Donnerstag, 16. April 2020

Wie Weltordnungen sterben


Krisen, wie auch die Corona-Krise, schaffen für gewöhnlich keine neuen Umstände. Damit enttäuschen sie auch regelmäßig verhinderte Revolutionäre von links wie rechts, die darauf hoffen, dass nun endlich alle einsehen werden, was sie selbst schon immer wussten. Im Angesicht von Corona haben gerade vor allem die Hoffnungsträger auf der Linken Konjunktur, die glauben, den Schwanengesang des Kapitalismus zu erleben. Sie werden enttäuscht werden, wie sie immer enttäuscht werden, schon allein, weil sie in jeder Krise den Abgesang des Kapitalismus erkennen. Gleiches gilt auch für die Untergangspropheten von rechts: Die Mehrheit für die Ethno-Diktatur, sie wird auch mit Corona nicht kommen. Das sind die guten Nachrichten. Gleichzeitig beschleunigen Krisen aber jene Entwicklungen, die, die bereits seit längerem vor sich hingären. Meine These ist, dass wir gerade den endgültigen Abschied von der liberalen Nachkriegs-Weltordnung miterleben - und dass es instruktiv ist, sich das Sterben der ersten liberalen Weltordnung anzusehen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie so etwas geschieht.


Gleich als Caveat vorweg: Historische Vergleiche bleiben immer unscharf und nur vage übertragbar. Bekanntlich wiederholt sich Geschichte nicht. Allerdings reimt sie sich gelegentlich, und diesen Zeilensprüngen, selbst wenn es Knittelverse sind, lohnt es sich manchmal, nachzugehen. Und jetzt beende ich diese Lyrik-Metapher besser, bevor sie außer Kontrolle geht.

Bevor wir uns in den historischen Kontext werfen und ansehen, was die erste liberale Weltordnung war und wie sie unterging, sollten wir zuerst versuchen, die zweite zu skizzieren und so zu sehen, was hier eigentlich vor unser Augen gerade stirbt.

Das Sequel

Der Beginn unserer liberalen Weltordnung liegt in den Todeszuckungen des zweiten Weltkriegs, als sich im Jahr 1944 Vertreter der Westalliierten im amerikanischen Bretton Woods trafen, um die Grundstruktur einer wirtschaftlichen Nachkriegsordnung aufzustellen, die die Fehler der Jahre 1919-1922 vermeiden und Grundlage eines deutlich stabileren Staatensystems stellen sollte. Bereits 1941 war mit der Atlantik-Charta der Grundstein für eine politische Nachkriegsordnung zwischen Großbritannien und den USA gelegt worden, der 1945 mit der Gründung der Vereinten Nationen unter Einbeziehung der Sowjetunion und Chinas (ein wichtiger Punkt, wie wir in der Rückschau später sehen werden!) folgte.

In Bretton Woods wurde die Grundlage für verschiedene Vertragssysteme gelegt, die unter Akronymen wie GATTS oder TRIPS liefen. Diese Vertragssysteme strukturierten den internationalen Handel der teilnehmenden Staaten anhand von Freihandelsprinzipien - geringe Zölle, möglichst wenig Handelsbeschränkungen, Meistbegünstigung und vieles mehr. Auch eine Orientierung am Dollar als internationaler Leitwährung gehörte dazu, der sich wiederum an das Gold band. Auch diesem Prinzip werden wir in der Rückschau gleich noch einmal begegnen.

Anders aber als die erste liberale Weltordnung, deren große Hoffnung es war, durch Austeritätsmaßnahmen die Finanzpolitik der Staaten durch die internationalen Finanzmärkte zu disziplinieren und so Aufrüstung und Kriegstreiben zu verhindern, legte die neue weltweite Wirtschaftsordnung den Staaten keine ausgabenpolitischen Fesseln an, im Gegenteil. Bretton Woods wurde zur Grundlage der beispiellosen Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats, des längsten Aufschwungs der Geschichte und eines nie dagewesenen Wohlstandsgewinns. Ich habe diese Entwicklung ausführlich in meiner Serie zum goldenen Zeitalter der Sozialdemokratie dargelegt.

