Michael S. Neiberg - When France fell. The Vichy Crisis and the Fate of the Anglo-American Alliance (Hörbuch)
Nur wenige Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sind so mythenumwittert wie der Fall Frankreichs 1940. Innerhalb von nur 6 Wochen wurde die französische Armee, die von vielen Beobachtern als die stärkste des Kontinents eingeschätzt wurde, vollständig besiegt. Das Land, dass während des Ersten Weltkrieges unter ungeheuren Opfern für vier Jahre erbittert Widerstand gegen die Deutschen geleistet und am Ende siegreich aus dem Konflikt hervorgegangen war, hielt sich kaum länger als das kleine, bedrängte Polen. Die deutsche Propaganda stilisierte den Feldzug zu einem erfolgreichen „Blitzkrieg“, was zwar mit der Realität wenig zu tun hatte, sich aber gut verkaufen ließ. Ironischerweise galt dasselbe für die Alliierten, die durch die Betonung des Blitzkriegmythos ihre eigenen Fehler vergessen machen und eine bequeme Erklärung für das Debakel geben konnten.
Neiberg beschäftigt sich allerdings nicht mit der militärischen Dimension der französischen Niederlage, sondern ihrer politischen. Auch hier gab es zahllose Mythen und absurde Fehleinschätzungen, die jedoch heute weitgehend vergessen sind. Der Autor fasst den Fall Frankreichs in den Kontext angelsächsischer Außenpolitik, indem er vor allem den USA einen merkwürdigen, schlechten Umgang mit der Vichy-Regierung vorwirft. Die Briten, die von Beginn an auf das Pferd Charles de Gaulle setzten, kommen da vergleichsweise besser weg. Ich will im Folgenden Neibergs Argumentation nachzeichnen und überprüfen, inwieweit seine Bewertungen tragfähig sind.
In der Einführung, „A Fight for Love and Glory”, skizziert er die grundsätzliche These seines Buchs: der Fall Frankreichs hab für die amerikanische Außenpolitik einen größeren Schock bedeutet und stärkere Veränderungen hervorgerufen, als dies bei Pearl Harbor der Fall gewesen sei. Diese erstaunliche These leitet sich aus dem amerikanischen Isolationismus ab: nach dem Ersten Weltkrieg hatten die USA sich zurückgezogen und ihre Armee wieder demobilisiert, so dass sie 1940 militärisch ungefähr vergleichbar mit dem Niveau Portugals waren. Sie waren der Überzeugung, wieder starke Armee noch Flotte zu bedürfen, weil die internationale Ordnung ihnen diese Aufgabe abnahm.
Diese internationale Ordnung war das System multipolarer Verträge und Abkommen im Rahmen des Völkerbundes komme dass die Gefahr eines neuerlichen Angriffskrieges seitens Deutschlands einhegte. Der Garant dieser Einhegung war Frankreich, das natürlicherweise das größte Interesse daran haben musste und beständig eine starke Armee unterhielt. Diese Armee war quasi der Sicherheitsanker der USA. Auch wenn Neiberg es nicht sagt, drängt sich für mich doch der Vergleich mit der Situation in der Nato heute auf. Die USA waren in den 1920er und 1930er Jahren effektiv Trittbrettfahrer der französischen Militärausgaben, was die Franzosen zwar durchaus sahen und mit Forderungen nach amerikanischem Engagement zu begegnen versuchten, worauf sich die Amerikaner aber nicht einließen, weil sie kostenlos bekamen, wofür die Franzosen Beiträge wollten. Überspitzt ausgedrückt genossen die Amerikaner in dieser Zeit die Friedensdividende.
Man ging davon aus, dass die französische Armee, so sie nicht ohnehin der Deutschen überlegen war, in jedem Falle so lange aushalten würde, bis die britische und amerikanische Armee mobilisiert war. Die allgemeine Annahme war also, Zeit zu haben, jene wichtigste Ressource, deren Fehlen stets den Untergang bedeutet. Entsprechend brach in Washington im Sommer 1940 blanke Panik aus, als Ausmaß und Geschwindigkeit der französischen Niederlage deutlich wurden. Personen wie der spätere Spitzendiplomat Byrne wandelten ihre Position radikal um 180 Grad von einer isolationistischen Vorstellung, man könne sich heraushalten und eine Art Friedensvertrag zwischen den Alliierten und Deutschland vermitteln, zu dem Durchpeitschen nie dagewesener Militärausgaben im Kongress.
Der eigentliche Fall wird dann in Kapitel 1, “We’ll always have Paris: The Nazis march in”, thematisiert. Bekanntlich hatte sich Frankreich hinter der Maginotlinie verschanzt. Diese hatte einen gigantischen Teil der französischen Verteidigungsausgaben verschlungen; tatsächlich hatte die Dritte Republik mehr für diese Linie ausgegeben als Großbritannien für seine Flotte! Das gängige Narrativ ist, dass diese defensive Anlage die Mentalität der Franzosen entscheidend beeinträchtigt habe und grundsätzlich militärisch sinnlos gewesen sei. Zwar wird diese Position von Neiberg nur im Konjunktiv wiedergegeben - als etwas, das sich damals schnell als angenehmes Narrativ herausstellte - aber er verpasste es an dieser Stelle, die Geschichte geradezurücken.
