Montag, 14. März 2022

Die Logik der Abschreckung

Zwischen 1949 und 1991 war die Welt in eine Szenario der Abschreckung gefangen. "Gegenseitig gesicherte Zerstörung", "Erstschlag", "Zweitschlag" und "Nuklearer Winter" waren Begriffe, die den meisten Menschen geläufig waren. Immer wieder kochte die Furcht vor einem alles vernichtenden Atomkrieg hoch, besonders in den 1980er Jahren. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist diese Angst weitgehend verflogen. Die zweite Generation, die ohne diese ständige Hintergrundfurcht aufwächst, wird gerade volljährig. Ich sehe mich gerade als Teil der ersten Generation - als die Mauer fiel war ich fünf Jahre alt, als die Sowjetunion zu existieren aufhörte sieben, ich habe keine Erinnerungen an den Kalten Krieg -, aber ich habe mich qua Profession viel mit dem Thema beschäftigt. Genug jedenfalls, um ziemlich entsetzt darüber zu sein, wie viele Leute diese Dinge entweder nie gelernt, oder noch verrückter, wieder vergessen zu haben scheinen. Und Grund genug, sich einmal damit zu beschäftigen, wie Logik der Abschreckung eigentlich funktioniert. Aus aktuellem Anlass, gewissermaßen.

Der Beginn dieser Geschichte ist ein Ende: das des Zweiten Weltkriegs. Bereits 1945 waren die Spannungen zwischen den (nun ehemaligen) Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition klar ersichtlich. Wer nun Schuld am Beginn des Kalten Krieges ist, soll an dieser Stelle nicht erneut prozessiert werden (geneigten Lesenden seien diese zwei Artikel empfohlen). Stattdessen sei die Ausgangssituation skizziert: unter dem Druck der öffentlichen Meinung in ihren jeweiligen Ländern waren die USA und Großbritannien gezwungen, ihre Armeen in gewaltigem Tempo zu demobilisieren. Ohne solchen Druck und einer gehörigen Portion Paranoia hielt Stalin seine eigene Armee auf einem wesentlich größeren Niveau; die konventionelle Überlegenheit der Roten Armee war erdrückend, und spätestens seit 1946 waren die westlichen Regierungen überzeugt, dass die Sowjetunion expansiv war ganz Europa unterwerfen wollte. Diese Wahrnehmung führte zu einem Politikwechsel - Stichworte Marshall-Plan, NATO-Gründung - die Europa gegen die Gefahr wappnen sollten. Doch die USA hatten ein Ass im Ärmel: sie besaßen als einziges Land weltweit Atomwaffen, und über ihre Basen in Europa waren sie in der Lage, diese zu Zielen in der Sowjetununion zu befördern.

Es war für alle Beteiligten offensichtlich, dass die Atomwaffen eine neue Strategie erforderlich machten und dass andere Länder ebenfalls versuchen würden, an diese Waffen zu kommen. Letzteres gelang den Sowjets dank ihres großartigen Geheimdiensts und gut platzierter Spione in einem Drittel der von den westlichen Analytikern geschätzten Zeit (und trug zur paranoiden Panik des Red Scare in den USA bei). Ersteres gelang den USA sehr schnell: bereits 1946 formulierte der RAND-Analysist Bernard Brodie eine Reihe von Annahmen für den Zeitpunkt, an dem auch die Sowjetunion Atomwaffen besitzen würde:

- Die Atomwaffen besaßen ein nie dagewesenes Vernichtungspotenzial und waren nicht zu stoppen.

- Der Versuch, die zu stoppen, würde unternommen werden und zu Weiterentwicklungen der Waffentechnologie führen (was ab 1958 mit Interkontintentalraketen auch geschah).

- Eine Überlegenheit im Atomwaffenarsenal ist nicht sonderlich hilfreich, weil die hohe Zerstörungskraft bedeutet, dass "überschüssige" Waffen keinen Vorteil verschaffen - das eigene Land liegt in Trümmern, auch wenn noch dreißig B-52 in der Luft sind.

