Mittwoch, 12. Oktober 2022

Rezension: Andrei Soldatov - The New Nobility: The Restoration of Russia's Security State and the Enduring Legacy of the KGB

Andrei Soldatov - The New Nobility: The Restoration of Russia's Security State and the Enduring Legacy of the KGB (Hörbuch)

Der russische FSB genießt einen schier legendären Ruf, der zu guten Teilen auf einer langen Traditionslinie beruht: der gefürchtete zaristische Geheimdienst stellte sich nach 1917 lückenlos als NKWD in die Dienste der kommunistischen Diktatur und wurde bald darauf in den KGB umstrukturiert, der nicht nur ein Repertoire an Antagonisten für James Bond zu stellen wusste, sondern auch für das Funktionieren der Diktatur unabdingbar war. Über 200.000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen und vermutlich Millionen Zuträger*innen schufen den Polizeistaat der Sowjetunion. Unter Jelzin gab es Versuche, den KGB zu entmachten und demokratischer Kontrolle zu erstellen. Doch bald waren diese beendet, und 2000 übernahm mit Wladimir Putin der ehemalige Chef des nun in FSB umbenannten Geheimdiensts das höchste Amt im Staat. Er belohnte seine Weggefährten fürstlich: ein neuer Adel entstand, der dem vorliegenden Buch von Andrei Soldatov den Namen gegeben hat.

Soldatov beginnt seine Geschichte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Der KGB war direkt am fehlgeschlagenen Putsch gegen Gorbatschow beteiligt, weswegen Jelzin ein gesundes Grundmisstrauen gegen den Dienst mitbrachte. Da Jelzin auch durch die Zerstörung der UdSSR und damit deren zentraler Institutionen an die Macht kam - vor allem die KPdSU, die quasi totale Kontrolle über den KGB ausübte. Da das neue Russland keine solche Partei kennen sollte, war ein übermächtiger Geheimdienst ein Problem. Um ihn zu kontrollieren, beschloss Jelzin auf "checks and balances" zu setzen.

Zu diesem Zweck zerlegte er den KGB in mehrere konkurrierende Geheimdienste, sie untereinander um Einfluss rangen und sich somit neutralisierten - soweit zumindest die Theorie. Der FSB begann jedoch bald, seine konkurrierenden Geheimdienste immer mehr zu kannibalisieren. Im Zuge dieser Umstrukturierungen hatte sich auch das Anforderungsprofil des FSB gegenüber dem KGB geändert. Anstatt einen gewaltigen Polizeistaat aufrechtzuerhalten, sollte er sich auf "klassische" Geheimdienstaufgaben wie Spionageabwehr und Auslandsspionage konzentrieren.

Bereits unter der Ägide Putins begann der FSB jedoch, in alte Muster zurückzufallen und sich als "Schwert und Schild" des Staates zu begreifen, um einmal die Stasi-Rhetorik zu bemühen. Diese Mentalität wurde mit Putins Aufstieg zum Ministerpräsidenten und kurz darauf zum Präsidenten zur neuen Staatsdoktrin. Putin war sich seiner Herkunft wohl bewusst und brachte diverse Weggefährten mit in den Kreml. Aber auch diejenigen, die zurückblieben, wurden wesentlich aufgewertet.

Bereits in der Sowjetunion waren die FSB-Agenten mit Privilegien bedacht worden. Unter der "Liberalisierung" Russlands in den 1990er Jahren verramschte der FSB seine Besitztümer an die reiche Elite des Geheimdienstes, dessen höhere Offiziere auf Basis der FSB-Besitzstände zu Millionären wurden. Ein klarer Bruch bestand zwischen den Generälen und Obersten des Geheimdiensts jenseits der 60 und den jüngeren Agenten darunter: letztere erhielten praktisch nichts, was einen Abfluss talentierten Personals in die neue Welt der Privatisierungen zufolge hatte, wo in der Folgezeit viele ehemalige KGB-Agenten Anstellung als "Sicherheitsbeauftrage" der Unternehmen fanden - eine kaum verhohlene Legalisierung der Industriespionage, die für die neue russische Wirtschaft zum normalen Unternehmensfaktor wurde.

Der FSB selbst setzte dafür perverse Anreize: wer in der Privatwirtschaft mehr verdiente als beim FSB, musste die Differenz abgeben - oder auf das FSB-Gehalt verzichten. Das sorgte dafür, dass die FBS-Elite effektiv kündigte, aber nominell im FSB blieb und somit weiter Zugang zu allen Kolleg*innen und Informationen hatten. Die Folgen kann man sich leicht ausdenken.

Putin machte mit diesem System Schluss, indem er den FSB wieder zur Elite des russischen Systems machte. Privilegien wurden wieder ausgegeben und massig Möglichkeiten für Bereicherung geschaffen. Es ist diese Entwicklung, die zur Rede des titelgebenden "neuen Adels" führte und den FSB wieder wie in der Sowjetunion zur zentralen Stelle im Staat machte. Die Machtstellung hatte er aber bereits unter Jelzin erreicht, wie ein Interview mit Putin aus dem Jahr 1998 gut wiedergibt: gefragt, ob eine Putschgefahr wie bei Gorbatschow bestünde, lachte Putin nur und fragte "Wozu, wir sind doch schon an der Macht". Diese zynische Ehrlichkeit hat Putin, zumindest wenn man Merkel Glauben schenken darf, nie abgelegt.