Die Geschichte des deutschen Vorstoßes ist sattsam bekannt und soll hier nicht wiederholt werden; relevant ist die Reaktion der französischen Eliten: einige zogen sich in eine Art Wiederholung von 1870 nach Bordeaux zurück oder schifften sich nach Algerien aus, um den Kampf von dort fortzusetzen. Hier endeten die Parallelen allerdings: die Regierung informierte die Bevölkerung nicht über den aktuellen Stand, so das allerlei Gerüchte keine Panik produzierten, die dazu führte, das acht Millionen Flüchtlinge die Straßen verstopften und eine humanitäre Katastrophe anbahnten. Gleichzeitig waren die Spitzen des Militärs nicht bereit, den Kampf fortzusetzen und traten entschieden für Waffenstillstandsverhandlungen ein.
Zu diesem kam es dann hauptsächlich, weil der alte Marschall Pétain mit all seinem Prestige aus dem Ersten Weltkrieg die Macht im Land übernahm und den Vertrag verhandelte. Neiberg Beschreibt hier dieses Prestige als eines des Meisters der Verteidigung und des Vermeidens unnötiger Verluste, was für diesen Moment wie maßgeschneidert war. Weniger für den Moment maßgeschneidert allerdings waren die politischen Fähigkeiten Pétains. Genauso wie viele andere Funktionäre der späteren Vichy -Regierung, allen voran Lavalle, war er der Überzeugung, dass die Niederlage letztlich nur auf innere Faktoren zurückzuführen war. Diese Faktoren waren einerseits die Kommunisten und Sozialisten, die in den Worten Lavalles eine fünfte Kolonne der Deutschen gewesen seien (eine völlig absurde Verschwörungstheorie) und andererseits der als korrupt wahrgenommene Parlamentarismus mit seiner säkularen Trennung von Staat und Kirche. Die Rechtsradikalen hofften darauf, aus der Asche der Niederlage ein neues, stärkeres Frankreich entstehen zu lassen, das eine Art Juniorpartner Deutschlands in der neuen Weltordnung darstellen könnte.
Den Sieg der Wehrmacht betrachten sie als beschlossene Sache. Die größte Debatte der Kollaborateure war, ob Großbritannien drei oder fünf Wochen würde durchhalten können. ihre Vorstellungen waren völlig fantastisch und hat nichts mit dem real existierenden Deutschen Reich zu tun, das ihnen am Verhandlungstisch gegenüber saß. Die Ironie der Angelegenheit ist für mich, dass der große Fehler Vichys war, anzunehmen, dass die Nazis ein rationaler Akteur wären: wäre dies der Fall gewesen, so wären die Annahmen Vichys vermutlich gar nicht verkehrt gewesen. Es bleibt für mich immer wieder beeindruckend, wie sehr sich die Nazis selbst damit ins Knie schossen, keinerlei Diplomatie zu betreiben und niemanden als Bündnispartner anzuerkennen. Man muss sich an diesem Punkt auch immer wieder klarmachen, dass wir die ganze Geschichte normalerweise vom Ende her denken. Im Sommer 1940 war aber keinesfalls absehbar, wie der Krieg enden würde.
So wurde Frankreich in die bekannten zwei Zonen aufgeteilt: den Bogen entlang der Atlantikküste, den die Deutschen kontrollierten, und den von Vichy kontrollierten Rest. Die Fiktion, das Vichy eine Souveränität bewahren könnte, ist für Neiberg unbegreiflich. Gleichzeitig ist beeindruckend, in welchem Ausmaß ihnen politische und ideologische Streitigkeiten durch die Niederlage hindurch weiter existierten. Ein nicht unerheblicher Teil der französischen Entscheidungsträger betrachtete die Aussicht eines britischen Sieges als ähnlich schlecht wie die eines Deutschen und hegte tief verwurzelte anti-britische Ressentiments. Gleichzeitig bestand eine obsessive Furcht vor den Kommunisten und Sozialisten und der Dritten Republik im Allgemeinen, die man zu bekämpfen hoffte. Als die Niederlage der französischen Armee nicht mehr zu leugnen war, wandte sich diese nach innen, um imaginäre kommunistische Aufstände zu bekämpfen. dringend benötigte Munition wurde zurückgehalten, um diese Aufgabe nachkommen zu können. Szenarien einer Neuauflage des Aufstands der Kommune 1871 geisterten durch die Vorstellungen der Entscheidungsträger. beides fand sich auch in den USA: auch dort gab es starke anti-britische Ressentiments und irrationale Furcht vor den Sozialisten, die eine anfängliche Sympathie für Vichy stark begünstigten: wie so häufig bevorzugten die Amerikaner eine rechte Diktatur vor einer linken Demokratie.
In Kapitel 2, “A Hill of Beans in this Crazy World: America’s new insecurity”, geht Neiberg mehr auf die Auswirkungen des Falls Frankreichs auf die amerikanische Sicherheitspolitik ein. Seine These, dass dieses Ereignis entscheidend gewesen sei, verfolgt er anhand des republikanischen Parteitags 1940: die isolationistischen Kandidaten, allen voran der Favorit Robert Taft, verloren überraschend gegen Wendel Wilkey, der eine wesentlich größere Bereitschaft erkennen ließ, ein Aufrüstungsprogramm und eine aktivere Europapolitik durchzusetzen. Der Sieg Wilkeys bedeutete einen neuen Konsens in der amerikanischen Innenpolitik: zum ersten Mal erhielt Roosevelt Standing Ovations von beiden Parteien im Kongress für eine außenpolitische Grundsatzrede. Die drastische Steigerung der Verteidigungsausgaben war beschlossene Sache und wurde in gigantischem Umfang durchgesetzt. Dieser Umfang war beeindruckend: bei einem Gesamthaushalt von neun Milliarden wurde ein Ausgabenprogramm von 12 Milliarden aufgelegt, das das Militär von einer Friedenstruppe mit rund 250.000 Mann in eine von vier Millionen verwandeln sollte. Dazu gehörte auch die Einführung der Wehrpflicht in Friedenszeiten, eine für die USA präzedenzlose Maßnahme. Die Aufrüstung lief also bereits anderthalb Jahre, als die Japaner Pearl Harbor angriffen.
