Mittwoch, 19. April 2023

Rezension - Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Teil 2)

 

Teil 1 hier.

Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Damit geht Osterhammel in seinen nächsten großen Teil in Kapitel 4 über und schaut von den Räumen und Zeiten auf die Menschen. Als erstes beschäftigt er sich mit der Frage der Demografie. Das 19. Jahrhundert war in dieser Hinsicht eine ungewöhnliche Epoche. Auf der einen Seite erreichte die Bevölkerung Asiens mit 55% einen historischen Tiefstand am Anteil der Weltbevölkerung (normalerweise waren und sind es 60-65%; der mörderische chinesische Bürgerkrieg trug seinen Teil dazu bei), auf der anderen Seite erreichte Europa ein vorher und nachher nie gekanntes Bevölkerungswachstum.

Die Gründe dieses Bevölkerungswachstums liegen in den Verwerfungen der Industriellen Revolution; ihr Ablauf hat sich für die Entwicklung von Ländern anhand ihrer Linien seither als exemplarisch erweisen: die Sterberate fällt rapide, und die Geburtenrate folgt mit einer Verzögerung. Dadurch entstand in Europa ein demografischer Überschuss, den die Reiche des Kontinents nutzen konnten, um ihre ebenfalls einmalige Eroberungs- und Expansionszüge zu fundieren. Eine Ausnahme stellte in Europa allein Irland dar, dessen Bevölkerung (auch dank einer genozidalen britischen Politik) um die Hälfte abnahm.

Diese Expansion hatte Folgen. Einerseits wurden die Großreiche nun dominierend. Deren autochthone Bevölkerung lag zwischen 95% (Japan) und 16% (Niederlande), wobei die meisten Reiche eine autochthone Bevölkerung zwischen 50% und 80% aufwiesen. Diese Großreiche waren aber gerade keine Nationalstaaten, was die Idee des 19. Jahrhunderts als Zeitalter der Nationen durchaus in Zweifel zieht. Gleichzeitig sorgte die Sklaverei weiterhin für gewaltige Bevölkerungsverschiebungen; Millionen von Menschen wurden aus Afrika nach Lateinamerika verschleppt, besonders nach Brasilien, und sorgten dort für demografische Verwerfungen.

Diese gestalteten sich je nach Region unterschiedlich. In den USA etwa reproduzierte sich die schwarze Bevölkerung bei Einstellung des transkontinentalen Sklavenhandels 1808 bereits (wenngleich unter grauenhaften Bedingungen) selbst, während dies in der Karibik nie der Fall war, die bis weit ins 19. Jahrhundert auf Importe weiterer Sklav*innen angewiesen blieb und stagnierte. Ähnlich sah es in Lateinamerika aus, wo in Mexiko die Sklaverei nie Fuß fasste und zu einer demografisch insularen Entwicklung führte, während in Südamerika ebenfalls lange Sklav*innen weiter eingeführt wurden, gleichzeitig aber eine recht verbreitete Befreiungspraxis dafür sorgte, dass eine eigene, sich selbst tragende Schicht freier Schwarzer und Mischlinge entstand.

Ein Sonderphänomen des 19. Jahrhunderts, zumindest aus europäischer Sicht, waren die massiven Gefangenenverschickungen. In Australien, Neu-Kaledonien und Sibirien etwa sorgten diese für eine starke Änderung der demografischen Verhältnisse. Die Chinesen andererseits betrieben das zeitweise Exil im unerschlossenen Westen des Landes seit Längerem. Dagegen war das 19. Jahrhundert die Hochzeit des Exils. Zahlreiche politische Flüchtlinge - dank der Revolutionen und deren Unterdrückung - suchten Zuflucht im Ausland, organisierten von dort Umstürze, agitierten oder fanden eine neue Heimat. Leider begann im 19. Jahrhundert auch die Tradition der großen Flüchtlingsbewegungen. Zwar blieben die richtig großen Ströme dem 20. (und, vermutlich, 21.) Jahrhundert vorbehalten. Aber etwa auf dem Balkan, der Hochkaukasus- und Krimregion kam es zu großen Flüchtlingsbewegungen. Wesentlich größer dagegen waren Binnenbewegungen.

Eine wesentlich dunklere Wanderepisode war der Sklavenhandel, der im 19. Jahrhundert einen traurigen Höhepunkt erreichte. Zwar begannen Maßnahmen vor allem Großbritanniens, ihn für illegal zu erklären, doch das wurde kaum durchgesetzt. Millionen von Menschen aus Afrika wurden nach Lateinamerika und in die Karibik "exportiert". Und selbst als dieser Handel langsam abnahm, erreichte der Bedarf aus dem arabischen Raum, vor allem dem Osmanischen Reich, neue Höchststände, der vor allem aus Ostafrika gedeckt wurde.

