Montag, 13. November 2023

Rezension: Shmuel N. Eisenstadt - Die Vielfalt der Moderne (Teil 3)

 

Teil 1 hier, Teil 2 hier.

Shmuel N. Eisenstadt - Die Vielfalt der Moderne

Als Nächstes wendet sich Eisenstadt den historischen Wurzeln der Meiji-Restauration zu. Sie ähnelt für ihn den klassischen westlichen Revolutionen, weil ein bestehender Herrscher vollständig abgesetzt wird. Gleichzeitig benötigte sie eine Legitimation wegen ihres zutiefst gesellschaftsverändernden Programms. Dieses war seiner Natur nach modern und versuchte Japan für die Moderne bereit zu machen und dem Land einen Rang in der Welt einzuräumen. Die neue Ideologie ich liebe dich betonte deswegen die Gleichheit aller Japaner. Dieser gleichheitsbegriff unterschied sich allerdings vom westlichen und war „funktional egalitär“, indem er es allen ermöglichte, die Pflichten der Samurai zu erfüllen. Theologische und sakrale Elemente fanden dagegen praktisch keinen Einfluss. Stattdessen wurde der Nationalstaat stark ethnisch definiert. Das japanische Kollektiv wurde dabei als unvergleichlich und einzigartig definiert, weil sie meine Veranlagung zum Rassismus gab, 27. Jahrhundert mörderische Folgen haben würde. Stets aber gehörte die Idee, dass das Land mit der Zeit gehen müsse, was Technologien und ähnliche Veränderungen anbelangte, mit zu dieser neuen Ideologie. Mein versuchte, eine Zweckrationalität auf der einen Seite von einer Werttraditionalität auf der anderen Seite zu trennen.

Eine Konsequenz dieser Tendenz war das Zusammenfallen von Staat und Gesellschaft, wobei der Staat als eigentliche Größe eher schwach ist. Seine Regierungen werden eher mit Orchesterdirigenten verglichen, die eine steuernde Funktion einnehmen und über gesellschaftliche Kräfte Einfluss auszuüben versuchen. Deswegen sei auch die Zivilgesellschaft in Japan vergleichsweise schwach entwickelt. Was aus westlicher Sicht ist diese Kombination eines stabilen konstitutionellen und demokratischen Regimes mit einer schwachen Zivilgesellschaft was paradox.

Sowohl Japan als auch die Vereinigten Staaten erkannten von Beginn an die komplette Gleichheit aller Staatsbürger an, zumindest sofern diese in die ethnische Definition passten. Eisenstadt sieht hierin einen wichtigen Grund dafür, dass in keinem der beiden Länder eine sozialistische Bewegung Aussicht auf Erfolg hatte. Während sich in Europa Protestbewegungen auf die Umgestaltung des Zentrums richtete, blieben solche Bestrebungen in Japan schwach und eher auf das Öffnen neuer sozialer Räume beschränkt. Diese Unterschiede sieht Eisenstadt als zentrale Belege für seine These von der Vielfalt der Moderne.

Im vierten Abschnitt wendet er sich nun dem Fundamentalismus als moderner Bewegung gegen die Moderne zu.

Das klassische Beispiel einer von sozialen Bewegungen geschaffenen Variante der Moderne ist für ihn das kommunistische beziehungsweise sowjetisches System das er, wie alle solchen Bewegungen, als jakobinisch bezeichnet. Es bestritt die Hegemonie der westlichen Moderne unter Berufung auf deren eigene Prämissen und sah sich als wahren Erben der Aufklärung. Zahlreiche Revolutionen hätten sich auf die Werte der Aufklärung berufen und sich gegen starke Zentren gerichtet, diese radikal umzugestalten gedachten, auch etwa die säkularen nationalistischen Bewegungen. In vielen Staaten, in denen solche Revolutionen stattfanden, beeinflussten sich Zentrum und Peripherie nur sehr wenig, gab es keine starke Zivilgesellschaft und war die Vorstellung eines gleichen Zugangs zum Zentrum für alle Bevölkerungsteile kaum verbreitet. Wenig überraschend führten sie demnach auch nicht zu größerer Partizipation.

Ein Paradox erkennt Eisenstadt jedoch in den religiösen Fundamentalismen, die scheinbar antimodern waren, aber dennoch Merkmale der Moderne entwickelten. Das kennzeichnende Merkmal seien für sie alle die jakobinischen, totalitären Tendenzen.