Die amerikanischen Befürchtungen kaprizieren sich auch stark auf die Rolle der französischen Kolonien, besonders Martinique. Sie befürchteten, dass von hier ein Angriff auf die westliche Hemisphäre gestartet werden könnte. Angesichts der Schwäche der amerikanischen Armee, die sich zur Abschreckung bislang auf die französische verlassen habe, wäre ein solcher Angriff verheerend. Neiberg sagt leider nichts dazu, wie realistisch diese Befürchtungen tatsächlich waren (nur dass sie in Washington sehr real waren), aber ich kann mir nicht vorstellen, das selbst im Best-Case-Szenario für die Deutschen mit einer Übernahme der französischen Flotte und eventuell einem aktiven Bündnis mit Vichy geht ein Angriff über den Atlantik möglich gewesen wäre.
In diesem Kontext ordnet er dann auch den sogenannten „Basen für Zerstörer“-Deal ein, bei dem die USA Großbritannien 50 alte und militärisch weitgehend nutzlose Zerstörer überließen und dafür Basennutzungsrechte erhielten. Für die USA war dieser Deal sehr bedeutsam, weil er ihnen eine Absicherung gegen mögliche Nutzungen einer Atlantikflotte der Achsenmächte deutlich vor den amerikanischen Küsten ermöglichte. Für die Briten war er wichtig, weil er die USA mit Großbritannien verband und einen Präzedenzfall für weitere Waffenlieferungen schaffte, wie sie ja dann mit dem Lend-Lease-Abkommen auch zeitnah folgen sollten. Gleichzeitig verbesserte sich das Bild Großbritanniens in den USA: sie galten nicht mehr als der bald besiegte auf hoffnungslosen Posten kämpfende Verlierer, sondern als der tapfere Held im Kampf gegen das Böse, wofür besonders die Berichterstattung von Edward Murrow verantwortlich war.
Die französische Flotte war ein Hauptaugenmerk sowohl von Briten als auch Amerikanern. Die Deutschen besaßen offensichtlich keine Hochseetaugliche Flotte, die die USA bedrohen konnte. Die Franzosen allerdings besaßen die drittgrößte weltweit. Fiele sie in deutsche Hände, würde dies das Machtgleichgewicht massiv verändern. Zwar machten die Deutschen keine Anstalten und versicherte Vichy, die Flotte nicht herauszugeben, doch das beruhigte niemanden. Die Briten entschlossen sich daher, nachdem der französische Flottenkommandant in Mers-al-Kabir ein Ultimatum zur Neutralisierung der Flotte ausgeschlagen hatte (aus Gründen eines idiotischen, anachronistischen Ehrenkodex‘), die französische Flotte in einer Art Überraschungsangriff zu zerstören.
Dieser Angriff vergiftete die britisch-französischen Beziehungen massiv und war ein Propaganda Geschenk für die Deutschen. Strategisch erreichte er allerdings das Ziel, die französische Flotte zu neutralisieren mit und so jede Gefahr eines deutschen Zugriffs auszuschließen. Die USA bedrohten gleichzeitig Vichy diplomatisch damit, ihren Kolonien zur Unabhängigkeit zu verhelfen, wenn diese militärisch nicht strikt neutralisiert blieben.
Der letzte diplomatische Aspekt jener Tage betraf die Person Charles de Gaulle. Die Briten erkannten ihn als legitime Regierung Frankreichs im Exil an, während die USA Vichy anerkannten. De Gaulle es war ein schwieriger Charakter, den die Briten hauptsächlich deswegen ertrugen, weil er ihnen so nützlich war. Gerade mit den Amerikanern allerdings stieß er beständig zusammen. Einen ersten Beweis seiner Fähigkeiten und seines Wertes erbrachte er, als der Tschad als erste französische Kolonie offen die Seiten wechselte und sich zum „freien Frankreich“ bekannte.
Kapitel 3, “No Good at Being Noble: The Vichy Quandry”, vertieft den Blick auf das diplomatische Chaos jener Tage. Die Regierung in Vichy war improvisiert und hatte keinerlei Verbindungen mehr, was es dem Ausland ungeheuer schwer machte, die Lage korrekt einzuschätzen.
Die Regierung um Lavalle und Pétain selbst erwartete eine baldige Niederlage Großbritanniens und eine allgemeine Friedenskonferenz, auf der sie ihre Souveränität zurückerhalten und ihre Rolle im neuen Europa definieren würde. Die Erwartung war, Elsass-Lothringen wieder zu verlieren, ansonsten aber Großmacht auf Augenhöhe bleiben zu können - eine geradezu lächerliche Verschätzung der realen Lage und der Natur des Nazi-Regimes. Die Bereitschaft der Franzosen, als Kollaborateure auf einer gleichwertigen Basis mit der neuen deutschen Vorherrschaft zu kooperieren, ist allerdings bemerkenswert und zeigt einmal mehr die idiotische deutsche Diplomatie beziehungsweise das komplette Fehlen einer deutschen Diplomatie.
