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Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
Zum Abschluss des Revolutionsteils wendet Osterhammel den Blick auf vier außereuropäische Revolutionen nach 1900. Vorher gebührt Mexiko noch ein "Seitenblick", wo ab 1910 eine der blutigsten Revolutionen der ganzen Epoche vonstatten ging, die jeden achten Mexikaner das Leben kostete. Sie hatte keine übergeordneten Ideen außer dem Widerstand gegen eine unterdrückerische Regierung und auch keine Strahlkraft nach außen. Trotz amerikanischer Interventionen blieb sie eine weitgehend mexikanische Affäre. Die vier Revolutionen in Russland (1904-1907), Iran (1905-1911), Türkei (1908-1920) und die Xinhai-Revolution in China (1911) besaßen einige Gemeinsamkeiten. Sie wurden nicht durch Revolutionen im Nachbarland ausgelöst, sondern nur durch indirekte Wirkungsketten verbunden (ohne Russische Revolution vermutlich keine Einigung mit Großbritannien über Interessenssphären 1907, und ohne die keine jungtürkische Furcht vor einer gemeinsamen Aufteilung des Osmanischen Reichs).
Gleichwohl orientierten sich die vier Revolutionen, anders als etwa die Taiping-Revolution, an Vorbildern. Nicht nur Europa, sondern auch Japan sticht hier besonders hervor. Sie kopierten sich aber weder gegenseitig noch imitierten sie westliche Vorbilder. Die einzige Ausnahme war Russland, das weiter entwickelt als China, Iran und Osmanisches Reich war und tatsächlich eine radikalisierbare Arbeiterschicht besaß, die dann revolutionstreibend wirkte. Gemeinsam war den Revolutionen, dass der Adel im jeweiligen Land kein Gegengewicht zur absoluten Herrschaft des Staatsoberhaupts bilden konnte. Gleichwohl waren die jeweiligen Herrscher aber auch nicht vollkommenen Autokraten, als die die westliche Propaganda sie zeichnete; gerade China war vor der Revolution auf einem konsequenten Modernisierungskurs, der es umso ironischer macht, dass das Kaiserreich so plötzlich verschwand. Gleichwohl waren Reformen nicht die Auslöser der Revolutionen, wie sie es so oft an anderen Orten der Weltgeschichte waren.
Die Intellegintsia existierte in unterschiedlichen Ausmaßen. Sowohl in Russland als auch Iran war sie revolutionstreibend, während sie nirgendwo so stark im Staat verwurzelt war wie im Osmanischen Reich. In China dagegen gab es durch das konfuzianische Beamten-System keine Möglichkeit von formaler Bildung außerhalb des Staates und keine Kanäle für Opposition; sicher mit ein Grund für die Schwäche des chinesischen Staatswesens im späteren 19. Jahrhundert. Das Militär dagegen war in Russland bis 1917 zarentreu und kein Revolutionstreiber. Im Osmanischen Reich und Iran war seine Lage ambivalent (Iran besaß ohnehin kein Militär im westlichen Sinn), während die Taiping-Aufstände in China maßgeblich durch militärische Verwicklungen entstanden waren.
Im Ergebnis erhielt China eine kurzlebige Republik (1911), während Russland für kurze Zeit einen "Scheinkonstitutionalismus" erhielt, ehe die Revolution von 1917 ein ganz neues System schuf. Die Übergänge in Iran und dem Osmanischen Reich vor dem Ersten Weltkrieg sieht Osterhammel demgegenüber als gleitender an.
In Kapitel 11, "Staat", beginnt mit der Feststellung, dass kein Jahrhundert eine größere Vielfalt von staatlichen Ordnungen erlebt habe als das 19. Er sieht einen generellen Trend zu neuerlicher Vereinfachung im Hinblick auf das 20. Jahrhundert und macht vier Grunddynamiken aus: Nationenbildung, Bürokratisierung, Demokratisierung und Sozialstaatsentwicklung. Generell seien Staaten nicht so radikal wie im 20. Jahrhundert gewesen, weswegen er auch vom "Goldenen Zeitalter des Staats" spricht. Diese anfänglichen Betrachtungen werden mit der emphatischen Feststellung abgeschlossen, dass europäische Ideen (Nationalstaat, Rechtsstaat, Gewaltmonopol etc.) sich nicht auf den Rest der Welt aufpropfen lassen, die dann quasi als defezitär betrachtet wird.
