Freitag, 28. Juli 2023

Rezension: Volker Ullrich - Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund

 

Volker Ullrich - Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund (Hörbuch)

Das Jahr 1923 spielt für die Deutschen eine hervorgehobene Rolle. Nicht nur die große Hyperinflation, sondern zahlreiche andere Krisen erschütterten in diesem Jahr das Land. In der deutschen Wahrnehmung ist es vor allem die Hyperinflation die in Erinnerung geblieben ist. sie ist allerdings trotz der hervorgehobenen Rolle die sie in der deutschen Erinnerungskultur spielt kaum verstanden und wird selten in einen größeren Kontext eingebettet. Ein Buch das sich ausführlich mit dem kompletten Jahr und den Kontexten beschäftigt wäre daher sehr willkommen. ob der vorliegende Band von Volker Ullrich diesen Anspruch einlösen kann wollen wir im Folgenden untersuchen.

Ulrich beginnt seine Erzählung in Kapitel 1 Ende des Jahres 1922 kurz vor Beginn des Ruhrkampfs. Der Tagebucheintrag einer Deutschen die 1922 als Wahnsinnsjahr empfand und darauf hoffte dass 1923 mehr Normalität einkehren würde schafft den entsprechenden Rahmen. Das Chaos bezog sich nicht nur auf die galoppierende Inflation die bereits 1922 ein spürbares Problem war sondern auch auf das politische Chaos jener Jahre. So war bereits 1922 außenpolitisch von großen Konflikten mit Frankreich gekennzeichnet die wegen nicht bezahlter Reparationen unter dem Premierminister Poincaré immer wieder damit drohten sogenannte produktive Pfände einzutreiben indem sie das Ruhrgebiet besetzen und sich dort die Reparationen in Sachleistungen selbst holen würden.

Nachdem bereits 1920 die Weimarer Koalition geendet hatte regierten 1922 unter dem Reichskanzler Wirth bürgerliche Regierungen mit sehr schmaler parlamentarischer Basis das Land. als sich diese parlamentarische Basis durch Regierungskrisen weiter verschmälerte zerbrach auch die Regierung Wirth. Die Vorstellung dass die SPD ähnlich wie bereits 1919 und 1920 eine Art große Koalition mit den bürgerlich liberalen Parteien schließen könnte war wegen einer anderen Entwicklung des Jahres 1922 eine Illusion: die Auflösung der USPD und der Beitritt eines teils dieser Partei zur SPD hat er einen scharfen Linksschwenk der SPD zufolge, der für eine generelle Unwillen sorgte, in eine Koalition einzutreten und Regierungsverantwortung zu übernehmen.
 
Stattdessen wurde eine bürgerliche Minderheitenregierung unter Wilhelm Cuno eingerichtet. Dieser brachte diverse bürgerliche Persönlichkeiten als Fachminister in sein Kabinett, die sich allerdings größtenteils als Nieten erwiesen. Cuno selbst, der als umgänglicher und seriöser Mensch bekannt, gleichwohl bisher nicht als politischer Leuchtstern aufgefallen war, er zeigte sich von der Aufgabe bald überfordert und setzte alle seine Hoffnungen in die völlig unrealistische Vorstellung, dass das Ausland zugunsten Deutschlands intervenieren und die Franzosen zurückhalten würde. Als eine Koalition aus Franzosen und Belgien im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzte, um sich die Reparationen als produktive Pfände selbst zu nehmen, traf dies die Regierung Cuno trotz zahlreicher Warnungen seitens der französischen Regierung wie auch zahlreicher Experten völlig unvorbereitet.

Die Reaktion der Regierung war die Ausrufung des sogenannten passiven Widerstands. Die Idee war, dass eine Art Generalstreik im Ruhrgebiet den Widerstandswillen der Deutschen demonstrieren und die Kosten für die französischen Besatzer so in die Höhe treiben würde, dass diese sich zum Abbruch des Ruhrkampfes gezwungen fühlen würden. Es war offenkundig, dass militärischer Widerstand gegen die Besatzung völlig aussichtslos war. Nicht, dass dies die Rechtsradikalen davon abgehalten hätte, genau dies zu fordern und offensiv zu vertreten.

Zu Beginn war der passive Widerstand durchaus erfolgreich. Die Produktion im Ruhrgebiet kam fast völlig zum Erliegen und die Besatzer hatten große Schwierigkeiten, ohne Kollaborateure die Besatzungszone zu verwalten. Zudem rief der Ruhrkampf eine Welle von Einheitsgefühlen unter den stark polarisierten Deutschen hervor, wie sie seit den Kriegstagen nicht mehr gesehen worden war. Innenpolitisch konnte die Regierung Cuno daher im Januar mit der Ausrufung des passiven Widerstands einen Teilerfolg proklamieren.

Doch es zeigten sich sofort Bruchstellen. Die nationalen Aufwallungen, die die Regierung heraufbeschworen hatte, erwiesen sich als schwer kontrollierbar. Besonders auf der Seite der extremen Rechten führten sie zu einem Zulauf radikaler Terrororganisationen, die zwar für den Moment hauptsächlich gegen die Besatzer gerichtet waren, perspektivisch aber natürlich auch gegen die ungeliebte Republik selbst eingesetzt werden würden. Langfristig war die Beschwörung eines nationalen Widerstandskampfes gegen die Franzosen zudem in höchstem Maße kontraproduktiv: Sie nahm der deutschen Außenpolitik praktisch jeden Spielraum und verunmöglichte jegliche diplomatische Lösung des Konflikts, weil jederzeit das Szenario eines neuen "Dolchstoßes" zu drohen schien.

Die Franzosen reagierten zudem schnell auf die neue Situation, indem sie Streikbrecher vor allem aus dem Elsass rekrutierten und so die Maßnahmen der Reichsregierung höchst erfolgreich unterliefen. Spätestens im März 1923 war absehbar, dass der passive Widerstand gescheitert war. Die Kosten waren für die deutsche Seite wesentlich höher als für die französische und von Letzterer zudem bedeutend einfacher zu tragen. Eine Solidarisierung des Auslands mit der Weimarer Republik fand nicht statt.