Die ersten modernen fundamentalistischen Bewegungen entstanden in den Vereinigten Staaten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Ihre Wurzeln allerdings fänden sich bereits in den protestantischen Siedlungskolonien. Diese fundamentalistischen Protestanten begannen um die Wende des 20. Jahrhunderts in die Gesellschaft einzusickern und gewannen ab dem Zweiten Weltkrieg zunehmend an Einfluss. Etwa gleichzeitig entwickelte sich ein jüdischer Fundamentalismus, der in Israel ab den 1970er Jahren politischen Einfluss gewann. Er lehnte Israel als Staat grundsätzlich ab und sprach ihm auch die Legitimation ab. Dies liegt an der Berufung auf eine angeblich traditionelle Auslegung des heiligen Textes (ein Muster, das alle fundamentalistischen Bewegungen eint), während der israelische Staat das Judentum grundsätzlich weiterentwickeln und verändern will.

Der islamische Fundamentalismus schließlich, der sicher nicht zufällig zur gleichen Seite entstand,  was hat er an den Auseinandersetzungen der islamischen Welt mit dem Westen permanent Anteil und gewann in diesem Rahmen auch an Einfluss, der wie bei seinen christlichen und jüdischen Cousins gegen Ende des 20. Jahrhunderts stark zunahm. Im islamischen Fall entwickelte sich der Fundamentalismus auch stark in der Diaspora der muslimischen Migrantengemeinden.

Auffällig sei bereits an dieser Stelle eine große Heterogenität fundamentalistischer Bewegungen, die sich ständig in Interaktion und im Fluss befänden. An dieser Stelle versucht sich Eisenstadt an einer Synthese: Hauptmerkmale der modernen fundamentalistischen Bewegungen bestünden in ihrer utopischen Ausrichtung und messianischen Erwartungshaltung, in einer klaren, sektiererischen Trennung zwischen Innen und außen und folgend einem klaren Feindbild. Die modernen Aspekte an all diesen fundamentalistischen Bewegungen sind der Gebrauch moderner Kommunikations- und Propagandatechniken so wie ihr Fokus auf Organisation und Disziplin. Zwar werden Teile des aufklärerischen Programms abgestritten, etwa die Betonung von Vernunft und Souveränität, gleichzeitig aber andere Teile, wie partizipatorische, totalitäre und egalitäre (gleichwohl meist auf Männer beschränkt) stark betont. So entsteht eine innere Spannung, weil die fundamentalistischen Bewegungen die bewusste moralische Entscheidung zu Beitritt und Zugehörigkeit zur Bewegung voraussetzen, was einer impliziten Anerkennung der Autonomie menschlichen Willens gleichkommt. Deswegen müssen ständig neue Mitglieder rekrutiert werden. Diese Mobilisierung von Anhängern und der Kampf gegen die Übel der Moderne kennzeichnen zwar viele Bewegungen, würden aber von den fundamentalistischen am stärksten akzentuiert.

Die potenziell totalitären und jakobinischen Komponenten macht Eisenstadt in mehreren Dimensionen aus: zum einen Erstrebten sie alle die Umgestaltung der Gesellschaft und heben dabei den Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie auf. Intermediäre Akteure wie Zivilgesellschaften werden abgelehnt. Zum anderen lehnen sie primordiale Elemente der kollektiven Identität ab und überhöhen universalistische Aspekte. Nicht alle fundamentalistischen Bewegungen wollen dabei die Welt umgestalten. Manche protestantischen Fundamentalisten etwa haben als Ziel eher einen Rückzug aus der Welt in eine eigene Enklave. Generell variieren Art und Intensität des politischen Handelns stark und hängen von zahlreichen umgebenden Faktoren ab.

Die Notwendigkeit zur Mobilisierung führt zu einem oft paradoxen Verhältnis zu Frauen. Diese werden als Trägerinnen des fundamentalistischen Regimes oft gebraucht, sind aber gleichzeitig üblicherweise zweitrangig. Solche Regime bedienen sich manchmal moderne Formen wie allgemeiner Wahlen und Parlamenten, Bei denen dann auch zumindest nominell Frauen zugelassen sind. Dieses Spannungsverhältnis findet sich etwa im Iran. Da die fundamentalistischen Regime alle unterschiedliche Einstellungen haben, entstehen oft Konflikte innerhalb der Bewegungen, so etwa im Kampf der iranischen Fundamentalisten gegen die Taliban.

So stellt das Verhältnis zu Innovation auch einen Zankapfel innerhalb aller Bewegungen dar: die meisten lehnen jegliche Veränderung einer selbstverständlich konstruierten Tradition kategorisch ab, dies gilt allerdings nicht für alle. Gleichwohl beziehen sie sich alle auf einen heiligen Text, für den sie die einzig korrekte Interpretation beanspruchen. Auf diese Art und Weise entsteht der Anspruch einer Orthodoxie, der aber in einem paradoxen Verhältnis zu der realen Heterogenität des Fundamentalismus steht.

Eisenstadt sieht es deswegen auch nicht als Paradox an, dass ausgerechnet religiöse fundamentalistische Bewegungen so viele Merkmale der extremsten säkularen modernen Vision, dem Jakobinertum, aufweisen.

