Rezension: Art Spiegelman - Maus
Es ist nicht das erste Mal, das ich "Maus" lese, und auch nicht das zweite. Aber ich habe mich zu dem Graphic Novel hingezogen gefühlt, nachdem ich in Krakau im "Galicia Jewish Museum" die dortige Ausstellung "Sweet Home Sweet" gesehen habe. Diese befasste sich mit der Geschichte eines Holocaust-Überlebenden, aber mit dem ungewöhnlichen Zugang, seine Nachkommen in Oral History zu Wort kommen zu lassen. Was mir dabei besonders auffiel war das intergenerationelle Trauma, das in all den Zeugnissen zum Ausdruck kam. Der Holocaust hatte seine Spuren auch noch in der zweiten und dritten Generation hinterlassen, etwa wenn die Kinder nicht verstehen konnten, wie egal ihrem Vater ihre Probleme oftmals waren, weil sie neben der Vernichtung des Rests der Familie in den Gaskammern nie Signifikanz erzielen konnten. Neben der Haupthandlung des Überlebens in Auschwitz, die bisher bei "Maus" mein Hauptaugenmerk eingenommen hatte, thematisiert die Geschichte ja aber auch genau dieses intergenerationelle Trauma, das der nach dem Krieg geborene Art Spiegelman von seinem Vater Vladek indirekt mitbekam. Unter dem Eindruck des Jüdischen Museums, des Schindler-Museums und natürlich der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau selbst, die ich vergangene Woche mit Schüler*innen besucht habe, fühlte ich mich stark zu einer neuen Lektüre des Graphic Novel hingezogen.
Die Geschichte von Vladeks Überleben hat nichts von ihrer Wirkungskraft eingebüßt. Die historische Genauigkeit, mit der Spiegelman zu Werke geht, ist immer wieder beeindruckend. Das betrifft nicht nur die Darstellung der Details, sondern auch den eigentlichen Ablauf des Holocaust. Der Ablauf in Stufen, die sich langsam steigerten, wird angesichts der Allgegenwärtigkeit von Auschwitz bis heute kaum wahrgenommen. Dabei erstreckt sich das Martyrium über Jahre, in denen die Juden erst entrechtet, dann vertrieben, dann in Ghettos gesperrt, dann in Lager gebracht werden. Auf jeder dieser Stufen fanden Selektionen statt und es bestand stets das Risiko von willkürlichen Erschießungen.
Das Überleben dieser Stufen war jedes Mal vom Zufall geprägt. Zwar hatte man, das wird mehr als deutlich, ohne Geld, Verbindungen und nützliche Talente überhaupt keine Chance. Aber unter den Leuten, die diese drei Faktoren auf ihrer Seite wussten, regierte ebenfalls der Zufall. Besonders beeindruckend finde ich etwa die Szene, in der Vladeks Schwiegereltern nicht aus dem Ghetto fliehen können und sein Schwiegervater sich am Fenster die Haare rauft, weil er genau weiß, dass er bald in Auschwitz sterben wird. Vladek kommentiert das beinahe lakonisch: "Sie starben im Gas. Er war ein Millionär, aber es half ihm nichts." Man macht sich keine Vorstellungen, wie tiefgreifend der Holocaust soziale Beziehungsgeflechte zerstörte.
Das gilt besonders für das Verhältnis der Juden untereinander, das besonders in der deutschen Aufarbeitung - durchaus aus guten Gründen - kaum vorkommt. Die Judenräte, die jüdische Polizei und allerlei Kriegsgewinnler sind für Vladek und viele andere mindestens genauso große Hindernisse und Feinde wie die Deutschen selbst, manchmal sogar noch schlimmer. Gleiches gilt für die Polen, denen zu begegnen für die fliehenden Juden oft lebensgefährlich war. Als Vladek in eine Gruppe polnischer Kinder gerät, die ihn als Juden beschimpfen, entkommt er nur, weil das Spiel mitspielt und ihnen freundlich erklärt, kein Jude zu sein; diese erkenne man am grässlichen Äußeren. Es ist eine Zerstörung von Identitäten, die ungeheur tiefgreifend ist.