In dieser Situation hielt der Vorsitzende der DVP, Gustav Stresemann, eine vielbeachtete Rede. Stresemann, der bisher vor allem als beinharter Annexionist während des Krieges und überzeugter Monarchist aufgefallen war, äußerte sich höchst moderat, vernünftig und seriös. Die Zeitgenossen interpretierten diese Rede nicht ohne Grund als eine Art Bewerbung um das Kanzleramt. Stresemann hatte viel Grund zur Kritik. Die Regierung Cuno hatte eine völlig unzureichende Note an die französische Regierung geschickt, die nicht eben dazu geeignet war, Sympathien im Ausland zu gewinnen oder die Franzosen umzustimmen. Diese hatten ja schließlich auch durchaus einen Punkt: Die Strategie der Regierung Wirth, mit der sogenannten Erfüllungspolitik die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands zu beweisen und hierzu die Inflation zu instrumentalisieren, war ein Fakt, gegen den die Regierung zwar nicht anerkannte, der ihnen aber bereits von den Franzosen vorgeworfen wurde und der die unangenehme Eigenschaft hatte, wahr zu sein.

Eine unrühmliche Rolle in diesem Drama wurde von Hugo Stinnes und den anderen Großindustriellen eingenommen. Sie bildeten eine Art Schattenregierung, die vernünftige Kompromisse praktisch unmöglich machte und Maximalforderungen vertrat. Der gewaltige Einfluss der Großindustriellen auf die Politik, der auch Stresemanns Regierung dominieren sollte, wirkte sich sehr nachteilig für die deutsche Diplomatie aus. Das Land hatte damals allerdings das Glück, mit Friedrich Ebert einen demokratischen Reichspräsidenten zur Verfügung zu haben, der einerseits weitgehend unparteiisch und andererseits unzweifelhaft patriotisch und demokratisch gesinnt an einer Lösung der Krise interessiert war, ohne sich zu sehr um das Schicksal seiner eigenen Partei zu kümmern. Ein ähnliches Glück würde Deutschland in seiner nächsten großen Bewährungsprobe ab 1929 fehlen.

An dieser Stelle erhielt die deutsche Politik eine Art Atempause: Die unnachgiebige Politik der Franzosen und die wirtschaftlichen Folgeeffekte des Ruhrkampfes hatten die Briten, wie von der Regierung Cuno ursprünglich beabsichtigt, verärgert und dazu gebracht, unter dem Spitzendiplomaten Curzon eine diplomatische Initiative zu starten. Die schlechte deutsche Diplomatie sorgte allerdings dafür, dass diese Chance verschwendet wurde: Erneut sandte man nur eine völlig unzureichende Antwortnote.

Das zeigt sich in jenen Tagen, dass die starke Rücksichtnahme auf die radikale und extreme Rechte die deutsche Politik stark belastete. Auch diese Leitlinie der deutschen Innenpolitik, die sich auf die Außenpolitik durchschlug, würde sich in der Regierung Stresemann und im weiteren Verlauf der Weimarer Republik noch öfter zeigen. Sie kontrastiert auch äußerst unvorteilhaft mit der wesentlich schärferen Betrachtung und Ausgrenzung der radikalen Linken. Spätestens ab März jedenfalls war die Regierung Cuno eine Regierung auf Abruf, ohne dass es offensichtliche Erben gegeben hätte, da die verfahrene Situation eine Regierungsübernahme sehr unattraktiv machte. Obwohl offensichtlich war, dass der Ruhrkampf gescheitert war, traute sich niemand, ihn aus Furcht vor einer neuen Dolchstoßlegende abzublasen.

Die politischen Hoffnungen richteten sich auf die Bildung einer großen Koalition, die die DVP, das Zentrum, die DDP und die SPD umfassen sollte. Die Idee dahinter war nicht eine neu entdeckte Liebe für die Sozialdemokratie, sondern die Vorstellung, dass eine breite Basis in der Masse der Bevölkerung gebraucht wurde. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass die Liberalen zu diesem Zeitpunkt noch bereit waren, die Legitimität der Arbeiterbewegung als Teil Deutschlands anzuerkennen - etwas, das gegen Ende der 1920er Jahre nicht mehr der Fall sein würde. Cuno hatte ohnehin längst sämtliche Lust an dem Amt verloren, und es gab eigentlich nur einen Kandidaten: Gustav Stresemann. In den Worten Hugo Stinnes': "Stresemann lag in der Luft."

Bevor er sich der Regierung Stresemann zuwendet, beginnt Ulrich Kapitel 2 mit der Hyperinflation. Sie ist der Elefant im Raum, der bisher nur am Rande des Geschehens erwähnt worden ist und prägt die Erinnerung an 1923 wie kaum ein anderes Ereignis. Ohne die Vorgeschichte des Jahres zu verstehen, ist es praktisch unmöglich, die Hyperinflation richtig einzuordnen. Sie beginnt bereits während des Ersten Weltkrieges, weil der deutsche Staatshaushalt nicht in der Lage war, die laufenden Kosten auch nur annähernd aus den Steuern und Kriegsanleihen zu decken. Diese Kriegsanleihen werden im Lauf der Inflation komplett entwertet und waren eine Anlage vor allem für die Mittelschicht, die durch diese kalte Beseitigung der Staatsschulden bei der eigenen Bevölkerung die größten Schäden bei ihrem Vermögen erlitt. Selbstverständlich führte sie dies weniger auf den verlorenen Krieg als vielmehr auf die Republik selbst zurück.

Ende des Krieges jedenfalls betrugen allein die Zinskosten 90% aller offiziellen Staatsausgaben; der Krieg war komplett auf Pump finanziert. Ullrich spricht in diesem Zusammenhang von einem Hasardspiel. Die Reichsmark war im Jahr 1918 nur noch 50% von dem Wert, was sie zu Beginn des Krieges gewesen war. Damit war das Ende der Fahnenstange allerdings noch bei weitem nicht erreicht. Die weitere Entwicklung der Inflation verlief in Schüben. Bis Ende 1919 beschleunigte sie sich drastisch. Darauf folgte eine Phase relativer Ruhe und Stabilität in der ersten Hälfte 1920, ehe die Londoner Konferenz mit der offiziellen Festlegung der Reparationssumme einen weiteren starken Werteverfall der Währung und durch ausländische Spekulationen gegen die deutsche Zahlungsfähigkeit auslöste. Ein weiterer großer Inflationsschub entstand durch die durch Rechtsradikale durchgeführte Ermordung Walther Rathenaus 1922. Das legendäre vollständige Abdrehen in die Hyperinflation geschah dann erst 1923 als Folge des Ruhrkampfes.

