Von Stefan Sasse
Hans-Ulrich Wehler ist heute im Alter von 82 Jahren gestorben. Wehler gehört zu den profiliertesten deutschen Historikern des 20. Jahrhunderts. Seit den 1970er Jahren pionierte er die Sozialgeschichte als neues, ja dominantes Feld der deutschen Geschichtsforschung und kann damit das Verdienst für sich an Anspruch nehmen, von den ewigen Geschichten großer Männer, politischer Konferenzen und Kriege als Haupterklärmuster der Geschichtswissenschaft abgekommen zu sein, unter dem gerade die angelsächsische Geschichtsforschung sehr häufig noch leidet.
Gleichzeitig ist meine eigene Beziehung zu Wehler sehr zwiespältig. Als ich seinerzeit 2005 mein Geschichtsstudium begann, setzte sich mein allererster Proseminar ausgerechnet mit seiner Sonderwegsthese auseinander. Sie gehört immer noch zu den Standarderklärmustern der neueren deutschen Geschichte, auch wenn sie gerade durch das Weltkriegsjubiläum dieses Jahr stärker unter Beschuss gerät als je zuvor. Die Idee, dass Deutschland gewissermaßen unnatürlich sei und daher der Weg in den Nationalsozialismus erklärbar, ging immer davon aus, dass Frankreich und Großbritannien irgendwie ein Normalfall wären - was sie leider nicht sind. Wehler beging damit ironischerweise denselben Fehler wie Fritz Fischer, dessen Alleinschuld-Narrativ er mit zu verdrängen half.
Doch bleiben wird Wehlers Leistung auf anderem Gebiet: der Sozialforschung. Er entwarf in fünf dicken Bänden ein detailliertes Bild der deutschen Gesellschaft zwischen 1800 und der Wiedervereinigung, auf der man heute noch aufbaut. Dazu inspirierte er zahllose weitere Historiker, von liebgewonnen Klischees und Betrachtungsweisen abzukommen und öffnete die Tür für eine Reihe emanzipatorischer Geschichtsbilder, die eine ungeheuer vielschichtere Lesart der Geschichte ermöglichen als ehedem. Mit Wehler geht eine Menge Sicherheit über die deutsche Geschichte verloren, wird alles diffuser und komplexer. Er hat den Zugang zur Geschichte sicher nicht vereinfacht, wie so mancher Schüler sicher bestätigen kann. Aber er hat sie präziser gemacht und der Politisierung entrückt. Das ist eine Leistung, die wir ihm nie vergessen werden.
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