Dienstag, 9. April 2013

Die USA um 1900, Teil 3/3

Von Stefan Sasse

In Teil 1 haben wir die Außenpolitik und imperialen Ambitionen der USA in der Epoche um 1900 sowie ihre ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit zu jener Zeit besprochen. Die imperialen Ambitionen fußten im so genannten "American Exceptionalism", also der Idee, dass die USA ein ganz besonderes Land seien, während die Fremdenfeindlichkeit der Strömung des "Nativism" zugeordnet werden kann, die eine Unvereinbarkeit von nicht-protestantischen Einflüssen mit dem American Way of Life propagierte. In Teil 2 wurden die Arbeitskämpfe jener Epoche, hervorgerufen durch die miserablen Arbeitsbedingungen, und die wirtschaftliche Funktionsweise der "gilded age" besprochen. Besonderes Gewicht wurde dabei auch auf die heiß debattierte Frage des Bimetallstandards gelegt, der die Präsidentschaftswahlen 1896 maßgeblich prägte. 

Theodore Roosevelt 1904
Roosevelt, obwohl sicherlich kein "Mann des Volkes", brach aus vielerlei Gründen mit den bisherigen Konventionen. Er war was man einen Charakter nennen kann: als Kind reicher Eltern kränklicher Bücherwurm überwand er seine schwächliche Physis und ging nach dem Studium in die Politik. Als seine Frau und seine Tochter am selben Tag starben, verließ er die Politik und ging als Rancher in die Dakota Badlands, was ihm eine Aura harter Arbeit und Frontier-Erfahrung verlieh, was es bis dahin kaum in besseren Kreisen gegeben hatte. Roosevelt kehrte dann in die Politik zurück und wurde ein Law&Order-Polizeichef mit harter Linie, ehe der spanisch-amerikanische Krieg 1898 ihm zur Berühmtheit verhalf, indem er das Freiwilligenregiment der Rough Riders gründete und auf Kuba anführte. Das Regiment erreichte zwar wenig, aber Roosevelt wusste es gut zu vermarkten und konnte als Kriegsheld mit einer Politik der harten Hand nach außen (Imperialismus, Schutzzölle, militärische Stärke) und einer progressiveren Politik nach innen (Kampf gegen die Monopole) sowie einem Konservatismus der Bewahrung der Natur aus seiner Badlands-Zeit die Parteibasis für sich gewinnen und die Vizepräsidentschaft McKinleys erlangen.
Nach dessen Ermordung nur ein Jahr nach der Wiederwahl wurde Roosevelt 1901 Präsident. Das Motto, unter das er seine Präsidentschaft stellte, war der "Square Deal" (den Franklin D. Roosevelt später mit dem "New Deal" wieder aufgreifen sollte), was in etwa "faires Geschäft" bedeutet. Der Square Deal wurde gerne unter den "drei C" zusammengefasst: Conservation (Bewahrung der natürlichen Ressourcen), Control (Kontrolle der Unternehmen, vor allem der Monopole) und Consumer Protection (Verbraucherschutz). Für die damalige Zeit waren diese drei Ideen revolutionär. Niemand war bisher auf die Idee gekommen, dass die Natur schutzbedürftig wäre, stattdessen sah man sie vorrangig als Ressourcenreservoir an. Innerhalb kürzester Zeit wurden die großen Nationalparks populär, in denen man die "wilde Natur" auf fest angelegten Wanderwegen und Zeltplätzen erkunden konnte. Eingriffe des Staates in die Wirtschaft waren bisher ebenfalls stets verdammt worden, doch die Monopole mussten gebrochen und die miserablen Arbeitsbedingungen beendet werden, gegen die es seit einiger Zeit zahnlose und nicht durchgesetzte Gesetze gab. Und zuletzt sollten die Verbraucher Rechte erhalten und nicht mehr auf Gedeih und Verderb dem Betrug durch die Unternehmen ausgesetzt sein, was im Zeitalter des beginnenden Massenkonsums eine besondere Wichtigkeit besaß. 