Bereits vorher allerdings hatte die Inflation dramatische Züge angenommen. Jetzt herrschte jedoch lange Jahre ein Inflationskonsens, der sowohl von der Wirtschaft, den Beschäftigten als auch von der Politik getragen wurde. Dieser Inflationskonsens beruhte vor allem auf drei Säulen: Die relative Ruhe nach dem Ersten Weltkrieg, die angesichts der großen Demobilisierung und den damit einhergehenden Verwerfungen in der Volkswirtschaft keine Selbstverständlichkeit war, sollte erhalten werden; die deutsche Wirtschaft, die all die Kriegsheimkehrer zu versorgen hatte und zudem unter der drohenden Belastung von Reparationen stand, sollte gestärkt werden (ein Ziel, das bis 1922 auch gut erreicht wurde, mit hohen Wachstumsraten und gutem Exportanteil, der Reparationen teilweise möglich machte); und zuletzt sollte die tatsächliche Wirtschaftskraft Deutschlands gegenüber den Alliierten verschleiert und durch die sogenannte Erfüllungspolitik Zahlungsunfähigkeit demonstriert werden, um auf diese Art und Weise aus dem Versailler Vertrag herauszukommen. Bis 1922 wurden diese Ziele auch erreicht, wenngleich das Ausmaß der Verschleierung zwar unbekannt, aber das grundlegende Ziel zumindest von den Alliierten vermutet wurde. Den Beziehungen zwischen Deutschland und der Entente war dies nicht zuträglich.

Die Kosten dieser Politik trafen die Menschen in Deutschland höchst ungleich. Die größten Verlierer waren die Rentiers, also Menschen, die von Kapitaleinkünften leben mussten, die Beamten, deren Bezüge einseitig vom Staat gekürzt werden konnten, und das bereits erwähnte gehobene Bürgertum, dessen Investitionen und Anlagen verloren gingen. Die Gewinner fanden sich vor allem unter den Niedriglöhnern, deren Einkommen im Vergleich zu allen anderen Bevölkerungsschichten nach oben genivelliert wurden, so dass es zu einer Verringerung der großen Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft kam. Alle anderen abhängig Beschäftigten waren Verlierer der Inflation. Für Landwirte war die Situation zwiespältig. Auf der einen Seite half ihnen die Produktion lebenswichtiger Nahrungsmittel, die von den Städtern mit wertvollen Sachwerten bezahlt wurden, auf der anderen Seite litten auch sie massiv unter den Preissprüngen für Saatgut und Maschinen. Die letzte Kategorie der Gewinner waren die Großindustriellen, allen voran Hugo Stinnes. Es gelang ihnen, gigantische Konzentrationsprozesse in der Wirtschaft anzustoßen, die ihnen im Gegenzug noch mehr politische Macht sicherten.

Insgesamt sorgte die Inflation spätestens ab 1922 für große Not in der Bevölkerung und brachte neue soziale Phänomene hervor. Eines der Kuriosesten waren sicherlich die Inflationsheiligen, Wanderprediger mit langen Haaren und Bärten in Sandalen und Kutten, die überall auftraten und verschiedene Verschwörungstheorien verbreiteten. Der Vergleich zu den Corona-Querdenkern ist sicherlich nicht unangebracht. Ulrich beschreibt jedoch auch eine wohlige Lust der Bevölkerung am Zahlenrausch, einen Verlust jeglicher Maßstäbe bei den Preisen, der eine fast fiebrige Stimmung in der Bevölkerung erzeugte und trotz aller Not eine merkwürdige, oft ironische Distanz zum Geschehen bewirkte.

Es war der Ruhrkampf, der den Point of No Return darstellte. Die vollständige Finanzierung des Generalstreiks durch die Notenpresse auf der einen Seite und der vollständige Verlust sämtlicher Einnahmen des wichtigsten Wirtschaftsgebiets auf der anderen Seite führten zu einer völligen Implosion der deutschen Zahlungsbilanz. Spätestens im Sommer 1923 hatte die Mark als Währung praktisch aufgehört zu existieren.

Gleichzeitig fand ein enormer Bedeutungsgewinn für Devisen aller Art statt, selbst für Kleingeld eigentlich nicht besonders solider Länder wie Italien. Ausländer in Deutschland lebten wie die Made im Speck, was den Deutschen natürlich nicht gefiel. Auch diese Erfahrung der zusätzlichen Unterwerfung unter das Ausland gehört zum Erfahrungsschatz des Jahres 1923.

In Kapitel 3 kehrt Ulrich zur Großen Koalition unter Stresemann zurück. Stresemann startete mit großen Hoffnungen ins Amt, traute sich jedoch nicht, den längst gescheiterten Ruhrkampf abzublasen. Der Grund hierfür war weniger Einsicht seitens Stresemanns, sondern die Rücksichtnahme auf die radikale und extreme Rechte in Deutschland, die auch in der Regierung, vertreten durch den rechten Flügel der DVP, präsent war. Obwohl die Regierung über eine breite parlamentarische Basis zu verfügen schien, war diese in Wahrheit kleiner als es die Zahlen vermuten ließen. Bereits bei der Wahl Stresemanns blieben Abgeordnete des rechten Flügels der DVP sowie Abgeordnete des linken Flügels der SPD der Abstimmung fern, was als Signal für künftige Probleme gesehen werden konnte.

Angesichts dieser unsicheren Mehrheit entschloss sich Stresemann dazu, Politik am Parlament vorbei zu betreiben. Hierfür nutzte er die Sommerpause, um bis zum Beginn des Herbstes keine Abstimmungen durchführen zu müssen und stattdessen mittels eines Ermächtigungsgesetzes politische Maßnahmen durch Kabinettsorder umzusetzen. Dabei erhielt er die Unterstützung von Reichspräsident Ebert und der Mehrheit des Parlaments, die mit einer Zweidrittelmehrheit ihre Zustimmung gab.

Dieser Zustimmung gingen jedoch harte Verhandlungen voraus. Vor allem die Einschränkungen des Ermächtigungsgesetzes waren Gegenstand der Diskussion. Die bürgerlichen Parteien strebten vor allem danach, durch das Ermächtigungsgesetz die sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik zurückzudrehen, insbesondere den Achtstundentag. Die SPD konnte dieses Anliegen weitgehend abwehren, obwohl am Rande des Themas Zugeständnisse seitens der DVP erzielt wurden. Das Thema des Achtstundentages begleitete die gesamte Regierung Stresemann. Das Ermächtigungsgesetz galt solange, bis eine neue Regierung an die Macht kam oder der Oktober erreicht war. Dieses Muster sollte auch bei zukünftigen Ermächtigungsgesetzen, einschließlich demjenigen, das Hitler zur Diktatur verhelfen sollte, Anwendung finden. In diesem Fall jedoch waren die Einschränkungen wirkungslos.

Stresemann zeigte sich als besonnener und offener Regierungschef, wie man an der Auswahl seiner Minister erkennen konnte. Besonders auffällig war die Berufung von Rudolf Hilferding zum Finanzminister. Hilferding, ein ehemaliger USPD-Abgeordneter, war ein Theoretiker der Finanzwirtschaft und ein ungewöhnlicher Verbündeter eines nationalliberalen Unternehmensvertreters. Dennoch versprach er durch unkonventionelle Ansätze zumindest die Möglichkeit einer Lösung der Krise. Es spricht sehr für Stresemann, dass er die Notwendigkeit solch neuer Ansätze erkannte und einen ideologischen Gegner mit ihrer Umsetzung beauftragte.

