnte Verhandlungen auf der Basis der Potsdamer Beschlüsse ab, die Sowjetunion freie Wahlen. Dies wurde in der vierten und letzten Note noch untermauert, in der die Sowjetunion nun eine internationale Prüfung der Wahlen kategorisch ablehnte und stattdessen eine "paritätische" deutsche Kommission forderte. Wie eine zu 50% von der SED gestellte Wahlkommission ausgesehen hätte, kann man sich vermutlich denken. Die Note war demnach auch die letzte in diesem Austausch.

Die Frage für unser Szenario ist daher, an welchem Punkt wir annehmen, dass die Westmächte Stalins Vorschläge als Verhandlungsgrundlage akzeptiert hätten. Ich gehe im Folgenden von einer durch die Siegermächte gebildeten Wahlkommission und einer Akzeptanz der Oder-Neiße-Linie aus. Andere Szenarien sind wenig vorstellbar, weil sie für die Sowjetunion unannehmbar waren (diese Bedingungen waren zwar für die Westmächte unannehmbar, aber für das Szenario akzeptieren sie sie).

Deutschland 1953

Wie also würde ein Deutschland im "Jahr 1" nach der Wiedervereinigung aussehen? Dies möchte ich im Folgenden skiziieren. Wann immer die Abkürzung "OTL" auftaucht, meint dies "Original Timeline", also die reale Geschichte.

Wir hätten einen Abbau der innerdeutschen Grenze. Stattdessen existierte ein ziemliches strenges Grenzregime zumindest nach Osten, um Grenzübertritte von Polen und Tschechoslowakei zu verhindern. Innerhalb Deutschlands würden vermutlich zumindest für Übergangsfristen zwei Regime nebeneinander her existieren: die Strukturen der DDR und die der BRD, in Polizei, Verwaltung und so weiter. An dieser Stelle ist die Frage, wie gesamtdeutsche Wahlen ausgehen würden und welche Verfassung dann entstünde. Die Möglichkeiten sind endlos, weswegen ich hier eher oberflächlich bleiben will.

Das Grundgesetz und der Beitritt nach Artikel 23 jedenfalls fallen weg. Ich glaube, das Saarland würde trotzdem beitreten (eine Mehrheit für den Verbleib bei Frankreich sehe ich einfach nicht), was bedeutet, dass es eine neue Verfassung braucht. Auf dem Konvent für eine solche Verfassung wäre die SED sicher mit mehr als den rund 5% vertreten, die die KPD in den Parlamentarischen Rat eingebracht hat. Und ob gegen die Stimmen der SED eine Verfassung überhaupt möglich wäre - also ob die Sowjetunion mit ihrer Sperrminorität im Alliierten Kontrollrat das erlauben würde - halte ich für fraglich.

Es ist daher möglich, dass eine gesamtdeutsche Verfassung Bestimmungen enthalten würde, die der SED eine Machtposition zusichert. Vielleicht weniger als eine Sperrminorität, aber erneut: mehr als das, was sie in freien Wahlen erreichen könnte, denn da hat sie wenig Chancen. Die KPD dürfte sich mit ihr vereinigen, aber die war bereits bei den Bundestagswahlen OTL 1953 kein Faktor mehr. Wir haben also innerhalb von Deutschland einige merkwürdige Konstruktionen, die ich hier bewusst vage lasse, für die ich aber als Vergleich die Struktur der Antebellum Vereinigten Staaten anbieten will - nicht wegen der Sklaven- und Freistaaten, sondern wegen der radikal unterschiedlichen Systeme in einer fein austarierten, stets prekären politischen Balance. Ich nenne diese Variante Deutschland A.

Aber, und das ist entscheidend: die Sowjetunion ist bereit, den Machtverlust der SED zu akzeptieren, wenn Deutschland dafür neutral ist. Daher ist durchaus vorstellbar, dass die Verhandlung der Alliierten oder die mittelfristige Entwicklung dazu führt, dass Deutschland "normale" Wahlen abhält und seine Strukturen vereinheitlicht und demokratisiert. Die SED würde in diesem Fall eher eine Position übernehmen, wie sie die LINKE heute hat - vergleichsweise irrelevant im Westen, stärker im Osten, aber möglicherweise durch Bündnisse der demokratischen Parteien weitgehend zur Opposition verdammt. Ich nenne diese Variante Deutschland B.