Brodie glaubte nicht, auf irgendein geheimes Super-Rezept gestoßen zu sein. Er ging vielmehr davon aus, dass die Gegenseite zum gleichen Ergebnis kommen würde, ja musste. Dieses Wissen würde eine gewaltige Furcht vor dem Einsatz von Atomwaffen auslösen - und diese Furcht dazu führen, dass sie nicht eingesetzt würden. Entsprechend will ein Land auch Atomwaffen haben, weil diese vor einem Angriff schützen. Diese Drohung "muss nicht zu 100% sicher sein, es reicht, wenn die Wahrscheinlichkeit hinreichend groß ist beziehungsweise ein Glaube besteht, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist. Die Vorhersage ist wichtiger als die Tatsache."

Diese Annahmen führten zur zentralen Neuerung der Logik der Abschreckung: "Daher ist der erste und wichtigste Schritt jedes amerikanischen Sicherheitsprogramms im Zeitalter der Atombombe, Maßnahmen zu ergreifen, die uns im Falle eines Angriffs einen Gegenschlag garantieren. Der Autor dieser Zeilen befasst sich in diesem Augenblick nicht mit der Frage, wer den nächsten Krieg gewinnen wird, in dem Atombomben eingesetzt werden. Bislang war der Hauptzweck unseres Militärs, Kriege zu gewinnen. Künftig ist es ihr Hauptzweck, sie zu vermeiden. Es kann beinahe keinen anderen nützlichen Auftrag haben."

Diese Logik setzte sich im US-Militär nicht von Anfang an durch. In den 1940er und 1950er Jahren investierte das Land in massive Bomberflotten, deren Auftrag war, im Falle eines Krieges mit der (weit überlegenden) Konventionalstreitmacht der Sowjetunion deren Städte in Schutt und Asche zu legen. Offiziell ging es natürlich um die Industriegebiete, wie beim Flächenbombardement des Zweiten Weltkriegs auch, aber die Vorstellung von "Präzisionsangriffen mit Flächenwaffen" (offizieller Duktus der Zeit) war natürlich völlig paradox.

Das alles änderte sich mit dem Sputnik-Schock 1957. Heutzutage ist weitgehend vergessen, worin der Schock eigentlich bestand, den ersten piependen Satelliten in die Weltumlaufbahn zu befördern. Gerne wird es in das Narrativ eines Schwanzvergleichs verpackt, ein bisschen spinnertes Wettrennen ins All, ein Kampf um Prestige. Aber den Zeitgenoss*innen war die Bedeutung völlig klar. Wer einen piependen Satelliten in die Umlaufbahn schicken kann, kann auch eine Atombombe in die Umlaufbahn schicken. Und während ein Bomber zumindest theoretisch aufgehalten werden kann (auch wenn die USA in so viele Bomber investierten, dass dies de facto unmöglich war, um die Abschreckung zu erhalten), ist trotz aller Anstrengungen (Stichwort "Star Wars") bis heute kein Mittel gefunden, mit dem Interkontinentalraketen aufgehalten werden könnten. Die Zerstörungsdrohung wurde durch Sputnik beinahe gesichert.

Und in diesem "beinahe" liegt der Schlüssel für die gesamte Logik der Abschreckung. Diese Einschränkung war etwas, das Brodie nicht vorhergesehen hatte und das stattdessen 1958 von Albert Wohlstetter aufgeschrieben wurde. Interkontintentalraketen erreichen ihre Ziele in etwa 30 Minuten. Gelingt es also einer Seite, in einem Erstschlag sämtliche feindlichen Waffensysteme zu erledigen - die Standorte von Raketensilos und Flughäfen sind ja bekannt - würde ein Atomkrieg plötzlich "gewinnbar" (für diese Logik müssen alle Sekundärfolgen außer Acht gelassen werden, aber das gelang den Militärs). Die "gegenseitig gesicherte Zerstörung", das so genannte "Gleichgewicht des Schreckens", war also ein sehr instabiles und prekäres. Die Herstellung dieses Gleichgewichts erforderte die Fähigkeit zum Zweitschlag.

Die Fähigkeit zum Zweitschlag diente dabei explizit nicht dazu, einen Atomkrieg zu gewinnen, sondern dazu, einen Sieg in einem Atomkrieg unmöglich zu machen. Erst dadurch wurden Atomwaffen zum ersten Waffensystem, das die Menschheit je erfunden hat, das dazu dient, niemals eingesetzt zu werden. Um aber Zweitschlagskapazität zu besitzen, muss das Atomwaffenarsenal eines Landes - laut Wohlstetter - sechs Bedingungen erfüllen.

