Freitag, 5. September 2025

Rezension: Matthias Waechter - Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert (Teil 3)

 

Teil 2 hier.

Matthias Waechter - Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert

Der vierte Teil, "Vom Boom zur Krise", behandelt die Jahre 1962 bis 1981.

Kapitel 13, "Frankreich um 1965: Auf dem Höhepunkt des Nachkriegsbooms", betrachtet die sogenannten "Trente Glorieuses", was dem deutschen "Wirtschaftswunder" entspricht, unter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Perspektive. Die Jahrzehnte sahen einen präzendenzlosen Anstieg des Lebensstandards. Die Kaufkraft des durchschnittlichen Franzosen verdoppelte sich in nur 20 Jahren. Autos, Fernseher etc. verbreiteten sich. Modernisierungsfortschritte machten die hohen Erwerbsanteile in der Landwirtschaft obsolet, so dass die Menschen in die Städte zogen und dort Angestellte wurden, was zu allerlei Klagen über den Verlust der französischen Identität Anlass gab. Eine neue Schicht von Angestellten, den "cadres", entwickelte sich, die in keine traditionellen Kategorien passte und eine eigene, mächtige Gewerkschaft aufbaute. Auch die Kultur erlebte eine Blüte, etwa mit dem Aufstieg des experimentellen französischen Films. Wurden Frauen zu Beginn der Nachkriegszeit noch in die häusliche Sphäre verbannt, begannen sie bald stetig, sich Raum zu bahnen, wofür Simone de Bouveoir stellvertretend stehen kann. Indessen konnte sich das Land trotz regen Bemühens nicht von amerikanischen Einflüssen freimachen; die US-Jugendkultur breitete sich auch auf die französische Jugend aus, ob in Rock-Imitaten oder der Übernahme von Hippie-Chic.

Das vierzehnte Kapitel, "Staat, Gesellschaft und Außenpolitik in der neuen Republik", kehrt in die politischen Gefilde zurück und beschreibt den Aufbau der mit de Gaulles Machtübernahme entstehenden fünften Republik. Stark autoritär und präsidial gegliedert entwickelte sie sich gleichwohl nicht komplett wie von de Gaulle gewollt; besonders die neu eingeführte Stichwahl des Präsidenten führte nicht zur Einigung, sondern Spaltung entlang von Rechts-Links-Gegensätzen, vor allem in Person des Schwergewichts Francois Mitterand und seiner Einigungsversuche der politischen Linken. Besonderes Gewicht erhält naturgemäß der Mai 1968 mit seinen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Konfliktlinien, die in den Protesten zusammentrafen. De Gaulle und Pompidou manövrierten ihre Gegner zwar erfolgreich aus; dennoch konnte die Protestbewegung große, vor allem materielle, Erfolge verzeichnen. De Gaulle scheiterte innenpolitisch schließlich ein Dreivierteljahr später mit seinem Versuch, einen neuerlichen Machtzuwachs per Referendum zu erzwingen.

Außenpolitisch war seine Bilanz gemischt. Der Versuch, Frankreich als "dritte Kraft" zu etablieren und Unabhängigkeit von den USA zu erlangen, scheiterte. Die Obstruktionspolitik in der EWG und seine rücksichtslose interessengeleitete Politik in Ablehnung von Bündnissen und liberaler Gemeinsamkeit führte nirgendwohin; am Ende würde Frankreich mit einigen Jahren Verzögerung wieder am liberalen Projekt teilnehmen. Bessere Ergebnisse erreichte er in der Einflusssicherung gegenüber den früheren französischen Kolonien in Afrika, die dem französischen Einflussbereich erhalten blieben.