Dennoch war diese Zusammenarbeit in seiner eigenen Partei äußerst umstritten. Der rechte Flügel der DVP strebte eine Koalition mit der DNVP an und damit die Abschaffung der Republik. Zudem ging es um die Verdrängung der SPD aus dem Kabinett, die von den Rechtsradikalen immer noch als "undeutsch" angesehen wurde. Dieser Konflikt sollte schließlich zum Bruch der Großen Koalition führen. Da diese als letzte Hoffnung für eine parlamentarische demokratische Lösung galt, schien dies wie bereits 1930 das Ende der Republik zu bedeuten. Allerdings gelang es Stresemann wie ein Phönix aus der Asche, die Große Koalition in eine zweite Runde zu führen. Dieses Mal spielte die SPD eine geschwächte Rolle und Hilferding hatte keinen Ministerposten mehr. Die Schuld hierfür lag natürlich bei den Rechten, die den Bruch massiv vorantrieben, aber auch bei der SPD selbst, die sich strategisch und taktisch unklug verhielt.

Recht eigentümlich ist hier die Rolle Friedrich Eberts, der zwar einerseits als Verteidiger der Demokratie auftritt, aber andererseits ist selbst Ideen wie die Einrichtung eines Direktoriums unter den bürgerlichen Parteien gutheißt, die zu dieser Zeit ernsthaft erwogen wird. diese Bereitschaft, die parlamentarische Demokratie in Krisenzeiten abzuschalten und auf Exekutive Funktionen zurückzugreifen, wirft einen düsteren Schatten auf die Ereignisse am Ende der Weimarer Republik.

Besonders problematisch in der Großen Koalition ist die Rolle des Wehrministers Geßler, der zwar von der DP ist, aber ganz besonders empfänglich für die Idee von autoritären, auf die Reichswehr gestützte Regierung zur Ausschaltung der demokratischen wie undemokratischen Linken ist. Er wird uns im späteren Verlauf noch öfter begegnen.

Der Versuch, Der Hyperinflation Herr zu werden, brachte auch Ideen wie eine Parallelwährung auf Roggenbasis, wie sie natürlich vor allem von den großen Landbesitzern vorgebracht wurde, auf. auch andere Ideen wurden vertreten. Auffällig an all diesen Ideen war für mich, das in allen die Vermögen der Wohlhabenden wenigstens als Pfand für diese neue Währung vorgesehen waren, wenn nicht sogar größere Umverteilungen von diesen Wohlhabenden in Richtung des Staates geplant waren. diese gerade von den bürgerlichen Parteien vertretene Position steht in einem auffälligem Gegensatz zu ihrer heutigen Perspektive und Kontextualisiert die Forderungen nach der Einschränkung der sozialpolitischen Leistungen der Weimarer Republik ein wenig, die als faire andere Hälfte eines solchen Verzichts betrachtet wurden. Es gab hier zwar keine Äquivalenz, weswegen der Abwehrkampf der SPD durchaus seine Berechtigung hat, aber die grundsätzliche Bereitschaft, allen beteiligten Opfern abzuverlangen, und die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Opfer, sind durchaus bemerkenswert.

In Kapitel 4 wendet Ulrich den Blick nach Bayern. Seit der Niederschlagung der Räterepublik im Frühjahr 1919 war das Land ein Hort des Rechtsextremismus. Als die Franzosen das Rheinland besetzten, eskalierte der latente Konflikt zwischen den Autoritäten in Bayern und der Reichsregierung vollständig. Die bayerischen Behörden verweigerten offen die Befehle aus Berlin, und die bayerischen Reichswehreinheiten unterstellten sich der bayerischen Landesregierung und verweigerten die Annahme von Befehlen der Reichsleitung und der Reichswehr. Jeder Anschein einer demokratischen Regierung in Bayern wurde fallengelassen, als ein Triumvirat gebildet wurde. Für die Rechtsextremisten war Bayern die Keimzelle einer neuen Regierungsform, ein Vorbild für den Rest Deutschlands, das sie ebenfalls autoritär umgestalten wollten.

Die SPD forderte eine Intervention in Bayern, da dort offen gegen die Reichsregierung rebelliert wurde und die dortigen Akteure objektiv Hochverrat begingen. Sowohl der Befehlshaber der Reichswehr, von Seeckt, als auch Stresemann lehnten eine solche Intervention jedoch ab. Stresemann aus Furcht vor den rechtsextremistischen Kräften in Deutschland und Seeckt, weil er nicht zu Unrecht davon ausging, für eine solche Operation nicht die Loyalität der Reichswehr zu besitzen. Für demokratisch gesinnte Kräfte wiederholte sich hier das Drama des Kapp-Putsches von 1920.

Diese Ereignisse standen, wie in Kapitel 5 dargelegt wird, in schroffem Gegensatz zu den Geschehnissen in Sachsen und in abgeschwächtem Ausmaß zu Thüringen. Beide Krisen standen in einem Wechselverhältnis zueinander und reagierten gleichsam aufeinander. Die unverhohlene Drohung aus Bayern, als Keimzelle eines neuen rechtsgerichteten autoritären Regimes zu dienen und von dort nach dem Vorbild Mussolinis 1922 einen Marsch auf Berlin anzuführen, beunruhigte sämtliche linksgerichteten Kräfte, ob demokratisch oder kommunistisch. Je mehr also in Bayern eine Ablösung von der Republik und ein offener Putsch gegen die demokratische Regierungsform stattfanden, desto mehr sahen die Linken in Mitteldeutschland eine Notwendigkeit für Gegenmaßnahmen - notfalls auch gegen Berlin.

Für mich ist auffällig, dass nur wenige der Beteiligten aus den Ereignissen von 1918 bis 1920 gelernt hatten. Weder hatten die bürgerlichen Kräfte erkannt, dass die rechtsextremistischen Revolutionäre nicht ihre besten Interessen im Kopf hatten und dass die Wiederherstellung einer Monarchie eine illusorische Vorstellung war, die von diesen nicht geteilt wurde (auch wenn Hitler, opportunistisch wie stets, gegenüber diesen Kräften gerne den Eindruck erweckte). Noch hatten die Linken begriffen, dass sie weder über den nötigen Massenrückhalt in der Gesellschaft verfügten, noch über die Mittel, um eine bewaffnete Auseinandersetzung mit den Rechten zu führen, die im Zweifel stets die Unterstützung der bewaffneten Organe genießen würden. So trieben die Rechtsbürgerlichen phlegmatisch und die Linksradikalen illusorisch in eine halbe Katastrophe hinein.

