Montag, 5. Februar 2024

Oral History: Corona, Teil 1

 

Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um die Corona-Pandemie 2020-2023, die einem kollektiven Verdrängungsprozess zum Opfer zu fallen scheint. In diesem Teil betrachten wir die Anfangszeit bis zum Herbst 2020.


Ich erinnere mich, dass ich irgendwann im Dezember 2019 zum ersten Mal von Corona gehört habe. In den Nachrichten kam es als beginnende Pandemie in Asien vor. Ich heftete es in derselben Rubrik ab, in der auch die Vogel- und Schweinegrippeepidemien liegen: Ereignisse, die in anderen, weit entfernten Ländern stattfanden und trotz mehrfacher Warnungen und Befürchtungen nie in Deutschland durchschlugen. Die Bilder von Asiat*innen mit Gesichtsmasken gehörten zu dieser Entwicklung dazu. Das änderte sich auch im Januar und Februar 2020 für mich nicht großartig. Die Pandemie breitete sich zwar aus, aber die Nachrichtenlage war immer noch eine, die über ein weit entferntes Ereignis berichtete - und entsprechend, wie alle internationalen Neuigkeiten, ging das größtenteils im allgemeinen Rauschen unter, auch bei mir.

Das alles änderte sich in der zweiten Märzwoche. Am Dienstag, dem 10.03.2020, war ich zum Kindergeburtstag meiner Tochter in einem Indoorspielplatz. Während die Kids tobten, unterhielt ich mich per Whatsapp (Papa-des-Jahres-Award, absolutes Vorbild) mit einem britischen Freund, der durch seinen Beruf als Politikberater deutlich näher am Puls aktueller Entwicklungen ist, über die Lage. Ich hatte in den Tagen zuvor wesentlich mehr Nachrichten zum Thema konsumiert und konnte seine Frage "How worried are you?" mit "very" beantworten. Er fügte mich einer Gruppe hinzu, die News zur Pandemie teilte und besprach und in der diverse Leute waren, die nah an den Schaltstellen der Macht sind - Kongressmitarbeitende, Berater*innen, etc. Entsprechend hatten diese Kontext und Informationen, die noch gar nicht in den Nachrichten rezipiert wurden.

Die nächsten Tage waren für mich merkwürdig unwirklich. Ich war der aktuellen Nachrichtenlage immer ungefähr anderthalb Tage voraus. Was wir in der Gruppe am Dienstag diskutierten, schaffte es Mittwoch abend in die allgemeinen Nachrichten. Als ich am Mittwoch Nachmittag, dem 11.03.2020, mit meiner Frau über das Thema redete, war sie noch auf dem Stand, auf dem ich Montag gewesen war: eine Kuriosität aus Asien, weiter nichts. Am Donnerstagmorgen, dem 12.03.2020, schrieb ich eine Mail an meine Schulleitung, dass ich der Überzeugung sei, dass wir die Schule schließen sollten, weil die Gefahr so hoch war (die Antwort war, auf eine offizielle Anweisung des Kultusministeriums zu warten). Meinen Schüler*innen wünschte ich vorsorglich schöne Ferien (Osterferien begannen am 06.04.2020), weil ich nicht davon ausging, sie vorher wiederzusehen. Ungläubiges Gelächter antwortete mir. Ich sollte Recht behalten. Bereits am Donnerstnachmittag begann die aufgeregte Debatte über Schließungen.

Am Freitag, dem 13.03.2020, war die Aufregung groß. In den meisten Bundesländern verkündeten die Ministerpräsident*innen zwischen 8 und 9 Uhr morgens die Schließung der Schulen. In Baden-Württemberg ließ sich die grün-schwarze Landesregierung bis nachmittags Zeit, um dann (wenig überraschend) zum selben Ergebnis zu kommen wie alle anderen Bundesländer. Mich machte das unglaublich wütend, weil es so absehbar war. Denn durch die Verzögerung war es unmöglich, die Schulschließung logistisch noch am Freitag zu machen. Wir mussten deswegen am Montag alle noch kommen und verloren bereits einen Tag. Unsere Schule selbst war auf die Situation gut eingestellt: da wir bei der Digitalisierung Trendsetter waren, konnten wir direkt in den Fernunterricht wechseln: alle Schüler*innen hatten einen Laptop mit der kompletten Office-Suite, darunter das mittlerweile wesentlich bekanntere (als damals) Microsoft Teams. Ich experimentierte zuerst mit Discord, weil die Schüler*innen das überwiegend kannten, wechselte aber bald ebenfalls auf Teams.