Um 1900 sieht Osterhammel einige Grundtypen von Ordnung. Da wären zuerst die selten gewordenen Autokratien, die man aber nicht automatisch als rückständig begreifen darf (die siamesische Autokratie etwa war eine Modernisierungsgewalt). Konstitutionelle Monarchien gab es nur in europäisch beeinflussten Regionen. Eher selten waren parlamentarische Systeme. Sehr häufig dagegen fanden sich Gefolgschaftssysteme, auf die die europäischen Kolonialmächte sich gerne aufpropften (sehr zu Lasten der vorherigen Anführer). Das 19. Jahrhundert sah, recht unabhängig vom System, eine generelle Zunahme an Kommunikation mit den Beherrschten, ob über PR oder Wahlkämpf.
Die mit Abstand häufigste Regierungsform des Jahrhunderts war die Monarchie. Sie war nach 1789 nicht zum Auslaufmodell geworden, sondern hatte vielmehr eine Renaissance erlebt. Die zahlreichen verschiedenen Formen in den späteren Kolonialgebieten konnten deshalb recht leicht europäisch integriert werden, wenngleich dieser Prozess nicht überall gleich gut gelang (Osterhammel findet aber auffällig, wie viel höher die Bindekraft des Commonwealth an die Queen im Gegensatz zur Frankophonie an die Republik war). Die konstitutionelle Monarchie war zwar ein europäisches Phänomen, deren Struktur sich an der Stellung des Regierungschefs ablesen lasse. Aber sie besaß eine große Strahlkraft. Osterhammel untersucht vergleichend das Regime Victorias (die sich trotz enormen Arbeitseifers auf Repräsentation beschränkte und sich dem Parlament unterordnete), die Meiji-Kaiser (die für das japanische Nationsbildungsprojekt neu erfunden wurden und sich als "Bürgerkönige" nach europäischem Vorbild inszenierten) und Napoleon III. (der eine Art moderne Akklamationsmonarchie erfand, die überhaupt kein Beispiel besaß und bis 1870 auch ziemlich erfolgreich war). Eine Stärke der europäischen Monarchie sei ihre Verflechtung gewesen, die Ersatzpersonal bereitstellte; demgegenüber hätten asiatische Monarchien den Nachteil gehabt, sich aus sich selbst reproduzieren zu müssen und nie über ein gemeinsames Standesbewusstsein zu verfügen. Umgekehrt wurden die asiatischen Monarchen von den europäischen auch nie als gleichwertig akzeptiert. Eine weitere wichtige Rolle im monarchischen Treiben spielten die Höfe, die bis 1918 die Zentren der High Society blieben.
Bei der Betrachtung von Demokratien betont Osterhammel, dass ein breiter Demokratiebegriff angewendet werden muss, da ohne Frauen- und mit meist eingeschränktem Männerwahlrecht keine der (wenigen) Demokratien der Epoche unseren Standards genügt. Demokratie galt den Zeitgenoss*innen ohnehin als diskreditierte Idee, die sofort Bilder des jakobinischen Terrors beschwor.
Großes Gewicht legt Osterhammel auch auf den Rechtsstaat. Dieser war zwar teilweise (vor allem beim Schutz des Eigentums und der Unabhängigkeit der Gerichte) auch in autokratischeren Monarchien möglich, verbreitete sich aber im Lauf des 19. Jahrhunderts von seinem angelsächsischen Idealtypus ausgehend immer mehr. Dazu gehörte auch das Verständnis des Bürgers als Rechtsperson und die Gemeinschaft der Bürger als politische Öffentlichkeit.
Ein weiteres Phänomen des 19. Jahrhunderts war die Konstitutionalisierung. Beginnend in Frankreich und den USA während der Sattelzeit gaben sich fast alle Länder Verfassungen. In Europa sieht Osterhammel den Prozess 1871 als weitgehend abgeschlossen, während Ende des Jahrhunderts in Asien eine neue Konstitutionalisierungswelle auftrat. Das Vorhandensein einer Verfassung bedeutete noch lange keine Demokratie oder Rechtsstaat; Lateinamerika etwa produzierte am laufenden Band neue Verfassungen, ohne dass das zu verfasster Politik geführt hätte. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren zudem die wenigsten Staaten mit demokratischem Massenwahlrecht organisiert; paradoxerweise war hier die koloniale Peripherie führend, die (zumindest für die weißen Siedler) als "Fahrstuhl" wirkte, in dem demokratische Systeme teilweise "leichter umzusetzen waren als im oligarchisch-aristokratischen Mutterland".