  1. Stabilität
  2. Sicherheit
  3. Kommunikation
  4. Reichweite
  5. Penetrationsfähigkeit
  6. Schaden

Die Folge daraus ist die "nukleare Triade": Interkontinentalraketen, Atom-U-Boote und strategische Bomber. Diese Triade haben nur die USA und die Sowjetunion (mit Ausnahme Chinas, das behauptet, das Ziel der Triade zu verfolgen, ohne das tatsächlich zu tun, haben alle anderen Atommächte dieses Ziel aufgegeben oder nie verfolgt und vertrauen darauf, dass ihre Abschreckungsfähigkeit auch so hoch genug ist).

Die Triade ist stabil, weil sie in Friedenszeiten keine Gefährdung für die Stabilität des Staates aufweist (anders als eine stehende Armee, die für Putsche verwendet werden kann). Sie ist sicher vor Erstschlägen: die Silos sind getarnt und ihre Standorte geheim, die U-Boote fahren unerkannt durch die Weltmeere und ein Teil der Bomber ist permanent in der Luft (ja, auch heute noch). Die politische Führung kann jederzeit mit den Teilstreitkräften der Triade kommunizieren und so eine Entscheidung zum Zweitschlag mitteilen. Die Waffen haben die Reichweite, um den Gegner zu erreichen, und sie haben die Penetrationsfähigkeit, gegnerische Abwehrsysteme zu überwinden. Und zuletzt richten sie genug Schaden um, um die Bedrohung aufrechtzuerhalten.

Da nicht klar ist, wie viele Bestandteile der Triade im Ernstfall ausgeschaltet werden - Bomber abgeschossen oder am Boden zerstört, Silos ausgeschaltet, U-Boote aufgespürt und versenkt - müssen große Arsenale vorgehalten werden, die den Erstschlag unmöglich machen. Nur: genauso, wie die Unterscheidung zwischen "Offensivwaffen" und "Defensivwaffen" eine reine Nebelkerze ist, so ist es die von Erst- und Zweitschlagsfähigkeit: Waffen, die einen Zweitschlag ermöglichen, können auch für einen Erstschlag benutzt werden. Für den jeweiligen Gegner ist das nicht zu unterscheiden. Er muss daher genügend Waffen vorhalten, um einen eigenen Zweitschlag möglich zu halten - was wiederum den Gegner zu größeren Arsenalen drängt. Das ist die Grundlogik hinter der "Rüstungsspirale" und den absurd großen Atomwaffenarsenalen der Supermächte im Kalten Krieg.

Diese "gegenseitig gesicherte Zerstörung" führt dazu, dass eine Atomwaffe völlig nutzlos ist, solange der Gegner über sie verfügt, und dieses "beinahe" ist eben das Problem: wenn ein Gegner keine Atomwaffen besitzt, so ist ein Atomkrieg imminent "gewinnbar". Die USA könnte jederzeit einen Atomkrieg gegen Ghana gewinnen, weil Ghana eine Atomwaffen besitzt und nicht zurückschlagen kann. Aus dieser Logik ergibt sich der dringende Wunsch von Staaten wie Iran oder Nordkorea, über eigene Atomwaffen zu verfügen.

Mit diesen Grundlagen können wir nun zu den feineren Abstufungen der Abschreckungslogik kommen. In dieser Logik spielt die NATO eine gewaltige Rolle. Die NATO ist ein Militärbündnis (damals) Westeuropas mit der USA (und Kanada), das der Verteidigung der Mitgliedsstaaten dient. Artikel 5 des NATO-Vertrags besagt, dass ein Angriff auf ein Mitglied als ein Angriff auf alle Mitglieder gesehen wird, die dem angegriffenen Mitglied dann zu helfen haben. Wie genau diese Hilfe aussieht ist den Mitgliedsstaaten überlassen (ein Beileidstelegramm würde die Beistandspflicht technisch gesehen erfüllen), aber die USA behaupten, dass diese Beistandspflicht sich auch auf den Einsatz nuklearer Waffen erstreckt.