Wesentlich schlimmer waren die Schulschließungen für die Kinder. Die örtliche Grundschule, deren zweite Klasse mein Sohn besuchte, hatte damals keine Mailadressen für die Lehrkräfte und eine GMX-Adresse (!) für die Schule. Die Aufgaben wurden von der Klassenlehrerin per Fahrrad ausgefahren und an die Türen der Familien gehängt, als ein riesiger Stapel Kopien für die ganze Woche. Während meine Tochter (Kindergartenkind) ohne jede Beschäftigung zuhause war und wir im Fernunterricht arbeiten mussten, sollte mein Zweitklässler sechs Stunden konzentriert am Stück Aufgaben abarbeiten. Ha. Ha. Ha. Die Klassenlehrerin war super engagiert und tat ihr Möglichstes, aber das war sehr wenig. Für meinen Sohn war die Schulschließung ein massiver Knick, unter dem er bis heute leidet - genauso wie viele seiner mittlerweile ehemaligen Klassenkamerad*innen.

Diese frühen Tage der Pandemie waren wild. Bereits am Samstag, dem 14.03.2020, wurden nach den Schulen auch die Spielplätze geschlossen. Ausgangssperren wurden erlassen, die selbst das Spaziergehen in der freien Natur betrafen. Die aus der Rückschau geradezu groteske Überreaktion jener Tage führte zu einer Isolation, die monatelang anhalten sollte. Besonders für die Kinder war das brutal; für die Eltern quasi als Kollateralschaden. Sie gingen nach zwei Wochen die Wände hoch. Das Muster, dass die Familien und jungen Menschen die größten Belastungen zu tragen hatten (neben den Selbstständigen) setzte sich leider durch die gesamte Pandemiezeit fort.

Wir wissen heute, dass der Infektionsgrad damals gering war; nur ein niedriger einstelliger Prozentwert infizierte sich. Das lag mit Sicherheit an den harten Maßnahmen, die zwar auch keinen Lockdown darstellten, die sich aber wie einer anfühlten. Die weitere Verwendung des Wortes in den folgenden zwei Jahren hölte den Begriff bis zur Unkenntlichkeit aus. Was die Maßnahmen gebracht haben, ist bis heute sehr umstritten. Ich bin aber ziemlich zuversichtlich, dass die Maßnahmen diese erste Welle ziemlich abbrachen. Das deckt sich jedenfalls mit den meisten Expert*innen, wenngleich es abweichende (und sicher auch gut begründete) Ansichten gibt. Dass hier keine Klarheit zu erzielen war, war damals bereits völlig offensichtlich. Ich schrieb bereits am 21.04.2020 einen Beitrag mit der Forderung, nach der Pandemie einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, da es während der Pandemie unmöglich war, in Echtzeit die Sache zu verhandeln. Der Artikel gehört in meinen Augen zu den belastbarsten und hellsichtigsten Prognosen, die ich je gemacht habe (anders als manche andere).

Eine Kuriosität der Lockdown-Zeit ist sicherlich der Mangel an Klopapier, der in keiner ordentlichen Rückschau auf die Pandemie fehlen darf. Die Leute kauften in der Lockdown-Panik in einem völlig irrationalen Ausmaß Vorräte, so dass etwa Mehl, Nudeln und Dosennahrung großflächig ausverkauft war, genauso wie Handseife und Desinfektionsmittel (der Irrtum, dass sich Corona als Schmierinfektion verbreiten könnte, wurde zwar schnell widerlegt, aber bis 2023 hielten sich überall die Hinweise zum Desinfizieren der Hände und entsprechenden Spender, obwohl sie zwar für die Hygiene toll, für die Pandemie aber völlig irrelevant waren). Zum Symbol dieses Mangels brachte es aber das Klopapier. Warum es überhaupt zu einem Mangel kam, ist bis heute nicht völlig geklärt; die beste Theorie, die ich kenne, ist, dass durch die viele Fernarbeit und den Fernunterricht die öffentlichen Toiletten nicht mehr benutzt wurden, das Klopapier für diese aber nur im Großhandel zu beziehen war, weswegen die haushaltsüblichen Verpackungsgrößen nicht mehr verfügbar waren. Im Ergebnis gab es zwei oder drei Wochen kein Klopapier; das Zeug ist heute noch wesentlich teurer als vor der Pandemie. Jedenfalls gefühlt, und gefühlte Wahrheiten dieser Art gibt es viele.