Kapitel 15, "Das Ende der "Trente Glorieuses"", befasst sich mit der Präsidentschaft Giscard d'Estaings. Dieser hatte das Pech, in der Stagflation an die Macht zu kommen und seine Amtszeit somit durch die Malaise der 1970er Jahre bestimmt zu sehen. Innenpolitisch setzte er auf eine Abkehr von den planwirtschaftlichen Elementen (durchaus im Einvernehmen des ihn dafür beglückwünschenden Helmut Schmidt) und schaffte etwa die staatlichen Preisvorgaben ab. Außenpolitisch setzte er auf engere europäische Kooperation; das zerstörte Bretton-Woods-System sollte durch den EWS ersetzt werden, solange die USA in der von Schmidt attestierten "Führungsschwäche" kein neues Währungssystem zu schaffen bereit waren. Aus dem EWS entstand sowohl die Keimzelle des Euro als auch eine erste Abkehr Großbritanniens von weiteren Integrationsschritten. Am Ende gelang es Giscard allerdings nicht, seine Präsidentschaft als Erfolg zu verkaufen, was auch einer Spaltung des rechten Lagers zu verdanken war, weil die um Jacques Chirac versammelten Gaullisten beständig opponierten; ironisch, wenn man bedenkt, dass er seine Wahl einer spiegelbildlichen Spaltung des linken Lagers zu verdanken hatte.

Der fünfte Teil, "Die verunsicherte Nation", behandelt die Jahre 1981 bis 2002.

Kapitel 16, "Der Sozialismus an der Macht", zeigt, wie das linke Lager seine Spaltung überwand und 1980 unter der Führung Mitterands antrat. Dadurch konnte es von der wirtschaftlichen Schwäche profitieren und Giscards Mitte-Rechts-Regierung ablösen. Das dezidiert linke Programm, mit dem Mitterand antrat und entgegen des westlichen Trends zum Neoliberalismus stärkere staatliche Eingriffe forderte, wurde in den folgenden Nationalversammlungswahlen noch einmal bestätigt. Lang hielt dieser neosozialistische Reformeifer allerdings nicht an. Die Bedingungen der Stagflation zwangen eine Grundsatzentscheidung: einen aus der EG herausgelösten Alleingang Frankreichs oder ein Einschwingen auf die Stabilitätspolitik. Mitterand entschied sich für Letzteres und damit den Weg in das, was Waechter als "Republik der Mitte" beschreibt.

Der Präsident verlor auch seine parlamentarische Mehrheit. Anders als de Gaulle sah er sich dadurch nicht persönlich delegitimiert und trat zurück, sondern führte die erste Kohabitationsregierung an, wodurch er die Rechts-Links-Gegensätze weiter einebnete. Kohabitation wurde zur Normalität der französischen Regierungspraxis, und die zunehmende politische Deckungsgleichheit zwischen den großen politischen Strömungen, verbunden mit dem Niedergang der Kommunisten, schien die "Republik der Mitte" ebenfalls zu bestätigen. Auch andere große Streitpunkte wie der um das laizistische Bildungswesen (das nicht kam; riesige Demonstrationen zwangen Mitterand zum Einlenken) wurden in seiner Regierungszeit befriedet, so dass seine Wiederwahl unter dem Motto "das vereinigte Frankreich" stehen konnte. Seines innenpolitischen Gestaltungsspielraums beraubt, wandte sich Mitterand vor allem der Europapolitik zu, wo er Giscards Politik weitgehend fortführte und Frankreichs Sonderweg beendete. Die Gründung der EEA, der Abschluss des Maastrichter Vertrags und seine plebiszitäre Bestätigung und der konstruktive Beitrag zur Wiedervereinigung zählen alle zu den Meilensteinen seiner Amtszeit.