Ich sage hier behaupten, weil völlig unklar ist, ob das in der Realität auch der Fall wäre. Wenn etwa die NVA Westberlin besetzt hätte - hätten die USA dann dieser Verletzung des Bündnisgebiets einen Atomschlag auf Minsk folgen lassen? Hätte die Eroberung Paris' durch die Rote Armee einen Start aller Interkontintentalraketen (und damit dem sowjetischen Zweitschlag gegen amerikanische Städte) ausgelöst? Darüber besteht Unsicherheit, und die große Hoffnung wäre, dass uns diese Unsicherheit für alle Zeiten erhalten bleibt. Die USA behaupten, dass sie NATO-Bündnisgebiet wie ihr eigenes Hoheitsgebiet betrachten, und bislang hat noch niemand ausprobiert, ob es wirklich stimmt. Umgekehrt haben die USA niemals ausprobiert, ob sowjetische oder russische Verbündete für die Moskauer Führung eine rote Linie darstellen.

Bereits diese kurze Schilderung zeigt aber das Eskalationspotenzial, das in diesen Fragen steckt. Die USA stationieren nicht einige tausend Soldaten in Südkorea, Japan oder Lettland, weil diese im Fall des Falles einen Angriff Nordkoreas, der chinesischen oder der russischen Armee aufhalten würden, sondern weil sie die Eskalationsspirale in Gang setzen. Es sind so genannte "tripwire troops", Stolperdrahttruppen. Wird der Stolperdraht durch einen Invasor gerissen (weil er beim Einmarsch auf US-Truppen schießt), so ist die Wahrscheinlichkeit, dass die USA ihren Bündnispflichten nachkommen, wesentlich höher, als wenn diese Truppen nicht dort sind. Das ist auch der Hintergrund für die Stationierung gemischter NATO- und, neuerdings, EU-Verbände in Osteuropa: es treibt die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation in die Höhe und soll eine solche so, paradoxerweise, gerade verhindern.

Aus diesem Grund legt sich auch keine Atommacht auf eine so genannte "no first use policy" fest, wie sie vor allem von Friedensaktivist*innen immer wieder gefordert wird. Bei "no first use" erklärt eine Atommacht, niemals als erste Atomwaffen einzusetzen, sondern nur als Zweitschlag bei einem Angriff. Das Problem daran ist, dass diese Atommacht - nach Lage der Dinge betrifft das nur die USA - damit die Garantie für das Bündnisgebiet aufgibt, unter dessen "nuklearem Schirm" es aktuell steht, und damit eine Eskalation für den jeweiligen Gegner wesentlich gewinnbarer macht. Hätten die USA im Kalten Krieg eine "no first use policy" verkündet, hätte dies die Sowjetunion unter Umständen ermutigt, aggressiver territoriale Expansion zu verfolgen - und damit das Risiko eines Atomkriegs erhöht. Dass die Sowjetunion solche Interessen hatte, bewies sie mehrfach, etwa 1956 und 1968.

Gerade an diesen Beispielen sehen wir aber auch die andere Seite dieser Medaille: beide Seiten legen größten Wert darauf, dass es zu keiner Situation kommt, in der Soldaten der einen Seite auf Soldaten der anderen Seite schießen könnten. Deswegen kämpfen (wenigstens offiziell) keine sowjetischen Truppen in Korea oder Vietnam, deswegen fanden sich keine amerikanischen Soldaten in Afghanistan. Der gefährlichste Moment des Kalten Krieges, die Kubakrise, war auch einer, in dem genau dieses Szenario blühte: die Falken in der amerikanischen Administration, vor allem Curtis LeMay, forderten Luftschläge auf Kuba, wo mehrere zehntausend Rotarmisten stationiert waren. Dies hätte einen direkten Angriff auf sowjetische Soldaten bedeutet, Soldaten zudem, die einsatzfähige Atomwaffen besaßen. Diese Eskalationsgefahr waren beide Seiten glücklicherweise nicht einzugehen bereit.

