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Lutz Raphael – Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom
Anders als in der Autoindustrie sah die Lage in krisengebeutelteren Branchen aus. Hierbei sieht er drei Problemkonstellationen. Zuerst die Bildung von Notgemeinschaften, die etwa tarifliche Untergrenzen freiwillig unterschritten oder die Produktion demokratisch weiterführten, obwohl die Unternehmensleitung das nicht mehr wollte, alles mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Die zweite Kategorie war der "mühsame Auszug aus dem Patriarchat" (Kotthoff), das Erkämpfen von pluralistischen Beteiligungsrechten. Zum dritten beschreibt er das Auseinanderbrechen bestehender Sozialstrukturen bei zu starken personellen Einschnitten, das dann die Übernahme innovativer Methoden wegen des Misstrauens gegen das ortsfremde Managment nicht ermöglichte.
Raphael endet das Kapitel mit einer Betonung der Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen für den wirtschaftlichen Erfolg, die oft übersehen werde. Die Anerkennungskämpfe der Deindustrialisierungszeit brachten vor allem Gewinne für bisher marginalisierte Gruppen (vor allem Arbeitsmigrant*innen). Anders als von marxistischen Theorien prophezeit habe es auch keine weitgehende Zerstörung der Sozialordnungen durch die neuen Managmentmethoden gegeben, die zwar oft Druck und Innovation brachten, aber nicht zwangsläufig in neoliberaler Ausbeuterei mündeten. Gleiches gilt für technische Innovationen: sie "gaben den Entwicklungen betrieblicher Sozialordnungen keine Richtung vor". Besonders erfolgreich seien die Bündnisse für Arbeit gewesen, die es in allen drei Ländern gab. Mit das erfolgreichste Modell war das der "Koevolution", der betrieblichen Mitbestimmung.
Verschlechternde Betriebsordnungen findet Raphael vor allem in krisengebeutelten Betrieben, in denen die Unternehmensleitung autokratisch ("Arbeitshäuser", wir erinnern uns) die Ordnung aufrecht erhielten und ihre Vorstellungen durchsetzten. Hier standen sich Kapital und Arbeit scharf gegenüber und war die Stimmung schlecht. Insgesamt aber macht er, vielleicht überraschend, einen relativen Gewichtsgewinn pluralistisch-kooperativer Betriebsordnungen aus.
In Kapitel 8, "Industriedistrikte, "Problemviertel" und Eigenheimquartiere: Sozialräume der Deindustrialisierung", wirft er dann abschließend den Blick auf die Lebensbedingungen der Arbeitenden außerhalb der Betriebe. Zu Beginn steht die Erkenntnis, dass die Deindustrialisierung die Sozialräume nachhaltig geändert hat (was, anders als in den Industriebrachen der USA, in Europa zu weitgehender Umgestaltung und Orten der Erinnerungskultur geführt hat).
Besonders einschneidend sei die Schaffung neuer regionaler Disparitäten, besonders einschneidend im Nord-Süd-Gegensatz Großbritanniens. Auch der Gegensatz von Stadt und Land vertiefte sich. In Deutschland war die Lage ähnlich, wo 1990 zum Nord-Süd-Gefälle auch eines zwischen Westen und Osten hinzukam. Der deutsche Süden und Südwesten profitierten indes davon, dass Kohle und Stahl nie eine große Rolle gespielt hatten und die Transformation deswegen leichter zu verkraften war. Ähnliche Divergenzen finden sich auch in Frankreich. Besonders betroffen waren überall die monoindustriell geprägten Gebiete.
Raphael "zoomt" nun näher an betimmte Industriedestrikte heran. Besonders erfolgreich waren etwa jene, die eine verwurzelte Hochqualitäts-Arbeitskultur besaßen. In anderen Regionen sorgte die Dominanz von Großkonzernen für eine klare Hierarchie mit zahlreichen abhängigen Zuliefererbetrieben. Gleichzeitig brachte die Transformationszeit eine Renaissance kleinerer und mittlerer Betriebe. Diese Neubildungen waren besonders in der BRD signifikant, während Großbritannien und Frankreich stärkere Deindustrialisierung statt Umbildungen erleben mussten. Oft waren die großen Automobilkonzerne die Fixpunkte dieser Entwicklung. Ein weiteres Phänomen dieser Zeit ist auch der Wegzug der Angestellten und Facharbeiter aus den Städten in die Vorstädte (Suburbia).