Vladek selbst dürfte für viele seiner Leidensgenoss*innen auch nicht eben der sympathischste Bezugspunkt sein. Er überlebt, weil es ihm immer wieder gelingt, Vorzugsbehandlung zu erlangen: bessere Kleidung, ausreichend Essen, Schutz vor Selektionen. Dazu gehört viel Glück, und er schadet nie aktiv anderen. Aber zu den dunklen Wahrheiten des Holocaust gehört, dass ohne solche Vorteilsnahme ein Überleben ausgeschlossen war, ein Faktor, der zum "survivor's guilt" vieler Überlebender beiträgt, die so doppelt traumatisiert durchs Leben gehen.
Bei meiner nunmehr dritten Lektüre blieb mir auch wesentlich eingängiger als beim ersten Mal die Zeit der Todesmärsche in Erinnerung. Das Überleben von Auschwitz stellt nämlich gar nicht die größte Herausforderung für Vladek dar, so ungeheur sich das anhört. Viel schlimmer wird es für ihn in den anderen Lagern wie Großrosen und Dachau, wo zwar keine Vergasungen drohen, er aber an Typhus erkrankt und nachts über die Leichen zur Toilette muss, die sich vor dieser stapeln; seine Beschreibung vom Geräusch, das die Köpfe der Toten machen, wenn er auf die tritt, ist nichts für schwache Nerven. Vladek überlebt letztlich nur, weil er mit seiner Brotration Mitgefangene besticht, ihm zur Toilette zu helfen. Die letzten Todesmärsche nach Bayern im April 1945 bringen dann noch einmal ihre eigene Lebensgefahr. Während die Amerikaner nur wenige Kilometer entfernt sind, verraten örtliche Einwohner*innen immer noch Juden an die SS, die ihrerseits Erschießungen durchführt, ehe sie ihre Uniformen zurücklässt und flieht. Erneut überlebt Vladek nur durch Glück und Zufall.
Aber wie bereits eingangs erwähnt ist es Arts eigene Geschichte, die mich unter dem Eindruck der "Sweet Home Sweet"-Ausstellung dieses Mal besonders berührt hat. Der Vladek der frühen 1980er Jahre ist ein alter, traumatisierter Mann. Er streitet permanent mit seiner zweiten Ehefrau (seine erste Frau, die Mutter Arts, hat in den 1960er Jahren Selbstmord begangen, weil sie das Trauma nicht verwinden konnte), sammelt allerlei Müll an, weil er vielleicht einmal nützlich werden könnte, und ist krankhaft sparsam. Ebenso krankhaft ist sein Pragmatismus; er lehnt alles ab, was nicht dem Überleben dienlich sein kann, weswegen Arts Karriere als Comiczeichner ein beständiger Streitpunkt ist.
In den Gesprächen mit seinem Vater, vor allem aber mit seiner eigenen Frau, wird sich Art immer mehr bewusst, wie sehr er den Holocaust selbst mit sich herumschleppt, was in einer Doppelseite des Comics deutlich wird, die mit Art, eine Mäusemaske tragend, am Schreibtisch beginnt, sich zu einer Verlagerung des Schreibtischs in einen Leichenhaufen in der Gaskammer steigert und schließlich damit endet, dass er, nun in voller Mäusegestalt, als Kleinkind verzweifelt um Hilfe ruft.
Dieser Graphic Novel ist keine vergnügliche Lektüre, so viel ist sicher. Aber er ist das eindrücklichste Werk über den Holocaust und seine Nachwirkungen, das ich kenne. Bevor man irgendeine der viel zu vielen Schmonzetten und Betroffenheitsreproduktionen über diese Zeit konsumiert, sollte man unbedingt zu diesem Werk greifen.
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