Roosevelts offizielles Porträt
Besonders bei der Kontrolle der Unternehmen konnte Roosevelt auf einen machtvollen Verbündeten setzen: den Zeitgeist. Im beginnenden 20. Jahrhundert hörte mit Roosevelt nicht nur der traditionelle Schulterschluss zwischen Politik und Big Business wenigstens teilweise auf; auch die Medien vergrößerten den Abstand. Gerade junge Journalisten stürzten sich begierig auf ganz neue Arten der Berichterstattung: einerseits die investigative Recherche, besonders über die kriminellen Aktivitäten der Monopole, andererseits die in Deutschland in den 1970er Jahren von Günter Wallraff popularisierte Recherche durch direkte Infiltration der Betriebe. Die Journalisten berichteten aus erster Hand über die teils katastrophalen Arbeitsbedingungen oder schrieben lange Berichte über die Verflechtungen und Preisabsprachen der großen Kartelle. Die entsprechenden Texte waren Knüller und wurden in hohen Auflagen gedruckt, was weitere Recherchen und einen Zwang zum Finden eigener Skandale war. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Profitdruck der großen Zeitungen die Profitmaschinen der Monopole zu Fall brachte, indem er einen gewaltigen öffentlichen Druck erzeugte, der Roosevelts Anti-Trust-Politik die nötigen Stimmen im Kongress brachte. Natürlich ist Roosevelt auch nicht frei gegenüber Einflüssen des Big Business gewesen; United Steel etwa beschützte er Zeit seiner Präsidentschaft ("a good trust") und brach sogar mit seinem Nachfolger Taft über diese Frage. Wie so oft ermüdete die Öffentlichkeit aber irgendwann über die Monopolskandale und Arbeitsbedingungsberichte, so dass auch diese Politik starb unter erneut laissez-faire-Politiken Platz machte. Erst unter Franklin D. Roosevelt würde diese Politik wieder aufleben. Für die großen Monopolisten aber war es trotzdem das Ende ihrer Hochzeit. Viele von ihnen zogen sich nach der Zerschlagung ihrer Konglomerate ins Privatleben zurück und richteten Stiftungen ein, mit denen sie ihr Bild für die Nachwelt ins günstigere Licht stellen wollten - Rockefeller ist dafür nur ein Beispiel von vielen.

Roosevels Politik veränderte das Gesicht Amerikas trotzdem stark. Nach innen war er, wie bereits beschrieben, ein Law&Order-Politiker, der eine harte Hand gegenüber dem Verbrechen zur Schau stellte. Besonders angesichts der Umstände seiner Präsidentschaft, der Ermordung McKinleys, war das nur zu verständlich. Die USA litten zu jener Zeit unter einer ganzen Serie von Anschlägen, die der anarchistischen Bewegung zugerechnet wurden. In vielerlei Hinsicht waren die damaligen Anarchisten das, was heute der islamistische Terror ist: eine fremdartige Gefahr, eine völlig unverständliche Ideologie, die von Migranten ins Land gebracht wurde von denen man ohnehin davon ausging, dass sie dem American Way of Life nicht zuträglich waren: Ost- und Südeuropäer, vor allem. Einer der prominentesten war Mikhail Bakunin, der ein ganzes Netzwerk anarchistischen Terrors aufbaute. Grundlegend dafür war die Ideologie der "Propaganda der Tat": anstatt Flugblätter zu verteilen und die Menschen für ihre Ideen zu gewinnen, wollten die Anarchisten dieser Couleur durch spektakuläre Taten das System erschüttern und die Menschen wachrütteln. Dieses Ziel erreichten sie damals genauso wenig wie heutige Terroristen. 

Mikhail Bakunin
Stattdessen lösten sie eine schwerwiegende Gegenbewegung aus. Nicht nur wurden die Sicherheitsorgane deutlich repressiver und erlaubten der Politik, eine ganze Reihe von "Sicherheitsgesetzen" mit weitreichenden Befugnissen durchzusetzen; auch die ohnehin vorhandenen Vorurteile, Ängste und Hassgefühle gegenüber den Migranten wurden noch einmal deutlich verstärkt. Die Angst vor den Anarchisten und die überzogenen Gegenmaßnahmen kontrastierten auf unschöne Weise die progressive Politik jener Epoche. Es half nicht, dass viele Anarchisten zudem noch Beziehungen zu den kommunistischen Bewegungen hatten, besonders die russischen Anarchisten wie Bakunin. Die Osteuropäer wurden ohnehin bereits als unpassende Fremde wahrgenommen; Kommunisten aber waren der Todfeind, vollkommen unvereinbar mit dem, für was Amerika stand, besonders aber mit der um 1900 vorherrschenden Religiosität und dem Gedanken des American Exceptionalism. All das wurde ab 1917 noch einmal schlimmer, als die Machtübernahme der Bolschewiken in Russland alle Befürchtungen zu bestätigen schien, obwohl die Hochzeit des anarchistischen Terrors zu dieser Zeit bereits lange vorüber war.