Diese Entwicklung nimmt Raphael in einer zweiten Zoomstufe unter die Lupe. Er macht eine bestehen bleibende räumliche Trennung des Bürgertums, der Angestellten und den Arbeitenden aus; lediglich in Einzelfällen sei das Ideal sozialer Durchmischung erreicht worden. Gleichwohl änderten sich die Lebensverhältnisse der Arbeitendenklasse massiv: die alten Elendsviertel verschwanden zugunsten der einheitlichen Betonkomplexe (die zwar unästhetisch, aber wesentlich komfortabler waren). Dieser Aufstieg in den Lebensbedingungen war direkt mit massivem sozialem Wohnungsbau verknüpft. Als dieser in den 1980er Jahren praktisch eingestellt wurde, endete auch der große Auszug des Proletariats in bessere Wohnverhältnisse. Stattdessen förderte der Staat, besonders unter konservativen Regierungen, den Erwerb von Wohneigentum.
Die Trends verliefen in den Ländern hierbei unterschiedlich: in Großbritannien etwa mit hohen Eigentumsquoten in engen Reihenhaussiedlungen, in der BRD mit Einzelhäusern und Doppelhaushälften bei höherem Mietanteil. Die Deindustrialisierung und das neue Leitbild des Wohneigentums veränderten die Wohnräume radikal. Einerseits entstanden die bürgerlichen Wohngebieten, andererseits die verwahrlosenden "Problemviertel" der Unterschicht in den in der Boomphase errichteten Arbeitendenquartieren (paradigmatisch in den Pariser Banlieus verkörpert). Die soziale Durchmischung existierte zwar, allerdings nicht in den einstigen sozialdemokratischen Mustersiedlungen, sondern in den Randgebieten, in denen der Bausparvertrag regierte. Die alten Wohnviertel wurden ethnisiert, soziale Probleme und Migration untrennbar miteinander verbunden.
Die Migration war überhaupt ein wichtiger Aspekt. Der rund 15-17% betragende Anteil der Arbeitsmigrant*innen lebte oft lange in Provisorien und schaffte nur langsam, wenn überhaupt, den Aufstieg in bessere Quartiere. Die von den Regierungen erhoffte massenhafte Rückkehr blieb mangels Perspektiven aber auch oft unrealisiert. Je länger diese Zustände dauerten, desto weniger blieb ein Rückkehrwunsch erhalten (bei den türkischen Migrant*innen in Deutschland etwa sank er von 80% 1985 auf 20% 2005). Den Migrant*innen gelang auch nur selten der Weg in die Festanstellung. Diese Entwicklungen waren in Großbritannien sogar noch ausgeprägter und wurden von der Regierungspolitik aktiver befeuert; hier entstanden "Problemzonen der Dienstleistungsgesellschaft".
Dieser Wandel der Sozialräume und die wachsende Bedeutung der Migrant*innen führte spiegelbildlich zu einem Verschwinden der klassischen Arbeiterkultur, ihrer Vereine, Organisationen und sozialen Netzwerke. Besonders in Krisenregionen lösten sich diese Milieus einfach auf. Die auf Werten ehrlicher Arbeit und Anstrengung beruhende "Malocher"-Kultur verlor vor allem in diesen Krisenregionen an Bedeutung - und gerade in diese zogen mangels Alternativen besonders viele Migrant*innen. In den kleinstädtischen Wohnquartieren blieben Sozialstrukturen eher bestehen, blieben aber regional bezogen und klassenübergreifend. Ebenfalls zerstörerisch auf diese Milieus und Wertestrukturen wirkten Managmentwechsel und Unternehmensreformen, die klassische Patriarchen durch gesichtsloses Managment ersetzte und betriebliche Sozialleistungen abschaffte.