Sachsen wurde 1923 von der SPD regiert. Nach dem Bruch ihrer letzten Koalition mit dem Zentrum und der DdP, einer Art letztem Hurra der Weimarer Koalition, war sie eine Minderheitenregierung, die sich zunächst auf ihre alten Bündnispartner, aber zunehmend auf die KPD stützte. Dies wurde möglich, weil die KPD über internationale Anweisungen aus Moskau verfügte. Die neue Losung lautete, dass eine Zusammenarbeit mit der SPD in einer Koalition der beste Weg sei, um einen proletarischen Aufstand mit Mitteldeutschland als Keimzelle zu beginnen. Das Ziel war ein bewaffneter Aufstand zur Auslösung einer Revolution. Diese Strategie basierte auf einer krassen Fehleinschätzung der Zustände in Deutschland seitens der KPD-Führung, die von den deutschen Kommunisten willfährig unterstützt und mit übertrieben rosigen Berichten aus Deutschland gestärkt wurde. Im Spätsommer 1923 trat daher eine SPD-KPD-Koalition in Sachsen auf den Plan.

Ihr großes Projekt waren die sogenannten proletarischen Hundertschaften. Diese freiwilligen Verbände sollten einen Gegenentwurf zu den bayerischen Freikorps darstellen und als bewaffnete Verbände einen rechtsgerichteten Putsch aufhalten. Die KPD sah sie gleichzeitig als Keimzelle einer neuen, revolutionären Armee. Die Entwicklung sollte im ebenfalls links regierten Thüringen eine Entsprechung finden. Auch diese Hoffnung erwies sich als illusorisch. In jedem Fall waren die proletarischen Hundertschaften weder die Keimzelle für eine zukünftige Armee - sie besaßen niemals die Massenverankerung in der Gesellschaft, die hierfür nötig gewesen wäre - noch besaßen sie auch nur annähernd die notwendige Ausstattung, um es auch nur mit den Freikorps, geschweige denn der Armee aufzunehmen.

An dieser Stelle wurde der unglaubliche Doppelstandard der Weimarer Republik gegenüber dem Linksradikalismus frappant deutlich: Bereits im Vorfeld der Koalitionsgespräche zwischen SPD und KPD mangelte es nicht an expliziten Warnungen aus der Reichsregierung, dass man nicht bereit sei, eine Regierungsbeteiligung der KPD zu tolerieren. Dabei handelte es sich um einen glatten Verfassungsbruch, da die Reichsregierung keinerlei Einfluss auf die Regierungsbildung der Länder nehmen durfte. Dies störte jedoch praktisch niemanden, auch nicht die SPD in Preußen oder Reichspräsident Ebert. Nachdem die Koalition gebildet worden war, forderte das Reich den Rücktritt des SPD-Ministerpräsidenten und die Auflösung der Koalition mit der KPD.

Als dies nicht geschah, verhängte die Regierung den Ausnahmezustand über Sachsen, setzte den Reichswehrminister Dreßler als Sonderbevollmächtigten ein und setzte die Regierung ihrerseits ab. Zu diesem Zeitpunkt war die sächsische SPD grundsätzlich bereit, die Koalition mit der KPD aufzukündigen, aber nicht zur Opferung ihres Vorsitzenden und zur Erfüllung sämtlicher Forderungen. Sie befürchtete einen Präzedenzfall, der es rechtsgerichteten Kräften im Reich später ermöglichen würde, auch gemäßigte SPD-regierte Länder wie Preußen mittels eines solchen Putsches unter autoritäre Kontrolle zu stellen. Im Hinblick auf die Ereignisse von 1932 (Preußenschlag) sollten sich diese Warnungen als prophetisch herausstellen. Ebert jedenfalls ließ sich von der frappanten Illegalität dieser Ereignisse nicht abhalten und gab dem Ganzen seinen reichspräsidialen Segen.

Zum Glück für sämtliche Beteiligten hieß der Reichskanzler in diesem Fall nicht von Papen, sondern Stresemann. Während Dreßler darauf und daran war, die komplette sächsische Landesregierung auseinanderzunehmen und das Land unter die Herrschaft der Reichswehr zu stellen, um eine vollständige Neuordnung unter Ausschluss auch linksdemokratischer Elemente durchzusetzen, zog Stresemann eine rote Linie. Trotz seiner grundsätzlich eher rechtsgerichteten Instinkte, wie sie sich in seinem Zögern gegenüber Bayern oder beim Abblasen des Ruhrkampfes zeigten, werden hier die grundsätzlichen Qualitäten der Person Stresemann einmal mehr deutlich, die den unschätzbaren Verlust seiner Person durch seinen frühzeitigen Tod 1929 deutlich machen und bis heute kontrafaktische Szenarien befeuern, was die weiteren Ereignisse am Ende der Republik angeht.

Während die SPD sich in das Unvermeidliche fügte, plante die KPD entsprechend ihren Befehlen aus Moskau den bewaffneten Aufstand mit Sachsen als Keimzelle. In einem seltenen Anfall von Rationalität mussten die Beteiligten jedoch erkennen, dass ihnen jeglicher Rückhalt in der Bevölkerung fehlte und das Projekt zum Scheitern verurteilt war. Entsprechend brachen die oberen Ränge der KPD den Aufstand kurz vor Zwölf ab. Einzig die KPD in Hamburg widersetzte sich diesen Anweisungen und begann den Aufstand aus eigener Initiative, der für einige Tage die Republik in Atem hielt, aber erwartungsgemäß von der Reichswehr niedergeschlagen wurde. Diese Ereignisse führten zu einer Machtverschiebung im Politbüro der KPdSU, wo es Stalin gelang, Trotzki die Schuld für das Debakel in die Schuhe zu schieben und so an Statur zu gewinnen und seine Machtübernahme im darauffolgenden Jahr vorzubereiten. Das Jahr 1923 in Deutschland hatte somit auch deutliche Konsequenzen für die internationale Politik.

In Sachsen musste Dreßler sich auf Anweisung aus Berlin zurückziehen, und die SPD bildete erneut eine Minderheitsregierung unter einem neuen Ministerpräsidenten. Der "rote Oktober" zeigt einmal mehr beunruhigende und für die Zukunft wenig vielversprechende Dynamiken der Weimarer Republik, die sich als unfähig erwies, die rechtsextremistische Gefahr genauso effektiv zu bekämpfen wie die linksextremistische. Gleichzeitig zeigte sich, dass es in der SPD starke Elemente gab, die den mangelnden Rückhalt bei demokratischen Wahlen nur allzu gerne durch revolutionäre Bestrebungen ausgleichen wollten und von der Einheit der Arbeiterklasse träumten.