Dieses System geriet durch den Doppelschlag der beginnenden Stagflation und die außer Kontrolle geratenen Kosten des Vietnamkriegs soweit in die Krise, dass die USA unter Richard Nixon 1971 einseitig den Abschied vom System fester Währungskurse ausriefen und die lange Hinwendung zum angebotsorientierten Neoliberalismus begannen. Die EG-Länder reagierten mit der Schaffung von gekoppelten Wechselkursbändern (der Euro kam damals noch nicht zustande; die EG war in einer tiefen Krise, der so genannten Eurosklerose) und vollzog die wirtschaftspolitische Richtungsänderung Stück für Stück nach (erst Großbritannien, dann Deutschland, am Schluss, zögerlich, auch Frankreich).

Bis zum Ende der 1980er Jahre hatte sich die liberale Weltordnung zwar gewandelt, war aber in ihrer Grundstruktur immer noch intakt. Freihandel bestimmte die Agenda und verschob ihren Fokus nun auf die Finanzmärkte, deren Entfesselung in den 1990er Jahren eine weitere Welle ungeahnten Wachstums begleitete (dessen Früchte allerdings bereits wesentlich ungleicher verteilt waren als in der Nachkriegszeit). Triumphal wurde diese Ordnung 1995 durch die Gründung der Welthandelsorganisation WTO bestätigt, die die Staaten nicht zuletzt über die Schiedsgerichte an den Rand des Wirtschaftsgeschehens verbannte.

Beben

Erste Risse im schönen Bild zeigten sich in der Asienkrise 1997 und in der kurzen Dotcom-Blase 2001. Zum Platzen kam die Blase aber erst mit der Finanzkrise 2007/2008, als ein völlig außer Kontrolle geratener Bankensektor beinahe die Weltwirtschaft mit sich in den Abgrund riss. Das Rettungsbestreben der westlichen Welt war damals noch mit aller Macht darauf gerichtet, die bestehende Ordnung so weit wie möglich zu erhalten beziehungsweise wiederherzustellen. Mit Verve wurden alle Ideen verworfen, die Krise für eine grundsätzliche Umgestaltung des Systems zu nutzen (sorry, Linke...), stattdessen wurde betont, dass man verstaatlichte Banken schnellstmöglich wieder zu privatisieren gedachte und keinesfalls eine größere Rolle des Staates beim Wirtschaften zulassen wolle. Einzig größere Kontrollen solle es geben.

Allein, die Realität holte diese durchaus ehrlich gemeinten Absichtserklärungen schnell ein. Nicht nur die sich direkt anschließende Eurokrise machte eine Rückkehr zum Status Quo unmöglich. Auch hatten sich weltweit Gewichte deutlich verschoben. Die USA und China, schon lange in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, veränderten ihre Gewichtung innerhalb dieser Beziehung. China, das der Idee der liberalen Weltordnung ohnehin immer reserviert gegenübergestanden hatte und dessen später Eintritt in die WTO höflich betrachtet als eher heuchlerische Inanspruchnahme einiger Vorteile denn als Überzeugung für die zugrunde liegenden Prinzipien gelten dürfte (wie übrigens auch im Falle Russlands).

Tatsächlich sind die späten Beitritte Chinas und Russlands zur WTO in der Rückschau nicht die triumphalen Schlusssteine einer Weltordnung geblieben, wie es ihre Vertreter seinerzeit sahen, sondern eher als Zeichen ihrer Schwäche. Selbst die liberalen Handlungsprinzipien eher unverdächtigen Akteure aus Moskau und Beijing sahen in dem Beitritt offensichtlich keine Notwendigkeit mehr, die viel geforderten (und auf der linken stets harsch verdammten) Anpassungsmaßnahmen vorzunehmen. Allein, aus der Rückschau wirkt so etwas immer eindeutiger.