Das sind natürlich bei Weitem nicht die einzigen beiden vorstellbaren Varianten, und ich stelle sie hier auch eher dar um zu zeigen, wie schwierig verbindliche Aussagen sind. Historiker*innen mit mehr Detailkenntnis der Epoche und vor allem der SED-Strukturen könnten da sicher bessere Vorhersagen machen. Wer Buchempfehlungen hat, her damit!

Allein, es gibt eine Reihe weiterer Herausforderungen, die OTL so nicht existieren. Die meisten davon sind außenpolitischer Natur.

Die Integration Deutschlands in die jeweiligen Machtblöcke hatte ja bereits begonnen. So war das Programm forcierter Industrialisierung, das die Sowjetunion wider alle ökonomische Vernunft der DDR aufzuwang, genauso wie die Kollektivierung der Landwirtschaft in eine gesamtosteuropäische Wirtschaftspolitik eingebettet, in der die Satellitenstaaten der UdSSR Waren und Rohstoffe zur Verfügung stellen sollten. Zum Glück für unser wiedervereinigtes Deutschland ist dieser Prozess noch nicht allzuweit fortgeschritten und besteht weitgehend aus bilateralen Handelsbeziehungen, weswegen die Entflechtung nicht dieselbe Verwerfungskraft haben dürfte wie OTL 1990ff. Stattdessen haben wir eher ein lokales Partikularinteresse an der Aufrechterhaltung von Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ostblock, das der SED helfen dürfte, da sie als Garant dieser Wirtschaftsbeziehungen auftreten kann. Eine Subventionierung durch die UdSSR zum Erhalt dieser Machtposition scheint sehr wahrscheinlich und dürfte in Deutschland B durchaus für anhaltende Attraktivität (wenngleich keine Mehrheiten) der Sozialisten sorgen.

Auf der anderen Seite haben wir die Montanunion. Diese wurde 1951 geschlossen und stellt die Schwerindustrien der beteiligten Länder unter die Aufsicht einer gemeinsamen hohen Behörde. Der Zweck der Montanunion war einerseits die Kontrolle einer möglichen deutschen Aufrüstung, andererseits aber eine Stützung des französischen Stahlmarkts, der gegenüber dem deutschen nicht konkurrenzfähig war und über die Montanunion eine kartellartige Sicherheit erhielt. Es ist schwerer vorstellbar, wie die Montanunion die Einheitsverhandlungen überlebt hätte, da sie Frankreich als einer der großen Siegermächte effektive Vetomacht über das Ausmaß der deutschen Aufrüstung gegeben und damit das Ziel einer unabhängigen deutschen Armee einerseits und des Zugriffs der UdSSR auf Reparationen aus dem Ruhrgebiet andererseits zumindest sehr erschwert hätte. Ich gehe daher davon aus, dass Deutschland aus der Montanunion austritt, die damit ihren Sinn weitgehend verliert und sich maximal zu einer Frankreich-BeNeLux-Wirtschaftszone weiterentwickelt - wenn überhaupt.

Ebenso auf den Richtblock kommen alle Pläne zu einer gemeinsamen europäischen Armee. Wir wissen heute natürlich, dass OTL die französische Nationalversammlung 1954 alle solchen Pläne zerschoss, aber 1952/53 war das durchaus noch eine realistische Option für die zukünftige Sicherheitsarchitektur Europas. Ein wiedervereinigtes Deutschland beendet diese Variante bereits 1953 definitiv. Stattdessen baut Deutschland eine eigene Bundeswehr auf, die vermutlich ähnlich den Bestimmungen der österreichischen Einheit OTL 1955 als Selbstverteidgungsarmee aufgebaut wird - und ohne Integration in irgendwelche Bündnisstrukturen, ein Passus, auf dem die UdSSR in jedem Fall bestanden hätte. Stellen wir uns die Bundeswehr also als eine Art größeres Bundesheer vor.

Wie geht es von nun an weiter?