In Kapitel 17, "Frankreich um 1990", wird der letzte Querschnitt unternommen. Zuerst wendet sich Waechter der Lage der Frauen zu. Einerseits behielt die Familie in Frankreich eine stärker die Gesellschaft gliedernde Rolle; andererseits waren die Frauenbilder deutlich progressiver als in der BRD. Im Großen und Ganzen erscheint die Familienpolitik trotz des Konflikts um die Ehe für Alle befriedet. Demgegenüber steht die in den 1980er Jahren deutlich wachsende Debatte um die Migration. Die muslimischen Eingewanderten aus Nordafrika waren sozial ausgegrenzt und wurden als Bedrohung wahrgenommen. Die Forderungen von Rechts nach einer starken Begrenzung der Migration wurden auch von Mitterand aufgenommen und so erneut zu einem mittigen Allparteienkonzept; gleichzeitig standen der markigen Rhetorik von der Begrenzung auf null keine adäquaten Maßnahmen gegenüber (und konnten dies auch nicht), so dass ein der radikalen Rechten helfender Eindruck der Machtlosigkeit entstand, während für die Integration ebenfalls keine großen Schritte unternommen wurden.

Die Ablösung durch Jacques Chirac 1995 stand unter einem anderen politischen Großthema: der Überwindung der französischen Klassengegensätze. Die Elite des Landes hatte sich, vor allem durch den hierarchisierten Zugang zu den Grande Écoles, abgekapselt und die Zugänge für breite Schichten der Bevölkerung verunmöglicht. Noch schneller als Mitterand scheiterte Chirac jedoch und verkalkulierte sich völlig damit, Neuwahlen auszurufen, weswegen er eine Kohabitation mit Lionel Jospin eingehen musste. Dessen Kernprojekt, die Einführung der 35-Stunden-Woche, erreichte nicht den erhofften Erfolg der Verringerung der Arbeitslosenzahlen, sondern vertiefte die Gräben zwischen den gesellschaftlichen Gruppen weiter. Auch die Terroranschläge vom 11. September und der neue Fokus auf Sicherheitspolitik änderte an dieser Dynamik nichts. Sie bot aber dem gescheiterten Präsidenten Chirac die Plattform für seine Wiederwahl, und die extreme Rechte qualifizierte sich erstmals für die Stichwahl, auch, weil das linke Lager gespalten war.

Vergangenheitspolitisch schlug Chirac 1995 ein neues Kapitel auf: erstmals erkannte er eine französische Mitschuld am Holocaust an und brachte damit Risse in das bisherige Bild der Résistance-Nostalgie. Gleichzeitig lud er die Schuld aber ausschließlich bei Vichy ab und proklamierte eine Fortsetzung der Dritten Republik in London und einen nahtlosen Übergang zur (unschuldigen) Vierten. Die Aufarbeitung der Kollaboration und die Zerschlagung der gaullistischen Mythen ging quasi nahtlos in eine beginnende Aufarbeitung der Verbrechen des Algerienkriegs über. Diese Aufarbeitungen zerschlugen neben den politischen Erdbeben auch erinnerungspolitisch den Mythos der französischen Exzeptionalität.

Das achtzehnte Kapitel, "Ausblick: Infragestellung und Rückkehr zur "Republik der Mitte"", befasst sich mit dem "Nein" zum Irakkrieg und zur Verfassung der EU gleich zwei Ereignissen, in denen sich die französische Politik weiter ausdifferenzierte. Die Wahl 2002, bei der Chirac gegen die extreme Rechte dank der Unterstützung aller Republikaner*innen gewann, zeigte nur eine kurze Einigkeit; die gespaltene Rechte versammelte sich hinter Sarkozy, während die Linke, nun mit globalisierungskritischer Prägung, der Ablehnung der EU neben dem rechten Souveränitätsnarrativ nun ein globalisierungs- und liberalismuskritisches linkes hinzufügte. Das Scheitern erinnerte an 1954, mit ähnlichen Folgen.

Sarkozys Präsidentschaft stand unter dem erneuten Versuch, eine französische Macht- und Interessenpolitik durchzusetzen, die an den Realitäten schnell scheiterte. Spätestens in der Finanzkrise musste Sarkozy sich Merkels Führungsanspruch beugen. Auch innenpolitisch scheiterte er mit seinem Revisionismus auf ganzer Linie. Das Buch endet mit einem Ausblick auf den Terrorangriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo und die Herausforderungen der Zukunft.