Industrielle Sozialformen zogen sich so in die Randbereiche zurück, hörten aber nicht komplett zu existieren auf. Besonders, wo eine "untere Mittelschicht" entstand (meist im Dienstleistungssektor beheimatet), blieben starke Strukturen erhalten oder bildeten sich neu. Die erhoffte Durchmischung blieb auch wegen der zunehmenden Bedeutung des Pendelns aus, das immer größere Ausmaße annahm. Das Verschwinden der monoindustriellen Gebiete sorgte auch für ein Verschwinden industrieller Ballungszentren, das nicht ausgeglichen wurde.
Im Schluss, "Die Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung als Problemgeschichte unserer Gegenwart?", fasst Raphael wichtige Aspekte noch einmal zusammen. Erstens habe die Deindustrialisierung zum ersten Mal seit 1945 wieder klare Gewinner und Verlierer produziert; der "Fahrstuhleffekt" des Booms hörte auf. Ab den 1970er Jahren blieben die Reallohnsteigerungen sehr bescheiden, die Qualität der Arbeit aber nahm vielfach zu. Die britische Entscheidung zu radikaler Deindustrialisierung habe den sozialen Gegensatz im Land einerseits, aber auch den zwischen Insel und Kontinent andererseits bereits lange vor dem Brexit vertieft. Industrielle Arbeit sei dort am erfolgreichsten geblieben, wo technische Innovationen die Veränderungen herbeiführten. Die anhaltende Wirkung des Betriebs als positiver Bezugspunkt sei ein Beweis für die Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen, bei denen ein pluralisierend-kooperativer Trend zu beobachten sei. Andererseits war auch die Transformation von Betrieben in "Arbeitshäuser" ein Teil dieser Realität.
Der "Abschied vom Malocher" sei aber auch als sozialer Prozess zu begreifen, etwa durch die Verbreitung von Wohneigentum und den Abschied vom männlichen Ernährermodell. Der Anteil an Frauen an Fachkräften nahm langsam, aber beharrlich zu. Dazu komme eine Pluralisierung der Kultur durch die Einebnung der Grenzen zwischen Populär- und Hochkultur. Raphael schließt sein Buch mit der Feststellung, dass viel weitere Forschungsarbeit vonnöten sei und verteidigt seine Periodisierung 1970-2000 unter anderem mit dem Generationenargument (viele der ab 1970 Betroffenen gingen in Rente) und der Musealisierung der alten Industriekultur in den 2000er Jahren.
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Lutz Raphaels Werk scheint mir ein ähnliches Grundlagenwerk für die Epoche der Deindustrialisierung zu sein wie Osterhammels für das 19. Jahrhundert. Ich halte auch die Prämisse, dass in dieser Zeit eine Deindustrialisierung in Westeuropa (und Nordamerika) stattfand und dass diese einen entscheidenden Umbruch bedeutet, für kaum kontrovers. Die Begrifflichkeit klingt zwar drastisch, weil sie negativ aufgeladen ist; die gleichzeitige Transformation hin zur digitialisierten Dienstleistungsgesellschaft aber (die ja genau der Prozess ist, den der Ostblock genauso wie die Deindustrialisierung verpasste) ist ein elementarer Baustein um Verstehen unserer heutigen Welt. Ich empfehle Raphaels Buch daher vollumfänglich und bitte vorauseilend um Entschuldigung, wenn ich durch das Zusammenfassen vereinfachend oder irreführend war; das Werk ist ziemlich dicht geschrieben und nicht eben für das beiläufig-entspannende Lesen geeignet. Ich möchte die Rezension mit einigen eigenen Beobachtungen beschließen.
Der Punkt Raphaels, dass trotz des Verlusts des sozialistischen Klassenbewusstseins ("Proletariat") in der Wahrnehmung der unteren Schichten ein eher soziologisches bestehen blieb ("Wir gegen die"), scheint mir gerade im Ignorieren dieser Wahrnehmung ein oft übersehenes Mosaiksteinchen in der Erklärung heutigen Elitenhasses zu sein, aus dem ja die AfD ihre Stärke bezieht. Vor allem sehe ich darin den häufigen Fehler, von der AfD (oder den Republicans oder Tories) als "neuer Arbeiterpartei" zu sprechen; diese finden in jenen Milieus zwar durchaus Zuspruch, aber eben nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil sie es verstehen, diesen Gegensatz zu bedienen, den die Sozialdemokratie durch ihren Schulterschluss mit dem Kapital ("Dritter Weg"), der paradoxerweise ja in den kooperativ-pluralistischen Betriebsordnungen gerade zum Erhalt zahlreicher Arbeitsplätze gführt hat, erst freigegeben hat.