Bereits die Angriffe auf konventionelle Truppen setzen diese Logik in Gang, weil die Kommandostellen der konventionellen Truppen gleichzeitig Kommunikationszentren für die nukleare Triade darstellen. Wenn ein Angriff also das Kommandozentrum einer feindlichen Armee ausschaltet - ein wertvolles und legitimes Angriffsziel - schaltet er gleichzeitig das Kommandozentrum eines Teils der Zweitschlagfähigkeit aus und macht damit einen Erstschlag "gewinnbarer". In dieser Logik liegt der Grund, warum die Atommächte selbst einen Zusammenstoß ihrer konventionellen Streitkräfte um jeden Preis zu vermeiden versuchen.

Und damit kommen wir zu der entscheidenden Logik von Handlungen unterhalb der Schwelle des totalen nuklearen Kriegs. Der französische strategische Denker André Beaufre nannte dies 1965 "indirekte Strategie". Er beschrieb es als "die Kunst den größtmöglichen Nutzen aus dem begrenzten Gebiet strategischer Handlungsfähigkeit zu ziehen, das durch den Abschreckungseffekt von Atomwaffen bleibt". Wir müssen uns dieses "Gebiet" als eine Reihe von Optionen vorstellen, die durch die "Roten Linien" des jeweiligen Gegners beschränkt werden. Ein Angriff auf Westberlin durch die Rote Armee ist ein klares Überschreiten der Roten Linien. Ein Angriff der Roten Armee auf Afghanistan ist das nicht. Wie sieht es mit einem Angriff der Roten Armee auf Ägypten (die geografischen Beschränkungen einmal kurz beiseite gelassen)?

Diese Unsicherheit ist immanent, weil die "Roten Linien" immer eine Frage der Wahrnehmung und Einschätzung sind. Werden die USA einen Angriff auf Afghanistan tolerieren? Vermutlich. Gleichzeitig ist die Unterstützung der Mudjaheddin in Afghanistan durch die USA kein Überschreiten der sowjetischen Roten Linien. Diese Handlungen beschreibt Beaufre als "innere Bewegungen"; sie verändern das Betätigungsfeld nicht. Deren Gegenstück, "äußere Bewegungen", dienen dazu, Rote Linien zu verschieben und somit das eigene Handlungsfeld zu vergrößern oder das Gegners zu verkleinern. Wenn etwa die USA glaubhaft machen, dass sie Südvietnam als engen Verbündeten sehen, so sind die Handlungsspielräume der Sowjetunion geringer. Wenn sie der eigenen Bevölkerung glaubhaft machen können, dass ihre Freiheit am Hindukusch verteidigt wird, können sie größere Operationen durchführen.

Das Androhen von Konsequenzen, Propaganda und ähnliche Aktionen helfen dabei, diese Bewegungen durchzuführen. Natürlich muss die Abschreckung bei all dem glaubhaft bleiben. Wenn die USA mit einem Atomschlag auf Beijing drohen, falls die Chinesen ihre "Belt and Road"-Initiative auf Ghana ausweiten, ist das keine glaubhafte Drohung. Sie wird zu einem Zusammenbrechen des ganzen Systems führen, weswegen es sehr wichtig ist, strategische Entscheidungen zu treffen und präzise zu kommunizieren.

Eines der erfolgreichsten Manöver im Zeitalter der Atombombe ist es, vollendete Tatsachen zu schaffen. Es ist wesentlich leichter, für potenzielle oder im Gange befindliche Handlungen Konsequenzen anzudrohen als für solche, die abgeschlossen sind und einen neuen Status Quo geschaffen haben. Dazu verwenden die Mächte gerne eine "Salami-Taktik", bei der scheibchenweise Ziele erreicht werden, diese aber dafür schnell und mit einer vollendeten Tatsache, einem neuen Status Quo. Als Russland etwa 2014 die Krim annektierte, geschah genau das. Ein schneller Einmarsch, ein "Referendum", offizielle Annexion, fertig. Es gab für den Westen kaum eine Chance, die eigene Bevölkerung politisch auf ein mögliches Eingreifen vorzubereiten oder eigene Maßnahmen festzulegen. Er wurde vor vollendete Tatsachen gestellt.