Als hätte die Republik mit der Hyperinflation, der bayerischen Rechtsregierung, dem "roten Oktober" und dem Ruhrkampf nicht bereits genug Krisen zu bewältigen gehabt, brachten die Ereignisse auch noch separatistische Bestrebungen im Rheinland mit sich, auf die sich Ulrich im 6. Kapitel konzentriert. Das Rheinland, das größtenteils zu Preußen oder im Falle der Pfalz zu Bayern gehörte, fühlte sich beiden "Mutterländern" nicht besonders zugehörig. Stattdessen waren immer noch die alten republikanischen Ideale des napoleonischen Rheinbundes präsent, weshalb die Ruhrbesetzung für einige radikale Kräfte in der Region eine willkommene Gelegenheit zu sein schien, eine Neuordnung des Reichs vorzunehmen oder sogar eine Abspaltung durchzuführen.

Der prominenteste Vertreter einer Neuordnung war der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, der selbst schon als potenzieller Reichskanzler gehandelt worden war. Seine Vision war die Gründung eines westdeutschen Bundesstaates, der jedoch in die Reichsstruktur integriert sein sollte. Dies hätte eine Schwächung von Preußen und Bayern bedeutet, was ganz in seinem Interesse gelegen hätte, und seiner Heimatregion eine weitreichende Autonomie zugestanden, um ihre kulturellen und gesellschaftlichen Eigenheiten zu verteidigen. Wir werden später noch sehen, was aus diesen Plänen geworden ist.

Der extremistische Flügel dieser Bewegung waren die Separatisten selbst. Sie strebten eine Art Rheinbund 2.0 an, eine Neugründung eines anderen Staates, völlig unabhängig vom Deutschen Reich. Aus Sicht der Separatisten war dies die einzige Möglichkeit, eine Annexion durch Frankreich zu verhindern, während sie gleichzeitig die ungeliebte Oberherrschaft Preußens abschütteln wollten. Diese Separatisten hatten allenfalls geringen Rückhalt in der Bevölkerung, genossen jedoch die Unterstützung der Besatzungsmacht Frankreich, was ihre Bestrebungen unabhängig von ihrer personellen Stärke zu einer wesentlich größeren Gefahr machte, als es eigentlich gerechtfertigt gewesen wäre.

Die Putschversuche der Separatisten, die 1923 stattfanden, erwiesen sich jedoch schnell als Farce. In einer bemerkenswerten Parallele zum Kapp Putsch von 1920 scheiterten sie vor allem daran, dass sich die Beamten und andere Angestellte des öffentlichen Dienstes weigerten, den Anweisungen der Putschisten Folge zu leisten. Hätten die französischen Soldaten nicht die deutsche Polizei entwaffnet und so die Putschisten unterstützt, wäre der Aufstand noch schneller zusammengebrochen. So oder so war der Spuk innerhalb von Tagen vorbei. Dass die Putschisten nicht einmal in der Lage waren, ihre Aufstände zu koordinieren, trug zusätzlich zu ihrem Scheitern bei. In der Pfalz zeigte sich eine ähnliche Dynamik, jedoch spielte hier der lokale SPD-Chef Hofmann eine entscheidende Rolle. Er strebte keine Abspaltung der Pfalz vom Reich an, sondern von Bayern. Die Reichsregierung trat mit eiserner Entschlossenheit dagegen an, während sie andererseits die bayerischen Putschisten komplett unbehelligt ließ. Dabei bestand durchaus die Möglichkeit, gegen die Putschisten in der Pfalz vorzugehen, indem man die Pfalz von Bayern trennte. Am Ende erzwang das Reich, wenn auch anders als in Sachsen und ohne den Einsatz der Reichswehr, den Rücktritt Hofmanns und setzte einen weiteren Präzedenzfall für die Absetzung linksgerichteter Regierungen durch das Reich, während es gleichzeitig rechtsextremen Hochverrat in anderen Ländern tolerierte.

Ein dramatisches Ereignis jener Zeit war der Hitlerputsch. Unter den Rechtsradikalen in Bayern hatte die Stimmung ein fiebriges Allzeithoch erreicht. Hitler, der das Jahr 1923 noch als der "Trommler" der Bewegung auf der Suche nach dem lange angekündigten "Führer" begonnen hatte, gelangte im Verlauf des Jahres mehr und mehr zur Überzeugung, selbst dieser Mann zu sein, und instrumentalisierte seine Mitstreiter, allen voran Ludendorff, zu diesem Zweck.

Seine beständige Agitation mit seinem unbestreitbaren und in zahlreichen Quellen belegten Redetalent trieb ihm eine unglaublich große Anhängerschaft zu, setzte ihn aber zunehmend unter Zugzwang. Im November glaubte er nicht länger warten zu können und brach den Beginn des Putsches unvorbereitet überstürzt an. Den Unwillen des bayerischen Triumvirats, sich an einem solchen Putsch zu beteiligen, noch dazu unter Führung eines solchen Emporkömmlings wie Hitler, versuchte er eher durch Zwang zu überwinden, was genau so im Desaster endete wie der eigentliche Putschversuch.

Es war allerdings für Stresemann eine unangenehme Überraschung, dass das Scheitern dieses Putsches nichts an der Umsetzung der Befehle aus Berlin hing, sondern an jenem Unwillen des Triumvirats, daran teilzunehmen. Es waren bayerische Einheiten, die einen bayerischen Putschversuch stoppten, was erneut Schatten auf die Zukunft der Deutschen Republik warf. In der Folgezeit sollte sich Hitler im Hochverratsprozess als der alleinverantwortliche Märtyrer der deutschnationalen Sache hinstellen, eine Position, die ihm gegen Ende der 20er Jahre noch große Dienste leisten würde.

In Kapitel 7 wendet sich Ulrich dem Bruch der großen Koalition zu. Vor deren Ende gelang es der Koalition noch, endlich den Ruhrkampf abzubrechen. Dieses bereits seit Monaten unvermeidliche Ende hatte Stresemann noch einmal um 2 oder 3 Wochen hinausgezögert, in der illusorischen Hoffnung, doch noch Konzessionen von Frankreich erreichen zu können. Die Vorstellung, man könne damit in irgendeiner Art und Weise den rechten Entgegenkommen beziehungsweise die unvermeidliche Kritik abblocken, erwies sich wenig überraschend als unfundiert.