Eher freiwilliger Natur war die große Arbeitsmigration vor allem aus dem asiatischen Raum. Einerseits verließen im 19. Jahrhundert hunderttausende Inder*innen das Land, um in einem Zwangssystem (indentured servitude) als halbfreie Arbeiter*innen ihre "Migrationskosten" abzuarbeiten. Ihre Ziele lagen vor allem auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Andererseits betraf es Chines*innen, die als sogenannte Kuhlis teils schlicht verschleppt und als Zwangsarbeiter*innen eingesetzt, teils als halbfreiwillige Arbeitskräfte ähnlich den Inder*innen nach Amerika oder Südafrika, aber auch in den südostasiatischen Raum vordrangen. Beiden Kulturen war eine Aversion gegen Migration gemein; einmal religiös (Indien), einmal staatlich (China) induziert.

Im fünften Kapitel wendet sich Osterhammel der Frage des Lebensstandards zu. Er unterscheidet zwischen Armut und Elend - das eine mag dennoch ein glückliches Leben erlauben, das andere nicht - und macht die wichtige Frage der Gesundheit auf: mit Wohlstand kommt nicht automatisch größere Gesundheit, jedenfalls nicht im 19. Jahrhundert. Er vergleicht die westlichen Gesellschaften mit dem ärmeren Japan, dessen Bevölkerung (übrigens bis heute) dennoch sehr gesund lebt.

Im Westen war das 19. Jahrhundert entgegen der landläufigen Vorstellung keine Zeit ungebrochen steigender Lebenserwartung; viel mehr sank diese in den meisten Ländern (außer Frankreich, kurioserweise) mit Einführung der Industrialisierung erst einmal, besonders, weil die Städte solche Brutherde von Infektionen und die Kombination aus Bevölkerungswachstum und schlechter Nahrung so schädlich waren. Erst gegen Ende des 19. und vor allem zu Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Lebenserwartung rapide zu steigen. Maßgeblich trugen dazu Erkenntnisse zur Hygiene bei: Osterhammel stellt fest, dass die große Kanalisation von London, die die Gesundheit der Metropole gerade im Vergleich zu anderen Städten wie München massiv steigerte, technisch gesehen auch schon 100 Jahre vorher hätte gebaut werden können, wenn das Problembewusstsein und der politische Wille dagewesen wären (und klingt das in Zeiten der Klimakrise nicht vertraut...).

Ebenfalls neu waren die Erkenntnisse der Bakteriologie und die sich verbreitenden Impfungen. Geimpft wurde seit dem späten 18. Jahrhundert, aber es brauchte die Durchsetzungskraft des modernen Staates, der flächendeckend und verpflichtend impfte, um echte Wirksamkeit zu erzielen (die Corona-Pandemie stellt in der Beziehung in meinen Augen einen echten Rückschritt dar). Gleichwohl waren Epidemien auch im 19. Jahrhundert keine Seltenheit. In Europa machte vor allem Tuberkulose, DIE Modekrankheit des Jahrhunderts, einen großen Anteil aus. Sie wurde von der bürgerlichen Moral aber verschwiegen, weswegen sich kaum öffentliche Debatten darüber finden. Auch Choleraausbrüche waren bis zur Verbesserung der Hygiene gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch sehr häufig.

Der Großteil der Epidemien aber fand außerhalb Europas statt und war häufig eine Folge wirtschaftlicher Entwicklung. Ob in Indien oder China, riesige Pandemien, die von westlichen Augen unbemerkt stattfanden, waren die Folge wirtschaftlicher Erschließung neuer Ressourcen. Die große Armut in weiten Teilen der Welt bei gleichzeitiger Konzentration der Bevölkerung in neuen Bevölkerungszentren UND deren Anschluss an ein globales Verkehrsnetz schufen im 19. Jahrhundert einzigartige Pandemiebedingungen, so dass gerade die erwähnte Cholera einen Siegeszug von Bengal bis nach Europa und Amerika antreten konnte - interessanterweise unter weitgehender Auslassung Chinas, dessen autokratische Hygienemaßnahmen hier wirkungsvoller für Schutz sorgten als in weiten Teilen der "westlichen" Welt.

Die Bekämpfung der Seuchen machte im 19. Jahrhundert auf wissenschaftlichem Gebiet relativ kleine Fortschritte: zwar gelang die Bekämpfung von Malaria - DIE unterschätzte Ursache für den Imperialismusschub in Afrika Ende des 19. Jahrhunderts -, aber die Forschung an Krankheitsursachen im Labor, vor allem in der Bakteriologie, stand noch am Anfang und war sehr umstritten. Wesentlich größere Erfolge wurden dort erzielt, wo der Staat mit social engineering die öffentliche Hygiene verbesserte, was die Mortalitätsrate massiv absenkte.