Das wohl prägnanteste Phänomen jener Tage war der kometenhafte Aufstieg des Virologen Christian Drosten zum Superstar der Pandemie. Der NDR hatte ihn gebeten, in einem Podcast die Pandemie zu erklären. Das Produkt "Coronavirus-Update" brachte es trotz (oder wegen?) des sperrigen Namens, der trockenen Gestaltung des NDR und dem wissenschaftlich belastbaren und korrekt agierenden Drosten zu einer unglaublichen Popularität und entwickelte sich zu einer Sternstunde des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Gleichzeitig zeigten sich aber bereits erste Symptome der Spaltung, die ab dem Herbst immer mehr durchschlagen würde. Die noch recht kleine Fraktion der Kritiker*innen brachte eigene Experten in Stellung (vor allem Alexander Kekulé, der dann im MDR (natürlich) einen eigenen Podcast erhielt und Hendrick Streeck, der mit steilen Thesen für Aufmerksamkeit sorgte); Drosten wurde zum Feindbild der bald unter dem Namen "Querdenker" agierenden Kritiker*innen.

Der Sommer brachte eine spürbare Entlastung. Dieses Muster sollte sich in den kommenden Jahren wiederholen: deutlich sinkende Inzidenzen im Frühjahr und Sommer, entstehende Sorglosigkeit, massiv steigende Fallzahlen in Herbst und Winter, Einschnitte und mehr Vorsicht, wieder Entlastung. Im Sommer 2020 erschien es, als sei das schlimmste bereits überwunden. Die Fallzahlen blieben verschwindend gering, und die Pandemie und der Lockdown schienen überstanden - ganz egal, wie sehr Christian Drosten bereits davor warnte, dass die Zahlen ab September rapide steigen würden und die Politik und Gesellschaft sich vorbereiten sollten. Die Vorbereitung unterblieb auf allen Ebenen.

Als dann die Fallzahlen im September wieder wie prognostiziert anstiegen, fanden wieder Schließungen statt. Dieses Mal aber waren sie weit weniger strikt als im Frühjahr, was natürlich niemanden davon abhielt davon zu reden, dass man "wieder in den Lockdown" gehe. Die Schulen schlossen wieder, öffneten dann, schlossen wieder, ohne System, ohne Rhythmus. Die Entscheidungen wurden von den Landkreisen einzeln getroffen, Kriterien im Tagestakt aufgestellt und wieder verworfen, während die Politik den Entwicklungen einerseits und dem sich wandelnden wissenschaftlichen Forschungsstand andererseits hinterherrannte. Das Ergebnis war ein überall greifbarer Vertrauensverlust und eine Erschöpfung mit den Maßnahmen. Noch überwog ersteres; die Querdenker dominierten noch nicht.

Die Debatte war aber mittlerweile von einem Modus des Berichtens über und Unterstützens von Maßnahmen zu einem "Für oder Wider" gewandelt. Abgesehen von Wissenschaftler*innen wie Drosten, die ein zunehmend hoffnungsloses Rückzugsgefecht für wissenschaftliche Betrachtungen führten, setzte ein allgemeines Cherry-Picking ein. Andere Länder mussten für den Beleg der eigenen Position herhalten, ohne dass die dortigen Umstände sonderlich bekannt wären. Man denke nur an die Dauerdebatte zu Schweden, das zu einer Chiffre der Querdenker wurde (und von dem wir bis heute nicht wirklich wissen, ob der Ansatz besser oder schlechter war oder woraus er eigentlich bestand, siehe etwa hier und hier).

Weiter geht es in Teil 2.

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