Es war gerade diese Kollaboration, die die USA so sehr fürchteten. Roosevelt kommunizierte den Franzosen in eindringlicher Offenheit auf der Weltbühne, dass eine solche Kollaboration von den USA als extrem unfreundlicher Akt betrachtet und entsprechend beantwortet werden würde. Dass die Nerven in der Anglosphäre so blank lagen, lag auch an einem weiteren Horrorszenario: eine Kooperation zwischen Vichy und Franco. Eine solche würde die britische und damit direkt verbunden auch die amerikanische Sicherheit entscheidend bedrohen und damit das Tor für eine Dominanz der Achsenmächte in Nordafrika öffnen. Die kanarischen Inseln könnte dann als ein weiteres Sprungbrett in die Karibik und die westliche Hemisphäre generell dienen. Es ist beeindruckend, wie geostrategisch sowohl die Briten als auch die Amerikaner im Vergleich zu den Deutschen dachten, die nicht einmal auf eine solche Idee kamen. Es zeigt einmal mehr, wie hirnverbrannt der gesamte Krieg von deutscher Seite aus war. Zu dieser Thematik siehe auch Dan Diner – Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942 (hier rezensiert).
Auf französischer Seite war die zentrale Figur in den nun folgenden diplomatischen Schachzügen General Weygand. Seine gesamte Biografie war äußerst mysteriös - er hatte unklare, aber sicher prominente Eltern, baute im Ersten Weltkrieg seine Kontakte zu den USA aus, war militärisch brillant, erzkonservativ und deswegen als potenzieller Putschist gefürchtet -, aber er hatte eine Armee von 100.000 Mann in Algerien aufgebaut, die angesichts der geringen Truppenstärken dort 1940 das Zünglein an der Waage spielen konnte (und natürlich wieder Fantasien von Angriffen über den Atlantik befeuerte).
Die USA sendeten eine ähnlich schillernde Figur, William Donovan, auf eine weiterhin publizierte Reise durch das mediterrane Europa, die sowohl Vichy als auch Berlin geradezu in Panik dazu brachte, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit diese beiden Männer sich nicht treffen konnten. Donovan reiste zuerst auf den Balkan, wo er versuchte, eine antideutsche Front herzustellen. Beeindruckend ist, mit welcher Offenheit er die amerikanischen Überlegungen darlegte: er versprach den Balkanstaaten, dass die USA alles tun würden, um Großbritannien im Krieg zu halten, und dass dies wiederum ihre eigene Sicherheit gegenüber den Achsenmächten garantiere. Obwohl die USA Ostentativ noch neutral waren, bestand in der amerikanischen Politik für niemanden mehr ein Zweifel daran, dass das Land auf absehbare Zeit nach einer Aufrüstungsperiode immer aktiver in den Krieg eingreifen würde. das beständige Mysterium der deutschen Kriegserklärung an die USA (siehe hierzu auch Brendan Simms/Charlie Laderman – Hitler’s American Gamble: Pearl Harbor and Germany’s March to Global War (Hörbuch) (hier rezensiert)) findet hierin wohl ein weiteres Puzzlestück.
Der letzte Aspekt der diplomatischen Verwicklungen jener Tage war die britische Blockade. Genauso wie im Ersten Weltkrieg war ein zentraler Aspekt britische Strategie, die Versorgungslinien in das Deutsch besetzte Europa durch eine maritime Blockade abzubrechen. Nach Mai 1940 betraf diese Blockade auch Frankreich. Die britische Befürchtung war, nicht zu Unrecht, dass die Deutschen jegliche französischen Ressourcen für ihre eigenen Zwecke beanspruchen würden. Da genau dies geschah, stand Frankreich bereits Ende des Jahres kurz vor einer Hungersnot.
Wie in allen anderen Fällen verfolgten die Amerikaner eine andere außenpolitische Linie gegenüber Vichy. Sie hofften, durch ein Offenhalten der diplomatischen Kanäle und punktuelle Zusammenarbeit ein Zusammengehen von Vichy mit Deutschland verhindern zu können. Entsprechend organisierten sie humanitäre Hilfen, die vor allem über Nordafrika liefen (um Weygand zu becircen) und die die Briten zwar heftigst ablehnten, aber mit Blick auf ihre eigene Abhängigkeit von den USA zähneknirschend zuließen.
In Kapitel 4, “We Mustn’t Underestimate American Blundering: Britain’s Imperial Insecurity”, standen die USA dann vor den Trümmern ihrer Frankreichpolitik. Die ständigen unübersichtlichen Machtkämpfe in der Vichy-Regierung führten zum Aufstieg Darlains, der noch mehr als Lavalle und Pétain auf einen deutschen Sieg und auf deutsche Kooperation baute. Als im Irak der Druck auf die Briten durch den Putsch 1941 stieg, war Frankreich einmal mehr entscheidend: da wegen des Sykes-Picot-Abkommens Syrien unter französischer Kontrolle war und die verbündeten Italiener sich gerade anschickten, Ägypten zu attackieren, schien ein Zangenangriff (besonders unter Zuhilfenahme der gefürchteten französischen Flotte) denkbar und würde das britische Reich im Nahen Osten völlig zerstören, die Verbindungslinie über Suez in den Indischen Ozean kappen und so nicht nur Desaster für Großbritannien, sondern auch für die Sicherheitssituation der Vereinigten Staaten bedeuten. Es zeigte sich, das sowohl die Amerikaner ihre Beziehungen zu Vichy als auch Vichy seine Beziehungen zu den USA komplett falsch eingeschätzt hatte.