Und damit wären wir in der Frage, wie es zumindest mittelfristig weitergeht. Statt des Eisernen Vorhangs quer durch Deutschland haben wir eine wesentlich weniger befestigte Grenze (es gibt keine Notwendigkeit, die Ostdeutschen an der Flucht nach Westen zu hindern) und einen cordon sanitaire aus Neutralen: Deutschland, Österreich und Jugoslawien ziehen einen Riegel von Ostsee bis Adria zwischen die Blöcke. Die Frage ist dann, ob sich die Militärbündnisse auch ohne Deutschland entwickeln wie in OTL. Ich halte das für fragwürdig.

Auf der einen Seite ist der Warschauer Pakt, der eine Gegenposition zur NATO aufbaute: zwei entlang einer hochmilitarisierten Grenze einenander gegenüberstehende Bündnissysteme. Allein, mit der erwähnten Neutralitätsgürtel ist die Gefahr einer Invasion sowjetischen Hoheitsgebiets nicht mehr so groß. Der Integrationsgrad der OTL Warschauer Paktes dürfte damit eher nicht erreicht werden.

Noch schlimmer sieht es für die NATO aus, was ja auch ein entscheidender Grund für die OTL Ablehnung der Stalinnote war. Ohne die massive Militärpräsenz in Westdeutschland fehlt den USA die Basis für ein längerfristiges militärisches Engagement in Europa. Es ist unvorstellbar, dass mehrere 100.000 GIs dauerhaft in Frankreich stationiert werden, und Italien ist jetzt nicht unbedingt die beste Basis dafür, genauso wenig wie die BeNeLux-Staaten. Es ist daher wahrscheinlich, vor dem Hintergrund der gaullistischen Außenpolitik mit ihrer Öffnung gegenüber der UdSSR sowieso, dass die NATO bei weitem nicht dieselbe Integrationskraft als westliches Bündnis entfaltet wie OTL, dass sie möglicherweise sogar endet (wobei ich das für unwahrscheinlich halte).

Ohne diese Integration in die Machtblöcke ist Deutschland in einer neutralen Mittelposition. Der Grund dafür, dass Stalin dieses Angebot machte, ist, dass dies der Sowjetunion mehr hilft als dem Westen. Das war in den 1940er Jahren noch nicht vollständig absehbar, aber die Stabilisierung der Westzone - ein absolut nicht vorbestimmtes und für Stalin eher überraschendes Ergebnis, wie Benn Steil in seinem hervorragenden Buch gezeigt hat - änderte die Kalkulation. Der Westen verlor das größere und potentiell wesentlich wohlhabendere Westdeutschland, während die Sowjetunion die wertvolle Substanz der DDR bereits geplündert hatte und eine Problem im Managment des Ostblocks verlor, kam es doch während des Ost-West-Konflikts nie zu einer Aussöhnung zwischen Ostdeutschen und Polen beziehungsweise der Tschechoslowakei, die stattdessen die Propagandalüge schlucken mussten, die DDR habe den Faschismus überwunden und nichts mehr mit ihm zu tun.

Stattdessen war die Tor für einen härteren Umgang mit Deutschland offen, das als halber Antagonist und halber Verbündeter weiterbestehen konnte. Das ist vor allem für die Frage eines Friedensvertrags relevant, und hier kommen wir zum Kern der Sache. Denn ein Friedensvertrag hätte vier Bestimmungen mit Sicherheit enthalten:

1) Reparationen.

Die Sowjetunion besonders, aber auch Frankreich, waren sehr an deutschen Reparationen interessiert. Frankreich hatte sich OTL damit abgefunden, dass es keine bekommen würde, und stattdessen den (wesentlich erfolgreicheren) Weg über die Montanunion und die Symbiose der europäischen Volkswirtschaften gewählt, der die Grundlage des anhaltenden europäischen Aufschwungs und Friedens war, während die Sowjetunion sich an ihrer Besatzungszone schadlos gehalten hatte. Aber im Falle eines Friedensvertrags wären Reparationen fällig geworden.