Die Zeit um 1900 stellt für die USA eine Epoche des Umbruchs dar, wie es ihn seit dem Bürgerkrieg nicht mehr erlebt hatte. Für viele Menschen der damaligen Zeit war dies ein hochgradig irritierender Vorgang. Nicht nur kamen politische Vorgänge an ihr Ende - vor allem die enge Verquickung der Oberschicht in Politik und Wirtschaft mit ihrer Verachtung des "einfachen Volks", die beide nicht mehr aufrechtzuerhalten in der Lage waren, die Politiker aber noch weniger als die Unternehmer. Doch nicht nur politische Umbrüche erschütterten die amerikanische Gesellschaft. Der konstante Input von tausenden Migranten jährlich sorgte für eine starke Verschiebung ethnischer Gewichte. Die klassischen angelsächsischen Protestanten wurden immer mehr zu einer Minderheit. In einem sich in jedem Einwanderungsland wiederholenden Muster verbündeten sie sich mit der jeweils vorherigen Einwandererwelle gegen die nächste - die Iren würden an vorderster Front dabei sein, als es darum ging, die Latino-Migration abzuwehren, die den American Way of Life jetzt bedrohte oder den Schwarzen weiter ihre Bürgerrechte vorzuenthalten. 

Präsident Wilson erklärt im Kongress 1917 Deutschland den Krieg
Die Änderung der Lebensverhältnisse selbst war jedoch der wohl größte Sprung, den der Jahrhundertwechsel mit sich brachte. Eine Vielzahl neuer Technologien wälzte das Leben grundlegend um und legte den Grundstein für die Schrumpfung des Agrarsektors, die durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 noch einmal einen Katalysator finden würde (vergleiche auch der Artikel über "Die Great Depression in den USA"). Auf dem Sektor der Außenpolitik wurden die USA ein Player auf der globalen Bühne. Sie bauten ihre Navy stark aus und intervenierten in zahlreichen Ländern ihrer Hemisphäre. Gegenüber den Europäern grenzten sie den Doppelkontinent klar als ihre Interessenssphäre ab und zögerten nicht, diesen Anspruch auch militärisch durchzusetzen. Nur eine Dekade später würde dieser Wandel mit der Teilnahme am Ersten Weltkrieg und der kriegsentscheidenden Rolle der USA einen vorläufigen Höhepunkt finden, der in seiner Geschwindigkeit zu den erschütternden Ereignissen der Zeit passte. Wie auf so viele Entwicklungen jener Epoche reagierten die Zeitgenossen auch darauf mit Furcht und einem Versuch, sich von den Entwicklungen abzuschirmen. Schutzzölle, Migrationsbeschränkungen, neue Polizeigesetze und der Isolationismus nach dem Ersten Weltkrieg sind alle Ausdruck dieser tiefen Unsicherheit, die so merkwürdig mit dem Sendungsbewusstsein des "American Exceptionalism" kontrastiert. 

Ich hatte eingangs erklärt, dass der Weg der USA aus den Unsicherheiten der Epoche ein anderer war als der, den Deutschland wählte. Obwohl beide Staaten sich in einer aggressiven Außenpolitik ergingen und durchaus aufgeschlossen gegenüber der Zurschaustellung von militärischer Stärke waren, so hatte die demokratische und individualistischere Prägung der USA eine wesentlich stärkere Korrektivfunktion parat als dies in Deutschland der Fall war. Der Massenkonsum und liberale Individualismus, der in den USA nach 1900 erwuchs, wurde in Deutschland fast militant abgelehnt. Auch ging hier der staatliche Schutz der Großindustrie wesentlich weiter, war die Verflechtung und damit auch die Autoritätshörigkeit wesentlich größer. Um 1900 aber waren die Unterschiede bei weitem nicht so ausgeprägt wie die Gemeinsamkeiten, ein Befund, den man nur 20 Jahre später nicht mehr anstellen konnte.

Literaturhinweise:
Videospiel "Bioshock Infinite", das sich mit den hier besprochenen Ideen und Ereignissen auseinandersetzt und die Inspiration für diesen Artikel bot: PC, PS3, X360
Joe Fiedler - Mind in Revolt
Bildnachweise: 
Theodore Roosevelt - Pach Brothers (gemeindrei)
Porträt - John Singer Sargent (gemeinfrei)
Mikhail Bakunin - Sotjhesby's (gemeinfrei)
Kriegserklärung - Harris&Ewing (gemeinfrei)

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