Trotzdem war die amerikanische Diplomatie unter Cordell Hull und Botschafter Leahy nicht bereit, ihr Scheitern einzugestehen. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion wirkt er als ein weiterer Sargnagel. Darlain war nun der Überzeugung, dass einerseits an einem deutschen Sieg und andererseits an einer ideologischen, antikommunistischen Front kein Weg mehr vorbeiführe und dass die USA das hier sicher genauso sehen mussten. Die antibritischen Ressentiments verbunden mit einem tief verwurzelten Antikommunismus beförderten die Kollaboration Vichys, das auch begann, scharfe antijüdische Gesetze einzuführen. Die Reaktion der amerikanischen Diplomatie darauf: Leahy versuchte, Ausnahmen für amerikanische Juden in Nordafrika zu erreichen.
Das Scheitern der amerikanischen Politik bezüglich Vichy wurde offenkundig, als mit Pearl Harbor und der folgenden deutschen Kriegserklärung die USA direkte Kriegspartei wurden. Für Darlain und Lavalle war die Konsequenz, sich noch näher an Deutschland zu orientieren und Angebote für eine Art von Bündnis zumindest in Nordafrika zu machen, die von Göring in typischer Nazi-Arroganz mit einem Gebrüll über „die Franzosen müssen lernen, werden Krieg gewonnen hat“ beantwortet wurden und die Qualität der deutschen Diplomatie einmal mehr vor Augen führten.
Gleichwohl hatten die USA ein Problem: die deutschen Erfolge in Nordafrika 1941 waren sehr besorgniserregend und die Sowjetunion schien auch nicht gerade lange durchhalten zu können. Als Vichy in Marokko neue Flughäfen baute, deren Landebahnen viel zu lang für die zur Verfügung stehenden Flugzeuge waren, die aber deutschen viermotorigen Bombern den Flug nach Martinique erlauben könnten, klingelten wieder alle Alarmglocken (mit unserem Wissensstand ist es natürlich amüsant, da wir wissen, dass die deutsche Rüstungsindustrie notorisch unfähig war, diesen wichtigen Flugzeugtyp zu produzieren). Für die USA galt es nun, die Politik gegenüber Vichy grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen.
In Kapitel 5, “They’re Asleep in New York: The Allies look for Answers”, sehen wir dann wieder einmal, wie innenpolitische Erwägungen der Außenpolitik im Weg stehen können. Als Charles de Gaulle einige strategisch völlig irrelevante Inseln vor der Küste Quebecs für das freie Frankreich übernahm, was in der alliierten Welt für Begeisterungsstürme sorgte, plädierte er voller Einsatz dafür, eine Rückgabe der Inseln an Vichy zu erzwingen. Das war nicht nur angesichts der erst eine Woche zurückliegenden Attacken auf Pearl Harbor ein merkwürdiger Fokus seiner Aufmerksamkeit, sondern auch fundamental gegenläufig zur öffentlichen Meinung in den USA, die sich bereits seit Monaten gegen Vichy gewandt hatte. Die Politik jetzt aber zu ändern würde das öffentliche Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Politik bedeuten, wozu Hull nicht bereit war.
Die Amerikaner sahen sich einem weiteren Problem ausgesetzt: sie konnten de Gaulle auf den Tod nicht ausstehen, hatten massives politisches Kapital und Zeit in die Etablierung von Beziehungen zu Vichy gesteckt und mussten sich mit den Briten koordinieren. Da sie die Freien Franzosen de Gaulles nicht als Option betrachteten, brauchte es eine Alternative. Die Hoffnung war, diese in Giraux zu finden, einem antideutschen General mit hollywoodreifer Persönlichkeit.
Die Amerikaner etablierten ein extrem leistungsfähiges Spionagenetzwerk in Nordafrika, das neben der Schätzung französischer militärischer Fähigkeiten in der Region die politische Lage sondieren und Verbindungen zu Giraux herstellen sollte. Gleichzeitig erhielt man den Versuch aufrecht, einen Kanal zu Weygand zu schaffen. Letzteres scheiterte vollständig: Weygand bekannte sich öffentlich zu Pétain und entwich allen amerikanischen Kontaktversuchen. Giraux auf der anderen Seite war eine schlüpfrige Persönlichkeit, auf die sich zu verlassen ein enormes Risiko darstellte.
Dazu kam, dass die politischen Verhältnisse in Vichy sich ebenfalls änderten: die Deutschen erzwangen einen stärkeren Einfluss der Faschisten, die ihrerseits die Kollaboration deutlich verstärkten. Dabei ging es vorrangig um die Beschaffung von Arbeitskräften für die deutsche Rüstungsindustrie, wofür man sich im Gegenzug eine Freilassung von Gefangenen erhoffte - und natürlich Akzeptanz durch die Deutschen und einen vorteilhaften Stand bei späteren Friedensverhandlungen, an deren Zustandekommen man zu diesem Zeitpunkt noch glaubte, schon allein, weil die Alliierten ihr Ziel der bedingungslosen Kapitulation noch nicht formuliert hatten. Diesen Aspekt fand ich besonders spannend, weil von Revisionisten häufig vorgebracht wird, dass die Formulierung dieses Ziels ein Fehler gewesen sei, der den Krieg verlängert habe. Die amerikanischen Erfahrungen mit Vichy legen eher das Gegenteil nahe.