Zu diesem Aspekt gehört auch der Wandel des Wahlrechts. Das 19. Jahrhundert sah einen Wandel von der Elitendemokratie - der Idee, dass nur die reiche Oberschicht "reif" genug für politische Entscheidungen sei - hin zu einer breiteren Massenbasis. Erreicht wurde diese aber nur punktuell; bis zum Ersten Weltkrieg durften beinahe nirgends die Frauen und beileibe nicht überall alle Männer wählen. Besonders schwer machten es die USA ihren Bürgern, um die Partizipation unerwünschter Elemente - vor allem der Schwarzen - zu verhindern.
So uneinheitlich die Ausbreitung von Demokratie und Wahlrecht als Trendlinie des 19. Jahrhunderts war, so eindeutig kann die Herausbildung einer professionellen Verwaltung gesehen werden. Ohne leistungsfähige Bürokratie, die Staat und Herrschaft trennt und damit den Abschied vom alten Bild des "Landesvaters", der das Land wie eine Familie regiert, ablöste, war ein moderner Staat nicht mehr machbar. Darauf hatte Europa kein Patent (die USA hatten eine merkwürdige Zwitterstellung, weil sie ideologisch den Staat ablehnten, ihn de facto aber besaßen, wenngleich in föderal diffundierter Form); auch im Osmanischen Reich oder in China gab es in der Sattelzeit leistungsfähige Verwaltungen, die den Vergleich nicht zu scheuen brauchten.
Das neue Phänomen des 19 Jahrhunderts war die rationale Bürokratie. Unter diesem Begriff fasst Osterhammel eine Bürokratie, die für Sicherheit sorgt, eine unabhängige Justiz und eine effektive Finanzverwaltung besitzt, in der Korruption strafbar ist und Beamte Laufbahnbeamte sind, die für ihre Posten Kompetenzen benötigen und Sie nicht kaufen. Wo dieses neue Verwaltungsverständnis auftritt, herrscht ein modernerer Staat. für Osterhammel besonders interessant ist, wo dieses europäisch geprägte Verständnis rationaler Bürokratie auf die außereuropäische Welt trifft. Diese Ideen trafen oft auf fähige und lange bestehende, aber üblicherweise überhaupt nicht kompatible Verwaltungstraditionen. Der koloniale Staat brachte so seine eigenen Institutionen mit und etablierte diese üblicherweise als Parallelsystem, dem die Einheimischen nur als Objekte der Gewaltausübung begegneten und das den Kolonisatoren weitgehende Schutzrechte einräumte.
Unter allen kolonisierten Staaten sieht Osterhammel nur in Indien eine leistungsfähige Bürokratie, die es mit der Europäischen hätte aufnehmen können. Ironischerweise war diese Bürokratie sogar besser als die britische, dass sie meritokratischer und von weniger Korruption geprägt war. der Kolonialismus prägt so auch seinen Ursprung. die Briten übernahmen das meritokratische Prinzip für ihre eigenen Behörden, während gleichzeitig die permanente Gewaltausübung der kolonialen Behörden wieder nach Hause zurück importiert wurde, was diesen Prozess entschieden ambivalent macht. Siehe hierzu auch Caroline Elkins „Legacy of Violence“, dass ich hier rezensiert habe.
Solcherlei Vermischungen verschiedener Verwaltungstraditionen gab es außerhalb Indiens praktisch nicht. Osterhammel nennt als Beispiel die konfuzianisch geprägte Bürokratie Chinas, hier als Kontinuitätslinie von den Ming über die kurze Republik zu Mao und bis in die heutige Diktatur Xi Xinpings laufen sieht. verschiedene Reformversuche der chinesischen Regierungen in diesen zwei Jahrhunderten scheiterten weitgehend in dem Versuch, eine rationale Bürokratie aufzubauen. Dieser Wunsch bestand bei vielen Ländern der Peripherie durchaus, weil man sich gegenüber dem kolonisierenden Westen als im Nachteil begriff. Solcherlei Reformversuche bildeten für die autokratischen Herrscher jedoch immer große Gefahrenpunkte, dass sie die politischen Verhältnisse durcheinanderwirbelten und der Pfadabhängigkeit von Politik widersprachen, so dass viel Widerstand hervorgerufen wurde, der sich auch gerne in Putschversuchen niederschlug. Ein Positivbeispiel solcherlei Modernisierungen ist Japan, das seien die Bürokratie vor dem Rest des Landes modernisierte und dadurch ihr das umgekehrte Problem schuf: eine hocheffektive Bürokratie mit einer großen Gefahr der Verselbstständigung. Genau das sollte im 20. Jahrhundert dann auch geschehen.
Weiter geht es in Teil 8.
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