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Bei der gesamten Lektüre finde ich es faszinierend zu beobachten, welche Parallelen zur deutschen Geschichte sich in Frankreich auftun - und wo Divergenzen bestehen. Auf diese Art hilft die Beschäftigung mit der Geschichte des Nachbarn deutlich, den Blick für die eigene Historie zu schärfen und Spielräume auszumachen. Eine grundsätzliche Kritik, die am Aufbau des Werks selbst anzubringen wäre, ist vermutlich die etwas starke Fixierung auf die politische Nationalgeschichte zulasten der Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte (der Kulturgeschichte sicher auch, aber damit bin ich persönlich zufrieden, weil es meinen eigenen Interessen entgegen kommt). Auch die Querschnitte sind noch sehr von der politischen Geschichte geprägt; die dazwischenliegenden Episoden sowieso. Hier wäre eine etwas stärkere Abrundung wünschenswert gewesen, die zwar in den Querschnitten durchaus geleistet wird, aber die Gewichtungen sind noch recht deutlich.

Was ich aus der Lektüre heraus an der französischen Geschichte besonders bemerkenswert fand, war die Rolle des Widerstands und des ihn umgebenden Mythos' in der französischen Gesellschaft. Die Intentionalität, mit der die Akteure, allen voran Charles de Gaulle, die Résistance von Anfang an überhöhten und von jeder realen Grundlage entfernten und eben bewusst zu einem identitätsstiftenden Mythos ausbauten, ist faszinierend, ebenso der Erfolg, den dieses erinnerungspolitische Husarenstück hatte. Die Idee der Franzosen als Volk von tapferen Widerständlern wurde widerspruchslos auch in der angelsächsischen Erinnerungskultur aufgenommen und fand Eingang in die populärwissenschaftlichen Darstellungen des Krieges, etwa den Epos der 1960er Jahre "Der längste Tag". Erst in der jüngeren Vergangenheit wurde dies deutlich kritischer gesehen und aufgearbeitet - wie so oft mit dem Verschwinden der betroffenen Generation. Der Zeitzeuge bleibt der natürliche Feind des Historikers.

Ebenfalls spannend fand ich das Scheitern der Souveräntitäts- und Interessenpolitik Frankreichs. Vor allem die Gaullisten, aber auch die Linken erklärten einen (wenngleich unterschiedlich gefärbten) Exzeptionalismus für die Grande Nation, der an den Realitäten einer interdependenten Welt zerschellte. Die Idee, ausschließlich auf das nationale Interesse geleitet zu agieren und die Idee einer normativ basierten Freundschaft mit anderen Nationen zu verlachen führte in eine Sackgasse. Es war gerade das commitment zu einer wertebasierten Einigung mit den europäischen Nachbarn, die übersteigerte Souveränitätsromantik aufgab, die Frankreich den Weg in die Zukunft öffnete - ohne dass die Konfliktlinien dazu sich je geändert hätten, wie sowohl das knappe Maastricht-Referendum 1992 als auch das Scheitern des Verfassungsvertrags 2005 deutlich zeigen.

Zu den spannendaten Parallelen zwischen Deutschland und Frankreich gehört für mich die Migrationsdebatte. Dieselben Fehler werden aus denselben Gründen gemacht: eine Übernahme rechter Narrative, der keinerlei substanzielle Politik entspricht, stärkt nur den rechten Rand, während gleichzeitig das Nichtstun die Herausbildung von Parallelgesellschaften begünstigt. Wie auch bei den Souveränitätsdebatten steht eine übersteigerte Rhetorik, deren Ansprüche in der Realität unerfüllbar sind, vor dem Kater der Erkenntnis begrenzter Handlungsspielräume, von dem dann diejenigen profitieren können, die sich der Realität nicht stellen müssen.

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