Die Kollaborationspolitik zerstörte nicht nur den letzten Goodwill, den Vichy in Amerika noch besaß, sondern auch im eigenen Land. Diplomatisches und militärisches Personal im Ausland, das die persönlichen Möglichkeiten dazu hatte, wechselte in neuem Ausmaß die Seiten, während die freiwillige Kooperation sowohl mit der Regierung als auch mit den deutschen Besatzern neue Tiefstände erreichte. Wenn es noch einen letzten Beweis für das Scheitern der amerikanischen Politik gegenüber Vichy gebraucht hätte - die Entmachtung Pétains und Weygands und die direkte Übernahme der Kontrolle durch die französischen Faschisten und ihre Kollaborationspolitik erreichten es.
Ein Grund neben dem offensichtlichen deutschen Druck, einen Krieg mit den USA nicht zu fürchten, lag auch darin, dass Vichy-Politiker davon ausgingen, dass die amerikanische Aufrüstung vor 1950 nicht abgeschlossen sein würde und die Anzahl der benötigten Schiffe so groß, dass ein Übersetzen über den Atlantik letztlich unrealistisch war. Dass sie die deutlich die geschönten Zahlen aus Berlin über die Versenkungsziffern der U-Boote glaubten, war da nicht hilfreich. Man muss allerdings zu Ihrer Verteidigung sagen, dass die US-Armee im Ersten Weltkrieg komplett von französischem Material abhängig gewesen war: alles, was die Amerikaner damals nach über einem Jahr Vorbereitung zur Verfügung stellen konnten, waren schlecht ausgebildete Truppen, die all ihr Material von der französischen Armee erhielten und bei der Überfahrt über den Atlantik auf alliierten Schiffsraum zurückgreifen konnten. Das erklärte einmal mehr, warum den französischen militärischen Fähigkeiten vor 1940 so viel Glaubhaftigkeit gegeben worden war.
Wie Kapitel 6, “A Beautiful Friendship? The Invasion of French North Africa”, zeigt, löste dies allerdings nicht die amerikanischen Probleme mit der Alternative zu de Gaulle. eine Invasion Südfrankreichs, wie sie den Amerikanern vorschwebte, erteilten die Briten angesichts des offensichtlich naiven Optimismus der Amerikaner und ihrer mangelnden Erfahrung eine klare Absage. Damit blieb nur eine Invasion Nordafrikas als erstes Trainingsfeld und zum Ausschalten der Bedrohung Vichys. Eine solche Landung quer über den Atlantik war schon unter logistischen Gesichtspunkten extrem problematisch; würden allerdings hunderttausend professionelle französische Soldaten ihr Widerstand leisten, stünde ihr Erfolg schwer infrage. Zudem fiel es selbst den Deutschen nicht schwer, die Stoßrichtung der Alliierten zu erraten. Die Gefahr, dass sie professionelle und gut ausgerüstete Truppen nach Nordwestafrika schicken würden, wo diese eine amerikanische Invasion direkt besiegen konnten, war nur die neueste Auflage der alliierten Ängste vor dem Potential der französischen strategischen Position.
Die Charaktere der französischen Befehlshaber vor Ort waren extrem mysteriös und schwer zu lesen und dazu noch widersprüchlich. Die amerikanischen Agenten hatten zwar ein gutes Bild der militärischen Kapazitäten vor Ort, ob die Armee diese allerdings gegen die Amerikaner einsetzen würde, war völlig unklar. Roosevelt und seine Regierung gingen davon aus, dass der „Geist von Lafayette“ ausreichen würde, um eine tief verwurzelte Freundschaft zu den USA in den Franzosen zu wecken und sie keinen Widerstand leisten zu lassen, was die Briten für mehr als dubios hielten. Sie allerdings konnten auf keinerlei Freundschaft hoffen: die französischen Offiziere in Nordafrika waren zwar überwiegend antideutsch eingestellt, hasten aber die Briten mit mindestens genauso viel Eifer. Die Alliierten mussten deswegen einen wahren Eiertanz aufführen, der die britische Beteiligung an dem Unternehmen so gering wie möglich hielt, damit die Franzosen nicht aus purem Revanchismus das Feuer eröffneten.
Dazu kam, dass die Operation natürlich extrem zeitsensitiv war. Man konnte es sich kaum leisten, auf die französischen Idiosynkrasien Rücksicht zu nehmen. Dazu gehörte unter anderem die Vorstellung Girauxs, er könne als Oberbefehlshaber der Operation fungieren und die Amerikaner und Briten auf seine eigenen Planungen (die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal begonnen hatten) verpflichten. Schließlich blieb keine andere Alternative mehr, als sich auf die Summe der geleisteten Vorarbeiten zu verlassen und die Invasion zu starten. Die Lage war allerdings so unsicher, dass die Invasionstruppen zwei verschiedene Codes ausgeliefert bekamen, die sowohl die Möglichkeit einer französischen Neutralität als auch einer französischen Feindschaft beinhalten.