Der rechte Flügel der DVP hielt schließlich seinen Willen: Es gelang ihm, die SPD aus der Koalition zu drängen. Der Anlass war oft die Sozialpolitik. Genauso wie beim Bruch der großen Koalition 1930 stellte die DVP für die SPD unannehmbare Forderungen zum Beschneiden der Arbeitnehmerrechte, und wie 1930 sprang die SPD genau wie gewünscht darauf an, nahm den Fehdehandschuh auf und lud sich den Großteil der Schuld für den Bruch der Koalition auf.

Anders als 1930 gelang es dem rechten Flügel der DVP jedoch nicht, sein eigentliches Hauptziel durchzusetzen: die Errichtung einer autoritären Rechtskoalition unter Einbeziehung der DNVP. Es lag nicht an den Nationalliberalen. Es wurden Koalitionsangebote an die DNVP gerichtet, die jedoch derart überzogene Forderungen stellte, dass mit gutem Recht angenommen werden durfte, dass sie an einer Regierungsbeteiligung nachgerade nicht interessiert war und sich in der Opposition sehr wohl fühlte. Stresemann blieb so keine Wahl, als eine bürgerliche Minderheitenregierung zu bilden. Während seiner Kanzlerschaft verhinderte Stresemann eine Zerschlagung des sozialpolitischen Konsens noch weitgehend; sein Nachfolger Marx allerdings gab solche Zurückhaltung vollständig auf und sorgte so für einen deutlichen Rechtsruck in der Weimarer Republik und einen starken Macht- und Ansehensverlust auf Seiten der Gewerkschaften.

Der Sturz Stresemanns als Kanzler war letztlich auf eine parlamentarische Posse zurückzuführen. Es gelang ihm zwar, mit einer Kampfabstimmung in der Fraktion die eigene Partei zumindest nominell hinter sich zu versammeln, doch die KPD, DNVP und SPD kündigten alle Misstrauensvoten gegen ihn an. Stresemann versuchte, unter tatkräftiger Hilfe Eberts, das Misstrauensvotum der SPD zu verhindern und so seine Kanzlerschaft zu erhalten. Ebert versuchte, seine eigene Partei deutlich zu machen, dass ein erfolgreiches Misstrauensvotum für die SPD keinerlei strategische Vorteile haben würde – eine Ansicht, die durch die weiteren Ereignisse nur zu deutlich bestätigt wurde. Der Einfluss des linken Flügels allerdings war zu stark, und die SPD-Fraktion setzte ihren Plan durch, sodass Stresemann nicht zu halten war. Abgesehen vom erwähnten Rechtsruck änderte sich insgesamt recht wenig: Marx wurde Kanzler, Stresemann Außenminister, und 2 weitere Minister wurden ausgetauscht. Ansonsten blieb alles beim Alten.

In Kapitel 8 geht das Jahr 1923 dann langsam zu Ende. Noch unter Stresemann war die Umstellung auf die neue Währung, die sogenannte Rentenmark, erfolgt. Deren Bindung an das Gold, das ihr entgegengebracht Vertrauen sowie die Deckung durch die deutschen Vermögen und die Kürzungen im Sozialstaat und den Arbeitnehmerrechten erzeugten einen Austeritätszustand, der die Inflation effektiv beendete. Die Staatsfinanzen blieben zerrüttet, sodass einschneidende Reformen weiterhin notwendig waren. Angesichts der gewachsenen Macht des Unternehmerflügels konnte kein Zweifel daran bestehen, wen diese Reformen betreffen würden. Allerdings benötigte die Minderheitsregierung Marx hierfür ein neues Ermächtigungsgesetz. Ebert zwang seine Partei zur Annahme eines solchen, indem er mit liberalem Gebrauch des Artikels 48 drohte, sodass die SPD dieses Ansinnen mittrug. Ein weiteres Mal wurde so eine mangelndeparlamentarische Mehrheit durch exekutive Maßnahmen ausgehebelt. Es folgten erwartungsgemäß massive Einschnitte in die Sozialpolitik.

Zu den größten Inflationsverlierern gehörte die Beamtenschaft. Im Schnitt bekamen die Beamten nur noch 50% der vorkriegszeitlichen Bezüge bei um 150% gestiegenen Preisen (auf Stand Anfang 1924). Ihr ohnehin bestenfalls neutrales Verhältnis zur Weimarer Republik nahm dadurch massiven Schaden. Die Beamtenbezüge sollten sich bis zur Bundesrepublik nicht von diesem Schlag erholen.

Das Ende des Jahres 1923 brachte auch das Ende für die Separatisten des Rheinlands. Durch das Ende des Ruhrkampfs und das Ende der Ruhrbesetzung verloren sie ihre Beschützer in der französischen Armee, wurden schnell verhaftet oder anderweitig ausgeschaltet und als politischer Faktor beseitigt. Adenauer versuchte in Verhandlungen mit Stresemann sein Ziel eines Weststaates im Reichsverbund durchzusetzen, wurde aber von Stresemann kühl abgeblockt. Er erkannte pragmatisch die Zeichen der Zeit und gelobte, das Ziel künftig nicht weiter zu verfolgen.

In Kapitel 9 behandelt Ulrich einen Sektor, der in den Jahren 1919 bis 1923 anders als Gesellschaft, Politik und Wirtschaft tatsächlich einen Aufschwung erlebte: die Kultur. Die chaotische Zeit der frühen 20er Jahre und die allgegenwärtige Not beflügelten die Künstler und Künstlerinnen und sorgten für einen ungewöhnlich hohen Ausstoß an neuen und wagemutigen Produkten und schufen einen Markt, da eine deutlich erhöhte Nachfrage nach Zerstreuung bestand.

Diese Faktoren fielen mit der Ausbreitung eines neuen Mediums zusammen: dem Kino. Obwohl bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts grundsätzlich verbreitet, galt es bisher als ein Medium der Unterschicht. Erst nach dem Ersten Weltkrieg nivellierte sich das, und auch die höheren Schichten gingen ins Kino. Es half, dass ernsthafte Künstler und Künstlerinnen sich nun auch im Kino verwirklichten. Filme wie "Das Kabinett des Dr. Caligari" überzeugten selbst Menschen wie Victor Klemperer oder Kurt Tucholsky vom Potential des Lichtfilms. Nicht dass sämtliche Kinofilme oder auch nur ein Großteil dieses kulturellen Niveaus erreicht hätten – damals wie heute waren die meisten Kinoproduktionen billige Schnellschüsse für die breite Masse. Dazu kamen Propagandawerke deutschnationaler Gesinnung wie das vierteilige Epos "Fridericus Rex", das zu einem veritablen Kulturkampf führte.