Und nun zu Corona. Die Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der die Nationalstaaten sich ihre Souveränität, die noch in der Brexit-Debatte (auch von mir) als Anachronismus gehandelt wurde, wieder zurücknahmen, die Flüsse von Menschen, Kapital und Waren zwischen den Grenzen zum Erliegen brachten und Vertragswerke von den WTO-Regeln bis zu Maastricht einfach ignorierten, dürfte nicht nur unter der Knute des IWF leidende Entwicklungsländer oder die Bevölkerung Athens überrascht haben. Es ist gerade die Selbstverständlichkeit, mit der das Abtreten all dieser Regeln hingenommen wurde, die ein Alarmzeichen sein sollte.

Staaten, die bereits bestellte und bezahlte Lieferungen unter Berufung auf das nationale Eigeninteresse einbehalten; Staaten, die einfach ganze Wirtschaftszweige schließen; Staaten, die ihre Zentralbanken anweisen, die Finanzierung ihrer Haushalte direkt zu übernehmen; Staaten, die die größten Verkehrsstaus in Menschengedenken durch Schließen der Warenumschlagsplätze provozieren - all das wäre vor recht kurzer Zeit noch undenkbar gewesen. Es ist kaum ein Zwinkern wert, gerade denen, die die Werte und Regeln dieser liberalen Weltordnung bisher so hochgehalten hatten. Ihnen ist viel wichtiger, ob sie Ostersonntag spazieren gehen können, und stilisieren diese Grundsatzfrage zum entscheidenden Konflikt unserer Tage. Die liberale Weltordnung, sie hat keine Verteidiger mehr.

Und noch einmal: Nichts davon wurde durch Corona hervorgerufen, weswegen auch alle Hoffnungen, dieser Untergang möge nun in eine generelle Reform oder gar Revolutionierung des Kapitalismus münden, fehlgeleitet sind. Es gibt keine plötzliche Einsicht in die Unhaltbarkeit des Systems. Stattdessen brach unter Corona nur hervor, was schleichend bereits vorher geschehen war. Andererseits wäre der Aufschrei größer, gäbe es mehr Widerstand.

Das Original

Nachdem wir nun geklärt haben, welche Weltordnung gerade zugrunde geht (und erneut, man verzeihe mir die stark vereinfachende Kürze!), schauen wir einmal zurück auf das Scheitern der ersten solchen Weltordnung. Ich habe die Vorgänge in einem sehr ausführlichen Artikel seinerzeit auf dem Geschichtsblog beschrieben, weswegen ich hier auch nur die Rahmenbedingungen skizzieren will.

Am Ende des verheerenden Ersten Weltkriegs setzte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson seine Lesart der Ursprünge des Krieges durch: Er machte Geheimdiplomatie und Militarismus/Imperialismus für die Jahrhundertkatastrophe verantwortlich. Entsprechend war ihm daran gelegen, genau diese Faktoren zu neutralisieren. Ihm schwebte eine neue Weltordnung vor, in der beides der Vergangenheit angehörte.

Das machte aus amerikanischer Perspektive viel Sinn. Zum Zeitpunkt der Kriegserklärung 1917 besaßen die USA eine Armee, die kaum mehr als eine etwas schwerer bewaffnete Polizeistreitmacht war. Es hat seinen Grund, warum das Kaiserreich die militärische Macht Amerikas nicht fürchtete. Auch die Waffenproduktion des Landes war vernachlässigbar; der Kampf gegen Ureinwohner und mexikanische Banditen hatte keine schwere Artillerie erfordert. Die Amerikaner misstrauten jeglicher Armee und wollten sie keinesfalls ins Ausland entsenden. Wir haben es also mit einem sehr anderen Land zu tun als dem der zweiten liberalen Weltordnung.

Wilson war, wie den anderen amerikanischen Politikern auch, daran gelegen, diesen Zustand zu erhalten. Das Mittel der Wahl war daher Rüstungskontrolle, nicht militärische Dominanz, während gleichzeitig ungehinderter weltweiter Handel (abgesichert durch die von diesen Impulsen ausgenommene US Navy, die durch den Krieg beschleunigt den bereits vorher eingesetzten Trend (bemerkt jemand ein Muster?) Realität hatte werden lassen, die Royal Navy als stärkste Marine der Welt abzulösen. Gleichzeitig sollte es keine geheimen Bündnisse mehr geben, sondern ein System kollektiver Sicherheit.