Neben der Bekämpfung von Seuchen machte das 19. Jahrhundert auch bei der Bekämpfung von Naturkastrophen große Fortschritte. Nicht nur wurden zahlreiche Naturphänomene eingehegt (etwa die Bändigung von Flüssen); die mit wesentlich mehr Autorität und Bürokratie ausgestatteten Staaten waren erstmals in der Lage, effektive Hilfe für die Betroffenen zu leisten und so etwas wie Warnsysteme zu installieren. Entsprechend sanken die Todeszahlen durch Naturkatastrophen massiv ab; die Fälle, in denen dies wie beim Erdbeben von San Francisco nicht geschah, waren nun die hervorhebenswerten.

Nicht zu vergessen in dieser Aufzählung ist das Ende des Hungers (Osterhammel schreibt pessimistisch ein "vorläufig" in Klammern in die Überschrift). Darin findet sich die wohl größte Änderung der menschlichen Existenz, denn der Hunger hatte immer zu ihr gehört. Doch die technologischen Fortschritte einerseits und die massiv zunehmenden staatlichen Kapazitäten andererseits sorgten dafür, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts Hunger zu einer furchtbaren Erinnerung früherer Zeiten wurde; Ausnahmen wie Irland in den 1840er Jahren bestätigten da eher die Regel. Wesentlich schlimmer war die Lage in Afrika, wo sie sich erst im späteren 20. Jahrhundert grundsätzlich ändern sollte, und in Indien und China. Japan erlebte in den 1830er Jahren seine (vorläufig) letzte Hungersnot; Nordamerika (inklusive Mexiko!) keine einzige.

Die Ursachen dieser Hungersnöte sind vielfältig. Im Fall Indiens etwa trägt die Kolonialmacht Großbritannien wie auch in Irland eine große Mitschuld, weil die Freihandelsideologie, gepaart mit technologischem Fortschritt, die Nahrungsmittelproduktion umfassend dem Export zuführte und gleichzeitig eine Weigerung bedingte, als Katastrophenhilfe zu intervenieren. In China war eher das Gegenteil der Fall: der Zusammenbruch der staatlichen Kapazitäten (bis ins 18. Jahrhundert hinein besaß China mit seinen Getreidespeichern das weltweit beste Interventionssystem, siehe dazu auch Geoffrey Parker) sorgten für Hungerkrisen. Ausgelöst wurden diese Krisen aber vermutlich in allen Fällen durch El-Nino-Ereignisse und Ähnliches; Osterhammel verweist hier aber auf weiteren Forschungsbedarf.

Mit dem Thema "Hunger" unmittelbar verknüpft ist die Landwirtschaft, die noch bis Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika und im Rest der Welt bis weit ins 20. Jahrhundert die bestimmtende Form war. Das 19. Jahrhundert war im Westen von einer gewaltigen, aber ungleichmäßigen Produktivitätsexplosion der Landwirtschaft gekennzeichnet. Führend war hier einmal mehr Großbritannien, aber Deutschland kam recht dicht dahinter, während ausgerechnet das Agrarland Frankreich wesentlich schlechter abschnitt. Die größten Gewinne aber wurden in Nordamerika und Russland erzielt, wo zahlreiche neue Flächen für die Landwirtschaft erschlossen wurden. Dadurch entstand ein großer internationaler Markt für Nahrungsmittel, der es etwa den Alliierten im Ersten Weltkrieg erlaubte, die Unzulänglichkeit der eigenen Produktion zu kompensieren - anders als die Mittelmächte, für die das nicht möglich war und die mit entsprechenden Problemen zu kämpfen hatten.

Für das Thema der Lebensstandards relevant ist auch die Frage der Armut. Relativ betrachtet waren alle Gesellschaften vor dem 19. Jahrhundert arme Gesellschaften. Die industrielle Revolution erlaubte eine Zunahme an Lebensstandard, wie sie vor 1800 praktisch unvorstellbar war. Erst 1790 erklärten die ersten Theoretiker Armut als ein moralisches Skandalon, anstatt sie als gottgegeben zu akzeptieren. Auch Superreichtum war eine "Erfindung" des 19. Jahrhunderts. Sie war ohnegleichen in den USA, wo die Abstände zwischen den Supervermögen und dem Rest auf ein nie gekanntes Level wuchsen, das auch in Europa nicht erreicht wurde. In Asien dagegen wie auch in anderen Teilen der Welt war Reichtum weit weniger umfrangreich und konnte häufig auch nicht über mehrere Generationen transportiert werden, wie das im westlichen Teil der Welt der Fall war.

Weiter geht's in Teil 3.

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