2) Militärbeschränkungen

Die deutsche Armee wäre auf eine Selbstverteidigungsrolle beschränkt worden, nur ohne das "Backup" von Verbündeten. Wir haben also eine Bundeswehr, die ähnlich groß ist wie die in OTL, aber vermutlich mit Waffenbeschränkungen arbeitet und Deutschland ohne "nuklearen Schirm" lässt. Es ist schwierig abzusehen, welche Folgen dieses Fehlen hätte; aber es verschlechtert die Machtposition gegenüber beiden Seiten erheblich.

3) Bündnisverbot

Wir haben bereits diskutiert, dass das Verbot, sich einem Bündnis anzuschließen, Teil eines Friedensvertrags gewesen wäre. Deutschland wäre damit tatsächlich völlig isoliert von irgendwelchen Freunden und idealerweise auch Feinden. Diese Isolation ist ein Punkt, auf den wir gleich zurückkommen werden.

4) Akzeptanz der Grenzen von Potsdam

Der Friedensvertrag hätte Deutschland sicherlich gezwungen, genauso wie die DDR OTL die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Diese Anerkennung wäre vor allem innenpolitisch relevant gewesen (de facto waren diese Gebiete verloren). Auch darauf werden wir gleich zurückkommen.

Behandeln wir zuerst die Frage der Isolation. Das Problem Deutschlands gegenüber Österreich oder Finnland, die ähnlich neutralisiert waren, bestand schlicht in seiner Größe. Es ist das Grundproblem Deutschlands in Europa seit 1871: zu groß, um einen auf Schweiz zu machen, zu klein, um dominant sein zu können. Daran ändert sich auch mit einem Friedensvertrag nichts; das ökonomische Potenzial Deutschlands ist so groß, dass es zwangsläufig zu einem Hebel für die Außenpolitik wird, ähnlich wie in Weimar, wo es zur schrittweisen Revision des Versailler Vertrags genutzt wurde.

Wie groß dieses Potenzial gewesen wäre, ist eine weitere interessante Frage. Ich halte es für kleiner als in OTL, weil die europäische Integration und die langfristige Bindung an die Vereinigten Staaten wegfällt. Zwar ergeben sich mehr Möglichkeiten für Handel mit der RGW-Zone als in OTL, aber das ist kaum attraktiv. Stattdessen würde die deutsche Wirtschaft durch die Reparationszahlungen gehindert und von Schutzzöllen zurückgehalten, anstatt Zugriff auf den europäischen Binnenmarkt zu bekommen.

Der größte Faktor aber dürfte der vermutliche Wegfall der Londoner Schuldenkonferenz 1953 sein. Auf dieser Konferenz wurden in OTL de facto die Vorkriegsschulden weitgehend erlassen und Deutschland vom Kopf auf die Füße gestellt: anstatt mit einer massiven Schuldenbelastung in die 1950er Jahre zu gehen, verzichteten die Länder Europas (unter anderem Griechenland...) auf eine Rückzahlung der erheblichen Auslandsschulden Deutschlands. Es ist schwer vorstellbar, dass ein wiedervereinigtes, neutralisiertes Deutschland diese Großzügigkeit ebenfalls bekommen hätte.

Dazu kommen kleinere außenpolitische Änderungen wie die Aussöhnung mit Israel, die in einem wiedervereinigten Deutschland wesentlich schwerer vorstellbar ist und, wie gleich zu zeigen sein wird, auch Auswirkungen auf die deutsche Innenpolitik gehabt hätte.

Und diese wäre deutlich anders. Abgesehen von der bereits diskutierten Machtverteilung im Land hätte der Abschluss eines Friedensvertrags mit Sicherheit Raum für eine neue Dolchstoß-Legende geschaffen. Sieht man sich die Reaktionen der CDU auf die Ostpolitik an (vom "Verräter" Willy Brandt), so ist vorstellbar, welche Auswirkungen der Abschluss, den die CDU in diesem Szenario zwangsläufig verantwortet hätte, gehabt hätte.

Ich würde davon ausgehen, dass sich die SED/KPD als Verfechter der deutschen Einheit inszeniert hätten und die Linie gefahren hätten, dass "die Kapitalisten" Schuld seien und man selbst heroisch die Einheit des Vaterlandes gerettet hätte. Sonderlich effektiv dürfte das kaum gewesen sein, weil der Versuch der Linken, sich als die besseren Patrioten zu inszenieren, nie funktioniert hat, aber das war so oder so ihre Propagandalinie.