Um das durchzusetzen, taten sich die USA und Großbritannien - das eine ähnliche Mentalität besaß und ähnliche Zielsetzungen verfolgte - zusammen und bauten in internationales Wirtschafts- und Finanzsystem auf dem Goldstandard auf, der alle darin beteiligten Länder zur Austerität zwang und damit große Militärbudgets unmöglich machte. Jedes Land, das im Club der Großmächte mitspielen wollte, musste zwingend im Goldstandard mitmachen. Dies zwang etwa Frankreich und Japan zu ungeheuer schmerzhaften Sparmaßnahmen, die sie als militärische Faktoren praktisch nicht-existent machten. Deutschland und die Sowjetunion waren aus anderen Gründen keine Rivalen in diesem Spiel.

Um den politischen Teil der Gleichung durchzusetzen, schwebte Wilson ein "Völkerbund" (league of nations) vor, in dem die Gemeinschaft der Staaten durch Wirtschafts- und Finanzsanktionen (und, in letzter Konsequenz, militärische Intervention) Konflikte löste. Dieser Völkerbund war dabei mitnichten so universal gedacht wie die UNO; er war eine Vereinigung der Sieger. Erst das Ausscheren der USA durch die innenpolitische Verweigerungshaltung der Republicans machte es notwendig, seine Natur zu ändern, da Frankreich und Großbritannien alleine (wie sich bald zeigen sollte) nicht in der Lage waren, Weltpolizei zu spielen.

Die Krisen der Jahre 1919-1923 (Kapp-Putsch, Ruhrkampf, Hyperinflation, nur um einige Schlagworte in den Raum zu werfen) überzeugten die USA, sich doch wieder wenigstens diplomatisch zu engagieren. Auch wenn sie dem Völkerbund weiterhin fernblieben, handelten sie de facto, als wären sie ein Mitglied. 1924 vermittelte der amerikanische Finanzexperte Dawes einen ersten Reparationsplan, der den Weg für die Aufnahme Deutschlands in die liberale Weltordnung ebnete. Das traf sich gut, regierten dort doch seit November 1923 Politiker, für die genau das das Ziel war (Stresemann zuvordererst).

Mitte der 1920er Jahre sah die Welt aus Sicht der Liberalen gut aus. Die Militärbudgets waren geschrumpft. Frankreich war diszipliniert und hatte sich resigniert in seine Rolle als Macht der zweiten Reihe gefügt, den Goldstandard angenommen und sich vertraglich verpflichtet, nicht mehr in Deutschland einzumarschieren, das seinerseits garantierte, seine vertraglichen Anforderungen zu erfüllen. Ein rentabler Kreislauf von Krediten und Kreditrückzahlungen, in dessen Zentrum die im Dauerboom befindlichen USA standen, hatte sich etabliert. Auch Japan war in den Goldstandard eingeschert und hatte seine Militärausgaben deutlich reduziert. Seine früheren Expansionspläne waren in der Schublade verschwunden und durch eine liberale Handelspolitik ersetzt worden, die Erfolge zeigte. Kurz, es gab Wohlstand zu verteilen, der zwar größtenteils in den Taschen der superreichen Elite landete, aber wenigstens für stabile und friedliche Verhältnisse sorgte - nicht unähnlich der Zeit zwischen 1980 und 2007 also.

Das Beben (es bebt immer irgendwann)

Doch anders als der zweiten liberalen Weltordnung war der angelsächsischen Finanzmarktdominanz dieses Mal keine lange Halbwertszeit beschieden. 1929 kam die ganze Maschinerie mit Beginn der Weltwirtschaftskrise grausam ins Stocken. Die Prinzipien des Freihandels, auf denen die USA mit aller ihnen zur Verfügung stehenden - und beträchtlichen! - fiskalpolitischen Macht bestanden hatten, wurden schneller über Bord geworfen, als man dreimal "Agrarzölle" sagen konnte.