Anfang der 2000er Jahre wandelte sich das Betätigungsfeld des FSB aber grundlegend, im Einklang mit dem der meisten westlichen Geheimdienste: die Terrorbekämpfung rückte auf die Agenda. In Russland hatte dies nicht dieselben Ursachen wie in den USA; stattdessen war es der genozidale Krieg in Tschetschenien, der eine Welle sowohl seperatistischen als auch islamistischen Terrors nach Russland brachte. Der FSB reagierte darauf mit nackter Gewalt - und einer beeindruckenden Inkompetenz.

Mehrere große Terroranschläge dieser Jahre sorgten für beeindruckende Opferzahlen - nicht so sehr wegen der Terroristen selbst, sondern weil der FSB mit einer beeindruckenden Gleichgültigkeit gegenüber zivilen Toten vorging und zudem schlicht nicht besonders gut war. Soldatov rekonstruiert mehrere Terroranschläge dieser Ära im Detail, aber das Muster ist dasselbe: für den FSB galt die Regel, dass alles vergeben werden konnte, was die Kontrolle des Staates nicht gefährdete. Über zweihundert Zivilisten zu töten, gefährdete nicht den Staat. Die Kontrolle über eine Region zu verlieren dagegen schon. In letzterem Fall wurde das Personal schnell ausgewechselt. In ersterem Fall wurde es reich belohnt. Wenig verwunderlich, dass bei der Schadensvermeidung nichts gelernt wurde.

Eine sehr Putin-spezifische Entwicklung in den 2000er Jahren stellt die Schaffung einer komplett neuen Terrordefinition und einer massiven Ausweitung der Kompetenzen dar. Terrorismus wurde unter Putin nun als all das definiert, was den Staat und seine Tätigkeit gefährden könnte - inklusive und vor allem Kritik an demselben. Das war der Beginn des modernen russischen Polizeistaates. Im Zuge dieser Definition wurde jegliche abweichende Meinung nicht nur als potenziell terroristisch gebrandmarkt, sondern auch als Produkt ausländischer Spionagetätigkeit.

Auch das war eine lange KGB-Tradition, die der FSB einfach fortführte. Mit uhrwerksmäßiger Routine gab der FSB völlig aufgeblähte Erfolgszahlen heraus. Rund 100 enttarnte feindliche Agent*innen werden jährlich gemeldet, dazu rund 400 einheimische Kollaborateure. Dass diese Zahlen überzogen sind, sollte offensichtlich sein, aber die Abwehr echter Spione ist auch nicht der Grund für diese Maßnahmen. Vielmehr wird so jede Kritik abgeschreckt, weil sie sofort als ausländische Aktivität gebrandmarkt wird und potenziell mit heftigen Strafen belegt.

Auf diese Art verwandelte der FSB Russland unter Putin mit Riesenschritten erneut in einen Polizeistaat. Der Geheimdienst war zentral in der Zerstörung des zarten Pflänzchens der Demokratisierung und Liberalisierung, auf dem bereits Jelzin herumgetrampelt war.Gleichzeitig baute der Geheimdienst eine größere Cyberkriegs-Abteilung auf, die ihre Wurzeln ebenfalls im Kampf gegen Dissidenten und Tschetschenen hatte, aber bald auch im Ausland Schaden anrichtete. Der Clou ist dabei, dass der FSB weniger eigene Hacker*innen unterhält, sondern "freiwillige" Gruppen auf die "richtigen" Ziele dirigiert und das in einer perversen Verhöhnung von Zivilcourage durch öffentliche Anerkennung belohnt.

Ein weiteres Betätigungsfeld des FSB ist das sogenannte "Kompromat", also echte oder gefälschte belastende Informationen über unliebsame Gegner. So versuchte der FSB etwa, einen amerikanischen Diplomaten zu erpressen, indem er Bilder von angeblichen Seitensprüngen fakte. Die amerikanische Botschaft stellte sich klar hinter den Diplomaten und verurteilte die Angriffe, aber allzu oft dürften solche Schmierkampagnen erfolgreich sein.

Die Bestandsaufnahme Soldatovs stammt noch aus den frühen 2010er Jahren und kennt insofern die massive Zunahme russischer Hackingangriffe, der flächenmäßigen Streuung von Fake News und natürlich dem Angriff auf die Ukraine seit 2014. Umso erstaunlicher und erschreckender ist, wie diese Methoden bereits in den ersten Tagen von Putins Herrschaft erkennbar werden und wie hellsichtig die Analyse dessen ist, was in Russland passiert. Das ganze Buch besitzt zwar einen Unterton, der Russland als nervige Regionalmacht ansieht, die dem Westen nicht wirklich gefährlich werden kann und eher ihre direkten Nachbarn bedroht, ist aber ansonsten für die Geschichte des FSB sehr zu empfehlen und auch nicht übermäßig lang.

1 Kommentar:

  1. Nicht nur das Buch gefällt mir sehr gut, auch die Rezension selbst;)

    AntwortenLöschen