Die Invasion selbst war dann auch eine reichlich chaotische Veranstaltung. In manchen Bereichen des Invasionsgebiets ging alles wie erhofft vonstatten, während es in anderen zu blutigen Kämpfen mit den französischen Truppen kam. Oft genug leistet nichtfranzösischen Kommandeure vor allem deswegen Widerstand, weil sie keine andere Möglichkeit sahen, die „nationale Ehre“ zu retten. Es fasziniert mich immer wieder, wie abgrundtief bescheuert es aus heutiger Sicht immer erscheint, wenn Hunderte von Soldaten ihr Leben wegen solch antiquierter Ideale lassen müssen.
Im Verlauf dieser Invasion und dem Seitenwechsel der nordfranzösischen Truppen erledigte sich auch endgültig das Problem der französischen Flotte. Angewiesen, sich den Alliierten zu ergeben, entschloss sich ihr Kommandeur stattdessen, sie zu versenken. Sein Antworttelegramm auf den Befehl der Übergabe „Merde“ setze einen passenden Schlussstrich unter die ganze Farce.
Durch einen Zufall war Darlan, neben Lavalle und Pétain einer der drei obersten Kollaborateure Vichys und einer der verhasstesten Franzosen des Planeten (Stand 1942) gerade in Nordafrika anwesend. Er hatte keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, einen Waffenstillstand mit den Amerikanern zu verhandeln. Er versuchte dies so lange hinauszuzögern, bis die Deutschen von sich aus die Demarkationslinie überschreiten und das bisher unbesetzte Frankreich unter ihre Kontrolle bringen würden, so dass sie offiziell den Waffenstillstand brachen.
Die Amerikaner nutzten ihn dann, um die Verwaltung Französisch-Nordafrikas zu übernehmen, was sowohl bei den Briten als auch in der amerikanischen Öffentlichkeit große Ablehnung hervorrief. Die Zusammenarbeit mit Vichy er lebte hier ein letztes Hurra. Es zeigte sich schnell, mit wem sich die Amerikaner ins Bett gelegt hat: Darlan erhielt die antijüdische Gesetzgebung aufrecht und versuchte, sowohl gegen Giraux als auch de Gaulle zu intrigieren und eine faschistische französische Regierung an der Macht zu halten. Das ging wohl von der politischen Führung in Washington aus; Eisenhower stieß in seiner Verzweiflung wohl einmal den Seufzer aus, dass was er am dringendsten brauchte ein Attentäter war.
In Kapitel 7, “Round Up the Usual Suspects: Assassination in Algiers”, wurde genau dieser Wunsch erfüllt. Weil des allgemeinen politischen Chaos‘ noch nicht genug zu sein schien, unternahm eine Gruppe royalistischer Verschwörer (die versuchten, die 1848 (!) abgesetzten Bourbonen zurückzubringen) Ein Attentat auf Darlan, dem dieser auch zum Opfer fiel. Aus Perspektive der Briten könnte jetzt endgültig de Gaulle übernehmen; die Amerikaner allerdings hassten ihn wie die Pest. Sie setzten weiterhin auf Giraux, dessen mangelnde politische Fähigkeiten allerdings zunehmend offensichtlich wurden. Das Lavieren der Alliierten zwischen verschiedenen französischen Optionen und die innerfranzösischen Streitigkeiten, die teilweise operettenhafte Züge annahmen, sorgen für eine extrem instabile Situation. Die alliierte Befürchtung, dass nach einer Befreiung Frankreichs sofort ein Bürgerkrieg folgen würde, war angesichts der nordafrikanischen Erfahrungen nicht aus der Luft gegriffen.
Zunehmendem Maße allerdings desavouierte sich Giraux selbst, während de Gaulle als einzig vernünftige Alternative übrig blieb und trotz seiner Persönlichkeit, die ihm immer wieder im Weg stand und ihn den Amerikanern unerträglich machte, seine unzweifelhaften politischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Nach dem politischen Fiasko Einer versuchten französischen Befreiung Korsikas war Giraux nicht mehr zu halten. Die Amerikaner hielten allerdings weiterhin an ihrer Ablehnung de Gaulles fest und dachten sogar darüber nach, direkt mit Pétain zusammenzuarbeiten. Von dieser Idiotie hielten sie glücklicherweise die Deutschen ab, die so offensichtliche faschistische Marionetten installierten, dass die Fiktion, dass Pétain irgendeine Machtstellung in Vichy haben könnte endgültig zerplatzte.
Im Umfeld der Invasion der Normandie akzeptierten die Amerikaner schließlich zähneknirschend de Gaulle, der den Alliierten beständig Probleme machte, dabei aber unzweifelhaft seine eigene Machtstellung in Frankreich geschickt ausbaute. Dies sollte den Alliierten später das Gespenst eines französischen Bürgerkriegs ersparen.
Die Vichy-Regierung wurde nach Sigmaringen evakuiert und dort unter Gestapo-Überwachung gestellt. Falls es noch eines weiteren schlagkräftigen Beweises bedurft hätte, wie fehlgeleitet die amerikanische Vorstellung gewesen war, mit einer unabhängigen französischen Vichy-Regierung kooperieren zu können, war spätestens jetzt nicht mehr zu leugnen.
Das Fazit, “As Time goes by”, nutzt Neiberg, um einerseits noch einmal deutlich zu machen, was für ein Fehler die amerikanische Politik war, andererseits aber auch darauf hinzuweisen, dass er zu Beginn seiner Forschungen die Verteidigungslinie, die Hull und andere Verantwortliche nach dem Krieg aufbauten – dass man aus einem Set unattraktiver Optionen die wenigsten schlimmste gewählt hätte - selbst geglaubt hatte und davon ausging, diese nur genauer zu beschreiben.