Wie auch in der Corona-Krise gerade waren die Regeln, die anderen Staaten unter für sie größten Schmerzen aufgezwungen wurden,  mit einem Schlag bedeutungslos. Die USA verlangten die Rückzahlung der Kredite, auf die die europäischen Volkswirtschaften angewiesen waren, und erhoben riesige Schutzzölle. Andere Staaten folgten dem Beispiel. Eine Nation nach der anderen setzte den Goldstandard aus. Deutschland und Japan beschlossen aufzurüsten und scherten aus dem liberalen Konsens aus; in beiden Ländern ergriffen 1930 bzw. 1931 rechtsextreme Politiker die Macht.

Und die Sowjetunion, als Planwirtschaft und eiserne Diktatur mit Nachrichtensperre von der Weltwirtschaftskrise nicht betroffen und Propaganda verbreitend, präsentierte sich als funktionierendes Gegenmodell, wie es heute China tut. Und wenn man bereit war, über die eine oder andere Million Toter durch Zwangskollektivierung und Industrialisierungsprogramm im Fünfjahrplan hinwegzusehen, sah sie auch mit zusammengekniffenen Augen so aus, als könnte sie so sein. So wie Wuhan auch als Beispiel dienen kann, wenn man die offiziellen Zahlen glaubt und das Massensterben ignoriert.

Aber noch war die liberale Weltordnung nicht am Ende. Auch wenn die auf völlig irrigen wirtschaftspolitischen Prämissen beruhende Austeritätspolitik die Lage eher verschlimmerte, so hielten die USA eisern an ihren politischen Ideen fest. 1932 ging die große Abrüstungskonferenz in Genf (dem Sitz des Völkerbundes) in die nächste Runde, an die große Hoffnungen geknüpft wurden.

Die Abrüstungskonferenz stand in einer langen Tradition, die bis vor den Ersten Weltkrieg reichte. Bereits in der Haager Landkriegsordnung war versucht worden, den Krieg durch Verbot bestimmter Waffen einzuhegen, und nach dem Krieg hatten es die USA mit einem überraschend offenen und fairen Angebot auf der Washingtoner Flottenkonferenz 1922 geschafft, das Wettrüsten zur See für die absehbare Zukunft einzufrieren (das irrlichternde Deutschland, das selbst in der Weltwirtschaftskrise unbedingt ein Panzerschiff bauen wollte, damit die rechtsradikalen Nationalisten zufrieden gestimmt waren, einmal beiseite gelassen). In Genf sollte zu Lande geschafft werden, was 1922 zur See gelungen war. Angesichts der weltweiten Wirtschaftskrise und ohnehin belasteter Budgets schien die Lage günstig.

Allein, es hat nicht sollen sein. Dank der konservativen Steigbügelhalter gelang Hitler 1933 die Ernennung zum Reichskanzler, und er schied sofort aus den Genfer Abrüstungsgesprächen aus. Gleiches tat Japan, das in diesen Jahren die Entscheidung traf, anstatt über liberalen Welthandel lieber über nationalistische Eroberungspolitik zur Vormacht des asiatischen Raums zu werden. Man darf sagen, dass beide Entscheidungen sich nicht unbedingt bewährt haben.

Eine Frage des Kredits

Das letzte Element der liberalen Weltordnung, das in diesen Tagen zu Fall kam, waren die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlands aus dem Versailler Vertrag. Das betraf zuerst die finanziellen Verpflichtungen, vulgo: Reparationen. Die französische Wirtschaft war auf diese Zahlungen, die sie fast nie in ordentlicher Höhe erhalten hatte, seit 1919 dringend angewiesen. Das lag daran, dass die USA auf Bezahlung aller ausstehenden Schulden aus dem Krieg bestanden. Die Briten hatten in den Jahren 1919 bis 1923 mehrmals versucht, ein Moratorium zu erlassen, bei dem sie als Netto-Gläubiger auch hätten ordentlich bluten müssen und so ihren alten Verbündeten zu helfen. Die USA weigerten sich, und so mussten die Briten seufzend darauf bestehen, dass Frankreich seine Kriegsschulden bei der City beglich - damit diese die Ratenzahlungen daraufhin an die Wall Street überweisen konnte.