Ebenfalls unterschätzt scheint mir die Rolle der Frühverrentung als versteckte Subvention zur Erleichterung des sozialen Übergangs. Die Politik der Zeit verstand es, dass die Transformation nur dann möglich war, wenn der Übergang gleitend und abgefedert erfolgte (eine Erkenntnis, die der heutigen Politik mit dramatischen Folgen völlig abgeht). Zwar war die Frühverrentung eine tickende Zeitbombe für das Sozialsystem, an der wir bis heute leiden; gleichzeitig aber halte ich das Fehlen eines Aufstiegs radikaler Parteien durch die gesamte Transformationszeit in nicht unerheblichem Maße auf genau diese Entwicklung zurückführbar. Das erfordert in meinen Augen eine wesentlich intensivere Beschäftigung.
Ebenfalls auffällig ist für mich das Wechselspiel zwischen der Expansion des Bildungssektors und der Transformation der Wirtschaft. Beide verstärkten sich wechselseitig. Die Wirtschaft erforderte einen immer besseren Ausbildungsstand, weil die Tätigkeiten individueller, verantwortlicher und komplexer wurden, während gleichzeitig das allgemeine Bildungsniveau immer weiter anstieg und einen Aufwärtsdruck erzeugte, der vermutlich auch maßgeblich dazu beigetragen haben dürfte, dass die marxistischen Verarmungsprognosen nicht eintraten und eben nicht eine monokratische "Arbeitshaus"-Kultur entstand, sondern die Betriebsordnungen sich eher pluralisierten.
Bemerkenswert ist für mich zudem, auch wenn Raphael sich jeglicher Wertung enthält, dass das britische Modell im Vergleich nicht besonders gut aussieht. Die rapide Entmachtung der Gewerkschaften und forcierte Deindustrialisierung führte zu einem so großen Wohlstandsverlust, dass er von den Gewinner*innen der Transformation nicht wirklich aufgeholt werden kann. Demgegenüber ist es auffällig, welche positiven Effekte auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplatzerhalt das deutsche Mitbestimmungssystem besaß, weil es Exzesse beider Seiten - krassen Kahlschlag oder massive Streiks - vermied.
Auch ein wichtiger Punkt, gerade im Hinblick auf den heutigen Aufstieg der Rechtspopulisten, ist die Ambivalenz zwischen dem "Verlust" schlechter Arbeit - also körperlich anstrengender, monotoner und gesundheitsschädlicher Arbeit - einerseits und der Identität als "Malocher" andererseits. Die Deindustrialisierung und Frühverrentungswelle hatte für die körperliche Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen mit Sicherheit positive Auswirkungen, auf die mentale Gesundheit aber nicht zwingend, weil die Identität als männlicher Alleinernährer und "Macher" verschwand und dazu noch von Randgruppen wie Frauen und Migranten übernommen wurde.
Zuletzt halte ich Raphaels Betonung der Bedeutung der Betriebsordnungen für wichtig, weil diese gerne hinter Kennzahlen verschwinden. Zwar mag es durchaus sein, dass man die Belegschaft eines Standorts um zwei Drittel kürzen kann und auf dem Papier trotzdem die Produktion aufrechterhalten wird; gleichzeitig führt dies aber zu einem solchen Moralverlust, dass eben diese Produktion gefährdet ist und dass die Arbeitenden zu passiven bis sogar widerständigen Elementen werden, die zwar "Arbeitshaus"-Abläufe leisten können, aber die in der globalisierten Wirtschaft der Wissensgesellschaft zunehmend gefragten individuellen und kooperativen Strukturen nicht leisten können und wollen.
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