Besonders schwierig ist die Lage für die SPD, die wesentlich energischer als die CDU auf die Wiedervereinigung gepocht hatte; die SPD hatte dies allerdings in den Grenzen von 1937 gefordert, und sie war 1952/53 von der Macht faktisch ausgeschlossen. Ihre Position findet sie daher zwischen allen Stühlen und in einer merkwürdigen Zwitterrolle der Opposition gegen die konkrete Form des Vertrags und der Begeisterung für die Wiedervereinigung - nicht Fisch und nicht Fleisch, aber aus Verantwortungsgefühl mit Sicherheit als Verteidiger des Friedens und das ganze Werk eventuell in einer Großen Koalition mit der CDU absichernd.

Denn dass die komplette bürgerliche Koalition, wie sie 1952/53 bestand, bei der Sache mitgemacht hätte, bezweifle ich. Man vergisst heute gerne, dass es damals noch mehrere rechtsgerichtete Parteien in Deutschland gab. Adenauers erste Koalition bestand aus einer FDP, die damals wesentlich rechter tickte als heute, die Entnazifizierung verdammte und sich als Heimat für ehemalige Nazis anbot, und sie bestand aus der DP, der "Deutschen Partei", die man im weitesten Sinne als gemäßigte Nachfolgerin der DNVP betrachten konnte. 1951 war zudem der BHE gegründet worden, der "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten". OTL wurde diese Flüchtlingspartei von der CDU assimiliert, aber mit Abschluss eines Friedensvertrags dürften sie, in virulenter Oppositionshaltung, zu einer dauerhaften rechtsgerichteten und demokratiefeindlichen Bewegung gerinnen. Zusammen mit der SED haben wir damit demokratiefeindliche Parteien rechts wie links und damit eine Situation wie in Weimar; zudem mit DP und FDP zwei Parteien, deren Ausrichtung damals noch ziemlich offen war (wobei ich viel Vertrauen in die FDP habe).

Wie sich die CDU in dieser Lage entwickelt ist schwer zu sagen. Elektoral erfolgreicher als das Zentrum, sicherlich, aber der Friedensvertrag dürfte sie durchaus belasten. Ich sehe jedenfalls keine absolute Mehrheit für Adenauer 1957 in den Karten, so viel ist sicher. Die erfolgreiche Demokratisierung Deutschlands steht in diesem wiedervereinigten Deutschland auf wesentlich schwankenderen Füßen als sie es in OTL tat, das kann denke ich gesagt werden.

Und genau das hat wieder eine Rückwirkung auf die Außenpolitik. Revanchistische Ausschläge gegen Polen dürften häufig sein, genauso Konflikte mit Frankreich über Reparationen (gerne auch als Proxy für dieselbe Wut gegenüber der Sowjetunion, die wegen ihrer Machtstellung Atomwaffen kein Ziel für diese Ausschläge bietet). Generell eine wesentlich toxischere, aggressivere Außenpolitik, die sich ständig mit der eigentlichen Neutralisierung beißt. Und das ist, neben dem ökonomischen Gewicht, das diese Ausschläge überhaupt ermöglicht und eine potentielle militärische Gefahr bei Bruch des Friedensvertrags impliziert, der große Unterschied zu Finnland oder Österreich.

Ein Fazit

Für mich ist offenkundig, dass eine Annahme der Stalinnote in schwerer Fehler gewesen wäre. Deutschland wäre eventuell wiedervereinigt worden, aber der Preis dafür wäre ein instabileres Europa, ein deutlicher Wohlstandsverlust, ein Einfluss- und Machtgewinn der Sowjetunion. Natürlich ist das die Sicht Westdeutschlands; für die Ostdeutschen wäre es vermutlich eine Netto-Verbesserung, während umgekehrt eine längere Existenz der Sowjetunion für die osteuropäischen Staaten eine noch längere kommunistische Diktatur bedeutet hätte. Es kommt eben darauf an, aus wessen Perspektive man schaut...

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