Im Kontext dieser Kriegsschulden befand sich auch das außenpolitische Tauziehen um die Anerkennung der Sowjetunion. Der Sieg der Bolschewisten in einem ungeheuer blutigen und langwierigen Bürgerkrieg hatte sich trotz direkter Intervention der Westmächte nicht verhindern lassen, dafür aber das ewige Misstrauen des um Misstrauen nicht eben armen Stalin eingebracht. Anerkannt und in die Gemeinschaft der Staaten aufgenommen wurde die UdSSR trotzdem nicht, weil die Kommunisten sich beharrlich weigerten, die Kriegsschulden des zaristischen Regimes anzuerkennen. Erst als der Kreml sich bereit erklärte, diese Verpflichtungen zu übernehmen, stand der Aufnahme des Landes in den Völkerbund nichts mehr entgegen - wie auch Deutschland 1927 seine Aufnahme in das vormals zu seiner Niederhaltung gegründete Forum erreichte, als es Frankreich die Zahlung seiner eigenen Reparationen garantierte.

So fehlgeleitet der amerikanische Präsident Herbert Hoover auch in vielen anderen Bereichen der Wirtschaftspolitik war, so klar sah er die Probleme dieses scheiternden Kreditgeflechts. In einem ironischen Rollentausch war nun er es, der Großbritannien und Frankreich zu einer Aussetzung der Reparationszahlungen drängte. 1932 verkündete Hoover ein einseitiges, einjähriges Moratorium auf alle Kriegsschulden des Ersten Weltkriegs. De facto war es ihre vollständige Stundung. Niemand erwartete, dass die Zahlungen danach wieder aufgenommen werden würden (kein Wunder, dass Griechenland eine solche Lösung in der Eurokrise so attraktiv fand; Varoufakis hatte die Geschichte ordentlich genug gelernt). Zwangsläufig mussten auch Frankreich und Großbritannien nachziehen.

Das Zerbröseln des Fundaments

Allein, es war zu spät. Die Früchte dieser Maßnahmen erntete in Europa Hitler, der sich, der Kriegsschulden beraubt und um einige Präzedenzfälle reicher, an die Zerschlagung der Nachkriegsordnung machen konnte. Und in den USA gewann Franklin D. Roosevelt die Wahl gegen einen glücklosen Herbert Hoover und erklärte, dass nur die Furcht selbst zu fürchten sei, ehe er das Land mit dem New Deal auf die zweite und wesentlich erfolgreichere liberale Weltordnung vorbereitete.

Noch allerdings war die erste nicht tot. In unserer Analogie sind wir eher in der Finanzkrise 2007/2008, und die Welt erlebte einen kurzen Geistersommer. Es schien, als ob das Schlimmste vorüber sei. Die Weltwirtschaften zogen mal mehr, mal weniger stark in eine Aufschwungphase ein, Hitler sprach von Frieden und die japanische Regierung schien eine Einigung mit Chinas verschiedenen Warlords gefunden zu haben, auch wenn sie als erste rechtsgerichtete Expansionsmacht ihren Austritt aus dem Völkerbund erklärte. Doch rasch zeigte sich, dass die Schäden am Fundament der liberalen Weltordnung nicht mehr gut zu machen waren. Es war rissig geworden, nicht mehr tragfähig.

Die erste Attacke kam von Hitler. Bereits 1933 trat er offiziell aus dem Völkerbund aus, in den das Land unter so großen Anstrengungen durch den Vernunftrepublikaner Stresemann erst 1927 gebracht worden war. Es war eine Warnsirene, die unter einer Mischung aus Hoffnung und verzweifeltem Optimismus von den meisten Zeitgenossen nicht gehört wurde. 1935 brach er die Rüstungsbeschränkungen des Weimarer Vertrags, indem die Wehrmacht gegründet und die allgemeine Wehrpflicht ausgerufen wurde. Panzer und Flugzeuge rollten vertragswidrig von deutschen Fließbändern. Es geschah: nichts. Später im selben Jahr schloss Hitler einen Vertrag mit Großbritannien, der die Flottenstärke Deutschlands auf 35% der britischen beschränkte und damit die Londoner Sorgen vor einem neuen Flottenwettrüsten wie zwischen 1900 und 1910 nahm.