Auch im Theater gab es einen Aufschwung an neuen Literaturen. Der Expressionismus fand seinen Weg auf die Bühne, politische Werke aller Farbschattierungen wurden produziert und aufgeführt, und auch reine Unterhaltungsware kam nicht zu kurz. Gemäß dem stets wiederholten Schlagwort "Je schlechter die Zeiten, umso besser die Witze" nahm auch das Kabarett, am prominentesten in Gestalt Karl Valentins, einen Aufschwung.

Auch das Theater erlebte einen wahren Aufschwung in der frühen Weimarer Republik. Neue Dramatiker wie Bertolt Brecht traten auf den Plan und stellten revolutionäre Konzepte für Theaterstücke vor (episches Theater). Dieser Aufschwung des Theaters stand in direkter Korrelation zur Bedeutung der Theaterkritik. Der unbestrittene König dieser Disziplinen war der Theaterjournalist Kaiser, aber auch in anderen Publikationen bildete die Theaterkritik das Kernstück des Feuilletons und den Höhepunkt des Ansehens. Karrieren wurden im Feuilleton und in der Theaterkritik gemacht und zerstört.

Auch literarisch tat sich in dieser Zeit einiges. Heinrich und Thomas Mann sowie Franz Kafka traten direkt in den frühen Jahren der Weimarer Republik auf und legten den Grundstein für späteren Nachruhm. Die wohl berühmteste Kunstrichtung ist der Dadaismus, der sich in seinem permanenten Provokationsstreben allerdings bald selbst überholte. Das Bauhaus war eine weitere sehr berühmte neue Strömung, aus der dann auch die Neue Sachlichkeit hervorging.

Auffällig ist die Gegenreaktion, die diese modernen Kunstströmungen auf sich zogen. Rechte Mobs versuchten Ausstellungen zu sabotieren, Veröffentlichungen zu verhindern und auf dem Gesetzesweg diese Kunst zu unterdrücken. Sie störten massiv Theateraufführungen und Kinovorführungen. Heute würde man vermutlich von "canceln" sprechen, wenn es nicht linke Künstler*innen getroffen hätte.

Im 10. Kapitel schließlich beendet Ullrich seine Darstellung mit einem Ausblick auf das Jahr 1924. Die Währung stabilisierte sich überraschend gut und schnell, während gleichzeitig in Großbritannien und Frankreich neue, linkere Regierungen an die Macht kamen, die wesentlich weniger unbeugsam und unflexibel im Umgang mit Deutschland waren. Zudem traten endlich die Amerikaner auf den Plan: Sie erzwangen Verhandlungen über neue Reparationsregelungen, für die Charles Dawes die Verantwortung übernahm. Diese Entwicklungen waren gut für Deutschland. 1924 trafen sich Repräsentanten der Amerikaner, Franzosen und Briten in London und verhandelten direkt über neue Reparationsmöglichkeiten. Später in diesem Prozess sollten auch die Deutschen eingeladen werden. Der Eingang der Ereignisse wurde beinahe durch den rechten Flügel der CVP torpediert, die regierende Koalition brach, um eine Mitregierung der DNVP zu erzwingen. Diese Entwicklung führte zu Neuwahlen, aus denen eine starke Mehrheit für die radikalen Ränder (KPD, DNVP und die völkische Rechte) hervorging, mit starken Verlusten für die SPD und die Liberalen. Bei den zweiten Wahlen 1924 relativierten sich diese Verluste zwar, die DNVP war jedoch damit deutlich gestärkt.

Das Ziel der Einbindung der Rechtsextremen in eine "Bürgerkoalition" konnte endlich erreicht werden, wenngleich die Rechtsextremisten wenig überraschend unsichere Kantonisten waren und die Regierung bald platzte, um dem altgewohnten bürgerlichen Minderheitskabinett Platz zu machen. Ulrich skizziert an dieser Stelle die politische Entwicklung der Weimarer Republik bis 1933, worauf er meiner Meinung nach besser verzichtet hätte. Aus solchen Ausblicken entsteht allzu schnell der Eindruck einer teleologischen Geschichtssicht, nach der alles unvermeidlich auf ein Ziel hinausläuft. Das Jahr 1923 sollte daher nicht als Ausgangspunkt einer letztlich unvermeidlichen Entwicklung gesehen werden. Das ist natürlich nicht Ullrichs Absicht, es ist eher eine sich durch die Struktur aufdrängende Interpretation.

Zum Schluss noch einige allgemeine Kommentare. Ich würde mir wünschen, dass die Darstellung in der Weimarer Republik, besonders ihre Frühzeit, ein wenig weg von der übermäßigen Nutzung der Aufzeichnungen von Harry Graf Kessler und Victor Klemperer kommen würde. So großartig diese auch sind und so intellektuell stimulierend ihre Einblicke sind, erwecken solche Darstellungen gerne den Eindruck, sie seien repräsentativ für das politische Klima jener Jahre. Gerade Kessler eignet sich hervorragend als Projektionsfläche für moderne Lesende, aber genau darin besteht eine große Gefahr. Dasselbe gilt für Victor Klemperer, der ebenfalls ein ungewöhnlich aufmerksamer und sensibler Beobachter seiner Zeit war. Oftmals wäre es besser, auf ein breiteres Quellenspektrum zurückzugreifen, egal wie geschliffen Kessler und Klemperer formulieren mögen.

Ein rein ästhetischer Fimmel meinerseits ist die Nutzung des Stilmittels der Inversion (z. B. "besonders betroffen von der Inflation war das Ruhrgebiet"). Ich bevorzuge schlichtweg die Positionierung von Verben an den "normalen" Stellen. Das soll nicht von der Qualität ablenken, die Ullrichs Darstellung offenkundig hat. Es ist lediglich ein kleiner Wermutstropfen. Etwas mehr stört mich dagegen, dass das Gewicht deutlich auf der Darstellung liegt. Zwar analysiert Ulrich auch viel und ordnet ein, aber an einigen Stellen hätte ich mir eine klarere Positionierung des Autors und eine weitergehende Analyse der Ereignisse, Lösungen und eingeschlagenen Pfade gewünscht. Auch Alternativen kommen in meinen Augen ein wenig zu kurz und tragen so zum teleologischen Gesamtbild bei.

Insgesamt allerdings kann ich das Werk trotz dieser kleinen Mängel sehr empfehlen. Es liest sich sehr angenehm (von den Inversionen abgesehen) und hatte für mich diverse neue Dinge zu bieten. Die Darstellung des Jahres 1923 gelingt sehr gut und vermittelt einen ganzheitlichen Eindruck, der den Hitler-Putsch und die Hyperinflation nicht übermäßig betont, sondern durch zahlreiche andere Ereignisse in einen Kontext stellt.

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