Die Amerikaner und Briten konnten das Kapitel Vichy schnell beschließen. Das verantwortliche Personal ging in Rente oder trat neue Posten an und man wandte sich anderen, neuen Problemen zu. In Frankreich selbst war die Lage komplizierter. De Gaulle verkündete einen offiziellen Schlussstrich, indem Lavalle und Pétain quasi zur Alleinschuldigen erklärt und ansonsten der Mythos der Resistance propagiert wurde. Die Erinnerung an Vichy plagt Frankreich bis heute und zwingt es immer wieder zu schmerzhaften Episoden der Aufarbeitung.
Zum Ende unternimmt Neiberg noch eine faszinierende Übung in kontrafaktischer Geschichte: wenn das Attentat auf Darlan nicht erfolgreich gewesen wäre, wäre durchaus vorstellbar, dass dieser mit amerikanischer Rückendeckung an der Macht geblieben wäre. Weder de Gaulle noch Giraux Hätten dann eine Chance gehabt und Frankreich wäre wohl ein autoritär regierter Staat geblieben, wie dies in Spanien und Portugal ebenfalls der Fall gewesen war. Manchmal entscheidet sich das Schicksal eines Landes wirklich an Kleinigkeiten.
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Ich habe mich sehr zurückgehalten und in der gesamten Rezension die Metapher von der „Zeitenwende“ nicht benutzt. Das amerikanische Erwachen, das mit dem Fall Frankreichs zusammenhing, ist allerdings durchaus mit dem Deutschen 2022 zu vergleichen. In beiden Fällen kann man auch feststellen, dass die rapide geänderte Sicherheitslage keine Immunität gegenüber Illusionen und dem Festhalten an alten Verhaltensmustern gab. Die Amerikaner wurden oft genug zu ihrem eigenen Glück gezwungen und hatten im Verlauf der Nordafrika-Kampagne einige Male schlicht Glück.
Parallelen zu Krieg in der Ukraine gibt es auch bei der amerikanischen Furcht vor dem Überschreiten „roter Linien“. Man wollte keinesfalls Reaktionen provozieren und verhielt sich deswegen extrem freundlich gegenüber einem eigentlich feindlichen Regime, dass diese Freundlichkeit oder rücksichtslos ausnutzte und keinerlei Anstalten machte, darüber sein Verhalten oder seine generelle Sichtweise zu ändern.
Was sich allerdings anhand der Darstellung auch gut aufzeigen lässt, ist, dass – um eine amerikanische Phrase zu gebrauchen – hindsight 20/20 ist: hinterher ist man natürlich immer schlauer. Wie deplatziert viele der amerikanischen Befürchtungen über mögliche deutsche Attacken auf die westliche Hemisphäre waren, ist mit dem heutigen Kenntnisstand der deutschen Rüstung und Technologie natürlich leicht ins Lächerliche zu ziehen. Einige Befürchtungen allerdings waren durchaus realistisch.
Mir fällt dabei vor allem die Gefahr eines französischen Bürgerkriegs auf, die wegen der harten Fraktionskämpfe und der erbitterten Ablehnung der Republik einerseits und der radikalen Linken andererseits seitens großer Teile des französischen Militärs und politischen Establishment herrschte. Ein anderer Faktor ist die französische Flotte: zwar unternahmen die Deutschen keinen ernsthaften Versuch, sie sich unter den Nagel zu reißen, weil ihnen an einem neutralen und ruhigen Vichy angesichts der Überfallpläne auf die Sowjetunion mehr gelegen war als in einem verbündeten, sich im Krieg befindlichen. Mit einer etwas rationaler agierenden deutschen Regierung allerdings hätte das vermutlich völlig anders ausgesehen.
Insgesamt habe ich die Lektüre des Buchs sehr genossen und habe sehr viel dazugelernt. Besonders relevant empfinde ich die geostrategische Übersicht, die Neiberg in alle Teile einbaut sowie natürlich die intime Kenntnis der außenpolitischen Überlegungen. Mein Kenntnisstand über Vichy hielt sich bisher ehrlich gesagt auch in engen Grenzen. Der in gewählte Fokus auf den amerikanisch-französischen Beziehungen hilft der Lesbarkeit des Buches, hat aber den Nachteil, das beispielsweise die deutschen Handlungen etwas nebulös bleiben. Bringen die Lesenden diese Vorkenntnisse nicht mit, werden sie sie sich eigenständig irgendwo besorgen müssen. Das ist kein Nachteil, man sollte es nur wissen.
Ich fand die Lektüre auch insoweit aufschlussreich, als dass sie einen wichtigen Gegenpunkt zu der unglaublich ausgelutschten Pointe des Dauergags über Kapitulationen französischer Militärs (man denke nur an die beliebte Reihe „French Military History“) darstellt. Die französische Armee war über mehrere Jahrhunderte die stärkste Europas und vermutlich weltweit. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Niederlagen von 1871 und 1940 das Bild unangemessen verzerren. 1940 war ohnehin ihr ein glücklicher Zufall (aus deutscher Sicht), als dass ist eine tiefgreifende Schwäche offenlegen würde. Die ständigen Behauptungen über eine moralische Schwäche, fünfte Kolonnen oder subversiven linken Einfluss, mit dem die Niederlage lange übertüncht werden sollte, haben da eine ungeschickten Legendenbildung Vorschub geleistet.
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