Nur, was auf den ersten Blick wie eine Wiederaufnahme der Rüstungsbeschränkungspolitik aussah, eine Art Washington 2.0, wurde von den deutlich weitsichtigeren Politikern im Quai d'Orsay als ein Verrat gesehen. Großbritannien erkaufte sich seine Sicherheit, indem es Deutschland den vertraglichen Segen für einen weiteren schweren Verstoß gegen den Versailler Vertrag gab, und ließ Frankreich im Stich. Resigniert erhöhten die Franzosen ihr Verteidigungsbudget, gaben die wirtschaftliche Erholung auf und begannen den Bau der Maginot-Linie, im ultimativ vergeblichen Bemühen, den Krieg dieses Mal nicht über ihr Land hinwegfegen zu lassen.

Die Franzosen ihrerseits waren nicht sonderlich erpicht darauf, ihrer eigenen Verpflichtung nachzukommen und eine Volksabstimmung im Saarland abzuhalten. Großbritannien und die USA ließen aber wenig Zweifel daran, ihre grundsätzliche anti-französische Haltung (die Franzosen waren nie begeisterte Teilnehmer am liberalen Projekt gewesen und hatten fiskalpolitisch dazu gezwungen werden müssen) aufzugeben und erklärten deutlich, im Falle französischer Maßnahmen die Kredithähne zuzudrehen. Angewidert hielten sich die Franzosen, aller Illusionen beraubt, an den Vertrag. Das Saarland ging an Deutschland, und die Aufrüstung ging ungebremst weiter.

1936 remilitarisierte Hitler das Rheinland, ein weiterer eklatanter Bruch des Vertrags. Erneut geschah: nichts. Als Hitlers großes Vorbild, der italienische Diktator Mussolini, im selben Jahr seinen Ambitionen auf den Erwerb eines Kolonialreichs nachgab und im unabhängigen Völkerbundsmitglied Äthiopien einmarschierte, verhängten Großbritannien und Frankreich zwar Wirtschaftssanktionen gegen die Halbinsel. Sie weigerten sich aber, ihren Verpflichtungen nachzukommen und Äthiopien auch militärisch zu Hilfe zu kommen. Ungehindert massakrierten italienische Truppen mit Senfgas und Bajonetten die äthiopische Bevölkerung. Ihr kurze Zeit später erfolgender Austritt aus dem Völkerbund war kaum mehr als eine Fußnote.

Als Hitler 1938 Österreich und das Sudetenland annektierte, spielte die liberale Weltordnung bereits keine Rolle mehr. Chamberlain verhandelte im Rahmen von Nationalstaaten und setzte sich genauso fragrant über das Völkerrecht hinweg wie es Hitler tat, als er ohne die Tschechoslowaken auch nur zu fragen dem Diktator das Sudetenland überließ. Ein Jahr zuvor hatten die Japaner einen "Zwischenfall" in Mukdeng inszeniert, der der deutschen Inszenierung eines polnischen Überfalls auf den Sender Gleiwitz 1939 in Überzeungskraft an nichts nachstand und den den bis 1945 andauernden Krieg zwischen Japan und China, dem Millionen Menschen zum Opfer fallen würden, begründete.