Genau deswegen ist es notwendig, dass Rote Linien glaubhaft gemacht werden. Wenn die Abschreckungswirkung durch Atomwaffen einerseits und die NATO andererseits funktionieren soll, dann müssen potenzielle Gegner der Überzeugung sein, dass ein Angriff auf NATO-Mitglieder grundsätzlich maximale Vergeltung bedeutet. Andernfalls öffnen sich die NATO-Mitglieder für eine solche "Salami-Taktik". Wenn etwa Russland eine Chance sieht, einen Einmarsch in die überwiegend russischsprachigen Gebiete Estlands durchführen und damit durchkommen zu können, steigt die Eskalationsgefahr. Die NATO muss daher selbst für die kleinste Grenzverletzung maximale Vergeltung androhen, und Russland andererseits peinlich genau darauf bedacht sein, solche Grenzverletzungen zu vermeiden.

All diese Konzepte setzen rationale Akteure voraus - auf allen Ebenen. Die große Gefahr besteht darin, dass sich jemand vertut. Wir haben glücklicherweise bislang nur umgekehrte Beispiele, in denen ein Atomkrieg verhindert wurde, weil jemand gegen die Logik der Abschreckung gehandelt hat. 1962, während der Kubakrise, durchbrach ein sowjetisches U-Boot die Quarantänelinie. Ein US-Zerstörer versuchte, es mit Übungs-Wasserbomben zum Auftauchen zu bewegen. Der U-Boot-Kommandant interpretierte diese Wasserbomben aber als Angriff und wollte, der Doktrin entsprechend, mit einem nuklearen Torpedo reagieren. Glücklicherweise war der Vize-Admiral an Bord, der von der Doktrin abwich und so eine potenzielle Eskalationsspirale verhinderte.

1983 gab es gleich zwei solcher knappen Momente. Ein sowjetisches Alarmsystem meldete den Start von fünf amerikanischen Atomraketen. Der diensthabende Offizier hätte eigentlich seine eigenen Raketen starten müssen - unabdingbar für die nukleare Abschreckung. Er tat das nicht, weil er einen Erstschlag mit fünf Raketen für unwahrscheinlich hielt. Später stellte sich heraus, dass Reflektionen des Sonnenlichts auf Wolken für die Fehlermeldung verantwortlich war - das großartige sowjetische Equipment bei der Arbeit. Im selben Jahr sorgte das NATO-Manöver "Able Archer", bei dem unter anderem die Kommunikation im Kriegsfall geübt wurde (die, wir vorher gesehen haben, für Zweitschläge essenziell ist, die sich wiederum vom Gegner nicht von Erstschlägen unterscheiden lassen) für Panik bei der sowjetischen Führung, die das als Vorbereitung eines Angriffs sah.

Der Grund dafür liegt darin, dass die sowjetische Doktrin fingierte Übungen als Vorbereitung für einen Angriff vorsieht. Das ist Teil der Salami-Taktik: die eigenen Truppen werden durch fingierte Übungen in Stellung gebracht und der Gegner so in Sicherheit gewiegt, um dann schnell zuschlagen zu können und vollende Tatsachen zu schaffen. Wer sich daran erinnert, dass russische Soldaten im Frühjahr 2022 für eine "Übung" an der ukrainischen Grenze aufmarschierten, wird verstehen, woher diese Besorgnis kommt.

Die Logik nuklearer Abschreckung führt, abschließend, so zu einer instabilen Stabilität. Konflikte zwischen den Atommächten sind dank der Zerstörungskraft dieser Waffen extrem unwahrscheinlich. Gleichzeitig aber sind Konflikte zwischen den Atommächten und Staaten, die keine Atomwaffen haben, wahrscheinlicher, weil diese keine Gegenabschreckung durchführen können. Egal, wie mies der Krieg Russlands in der Ukraine läuft, die Gefahr eines Angriffs ukrainischer Truppen auf russisches Territorium ist praktisch null. Während Planer im Iran sich durchaus Sorgen um eine potenzielle amerikanische Invasion machen müssen, ist die Wahrscheinlichkeit einer iranischen Attacke auf einen amerikanischen Trägerverband sehr gering. Attacken innerhalb des Handlungsfelds - "innere Bewegungen" - sind also für die Atommächte mit sehr geringem Risiko verbunden.

Diese Logiken zu verstehen ist essenziell, wenn man in irgendeiner Weise strategisch denken will statt nur irgendwelche martialischen Phrasen in die Luft zu werfen. Dieser Artikel hat hoffentlich einen Beitrag dazu geleistet.

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