Zum Abschluss vergleicht er fundamentalistische und kommunistische Regimes. Was beide Zielen auf eine Umgestaltung der real existierenden Welt und nicht nur und exklusiv auf ein Jenseits. Gleichwohl legitimiert sich der Kommunismus ausschließlich aus der Bevölkerung, die zu repräsentieren seine Eliten behaupten, während der religiöse Fundamentalismus sich immer aus der doppelten Legitimationsquelle von Gott und Bevölkerung speist und seine Eliten immer auch religiös legitimiert, was ihnen zumindest vordergründig mehr Stabilität verleiht. Für das kommunistische Regime bildete dies eine Achillesferse, da er sich permanent in der wirklichen Welt beweisen musste und gegen seine realen Erfolge gemessen werden konnte.

Eine letzte Kategorie fundamentalistische Bewegungen sind die nationalen und nationalistischen, unter ihnen vor allem Faschismus und Nationalsozialismus. Sie lehnten die Moderne und Aufklärung mit Besonderem, geradezu missionarischem Eifer ab, betonten allerdings trotzdem Teile genau diese Aufklärung, vor allem dem Primat der Autonomie des menschlichen Willens. Gleichzeitig lehnten sie die Idee der Vernunft ab. Zum Abschluss wirft er noch einen Blick auf indische Bewegungen.

In einem den Schlussstein bildenden Ausblick auf die Herausforderung pluralistischer Gesellschaften arbeitet er heraus, dass der Aufstieg von Fundamentalismen mit einer Schwächung der westlichen Hegemonie, etwa mit Wirtschaftskrisen in den 1930er und 1970er Jahren stattfand. Das Ende der Konfrontation mit dem Kommunismus habe zudem ebenfalls eine Schwächung des westlichen Modells bedeutet. Als dritte große Herausforderung sieht er die Globalisierung, als Vierte die mit ihr eingehenden Destabilisierungsprozesse. Zuletzt erkennt er eine starke Tendenz zur globalen kulturellen Vereinheitlichung, die bestehende Identitäten und Traditionen zerstöre und so den Weg für neue Radikalismen öffnen. Sechstens gebe es eine Tendenz für technokratische Politik weltweit, die aber gleichzeitig nicht mit den Problemen fertig werde. Die Verlierer dieser Modernisierungsprozesse seien besonders anfällig gegenüber Fundamentalismen.

Die neuen Protestbewegungen des Westens schließlich fielen auf, dass Sie wenig Interesse an einer Umgestaltung des Zentrums und vielmehr an der Eröffnung neuer Sozialräume hätten. Die abschließende Aufstellung von Herausforderungen der pluralistischen Länder ist logischerweise auf dem Stand des Jahres 2000, in dem das Buch veröffentlicht wurde. Eisenstadt beweist hier eine große Weitsichtigkeit, indem er den zunehmenden Islamismus der Türkei, den Aufstieg Chinas und den Fundamentalismus des Iran thematisiert. Die Taliban dagegen waren für ihn vor allem eine Kuriosität, was ein Jahr später deutlich widerlegt werden sollte.

Eisenstadts Werk ist einer dieser Grundlagentexte, der die moderne Auslegung der Geschichtswissenschaft massiv beeinflusst hat. Die Vorstellung der Moderne war nach Veröffentlichung dieser Vorlesung nicht mehr dieselbe. Inzwischen ist die These von der Vielfalt der Moderne genauso sehr Allgemeingut, wie dass nicht alle in den Ersten Weltkrieg hineingeschlittert sind oder dass die These vom deutschen Sonderweg ein Irrtum war. Für mich ist es auch beruflich relevant, weil es einen Grundlagentext für die Umsetzung des neuen Bildungsplans darstellt, der das Thema „Moderne“ als Leitmotiv der Jahrgangsstufe hat. Genauso wie Osterhammel, Doering-Manteuffel und viele weitere zählt er zum Kanon der Werke, auf denen die Ausrichtung des Bildungsplans basiert. Das ist für mich auch insofern relevant, als dass wir erkennen können, mit welchem zeitlichen Abstand Ideen aus der Geschichtswissenschaft in den Geschichtsunterricht einsickern. Allzu oft bleibt das auch der letzte Punkt, denn die Populärwissenschaft und öffentliche Debatte übernehmen das gerne gar nicht.

Eine leichte Lektüre ist das Buch allerdings nicht. Man merkt ihm seine Genese aus einer Vorlesung durchaus an, was nicht nur an der geballten Verwendung teilweise exotischer Fremdwörter und Soziologenslang liegt, sondern auch an der verdichteten Darstellung, die eine hohe Konzentration erfordert. Zudem wird ein großer Grad Vorwissens benötigt, weil Eisenstadt sich nicht eben damit aufhält, die Grundkonzepte zu erläutern, sondern sie schlicht voraussetzt. Wer bereit ist, diese Arbeit auf sich zu nehmen, wird aber mit einem sehr stimulierenden Text belohnt.

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