Fazit

Wie wir sehen können, war die liberale Weltordnung bereits in den frühen 1930er Jahren am Ende. Für die Zeitgenossen war das nicht sofort ersichtlich. Wäre in Deutschland kein so risikofreudiger Diktator wie Hitler an der Macht gewesen, die stückweise Demontage ihrer Strukturen hätte länger gebraucht. Das Ergebnis aber wäre vermutlich dasselbe gewesen. Die italienische und japanische Aggression war genauso unabhängig von Hitlers Vertragsbrüchen wie es die sowjetische Expansionspolitik war, die 1939 zum Ausschluss der Sowjetunion aus dem Völkerbund führte - ein Ereignis, das für Stalin sicherlich ungefähr so viel Bedeutung besaß wie die Auswahl seiner Frühstücksmarmelade. Der Ausschluss der Sowjetunion im Herbst 1939 war denn auch der letzte bedeutsame Akt der Genfer Versammlung vor ihrer Selbstauflösung 1945.

Vorgezeichnet war dieser Weg gleichwohl nicht. Deutschland und die Sowjetunion waren die ursprünglichen Gegner der liberalen Weltordnung gewesen, hatten sich ihr ganz (Deutschland) oder teilweise (Sowjetunion) nur unter dem normativen Druck des Faktischen angeschlossen. Eine Rückbesinnung des Völkerbundes auf diesen Kern, eine Revitalisierung unter den Auspizien Großbritanniens, Frankreichs und der USA wäre theoretisch möglich gewesen. Mussolini wanderte schließlich vom Camp der Hitler-Gegner erst durch die Sanktionen des Völkerbundes ab 1936 ins Lager seiner Freunde.

Aber die nationalen Egoismen und die Kurzsichtigkeit vieler Regierungschefs verhinderten dies. Wohl noch mehr als diese persönlichen Unzulänglichkeiten aber starb die erste liberale Weltordnung den Tod einer Fee: Irgendwo sagte jemand, der glaube nicht mehr an sie, und es fand sich keiner mehr, der in die Hände zu klatschen bereit war. Mitte der 1930er Jahre war offenkundig geworden, dass ihre einstigen Erschaffer selbst nicht mehr an die liberale Weltordnung glaubte. Und so fiel sie langsam in sich zusammen, während alle Beteiligten zwar weiterhin ihre Treue bekundeten, in ihrem tatsächlichen Handeln aber deutlich zeigten, dass es vorbei war.

Und das ist die wohl deutlichste Parallele zu einer Zeit, in der die Begründer der zweiten liberalen Weltordnung, das Gastland, in dem einst die Konferenz von Bretton Woods stattfand, Freihandelsabkommen als unfair und Schutzzölle als höchst vernünftiges Mittel der Wirtschaftssteuerung betrachtet; in dem die andere Gründernation der zweiten liberalen Weltordnung, die die wohl brillanteste Generation an Nationalökonomen unter Führung von Keynes zu selbiger Konferenz entsandte, in einer Volksabstimmung beschloss, Identitätspolitik und nationale Borniertheit in einen schlecht beratenen Alleingang zu stellen; in dem ausgerechnet die Grande Nation ihre Großmachtambitionen an den Rand zu stellen bereit ist und auf kühles Desinteresse bei den einstigen Erbfeinden stößt; in der der Kreml sich als Erbe des Sowjetimperiums inszeniert und Länder annektiert, als wäre Stalin aus seinem Grab auferstanden; und in dem eine post-kommunistische Diktatur sich als Vorbild der Welt geriert, wenn man doch nur bitte geneigt wäre, den Massenmord in den Konzentrationslagern im Hinterland und die gnadenlose Unterdrückung der eigenen Bevölkerung zu übersehen.

Vermutlich werden wir in 20 Jahren genauso den Kopf über die Illusion schütteln, die zweite liberale Weltordnung doch irgendwie erhalten zu können, wie es Zeitgenossen um 1950 taten, die auf die Ereignisse seit 1930 zurückblickten. Aber hinterher ist man immer schlauer. Und vielleicht täusche ich mich auch. Zu hoffen wäre es. Denn auf den Untergang der ersten liberalen Weltordnung folgte kein Utopia, weder das, das sich die Rechten, noch das, das sich die Linken erhofften. Es folgten Chaos, Krieg, Zerstörung, Tod - und eine zweite liberale Weltordnung. Hoffen wir, dass wir wenigstens aus diesen Fehlern lernen werden.

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