Freitag, 1. Dezember 2023

Rezension: Frank Bösch - Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann (Teil 3)

 

Teil 1 hier, Teil 2 hier.

In Kapitel 8, "Die zweite Ölkrise", geht es dann endlich zu dem Ereignis, das die anderen Kapitel immer wieder berührte: die zweite Ölkrise. Bösch beginnt sinnigerweise mit einem Rückblick auf die Ölkrise 1973. Diese kam nicht aus dem Nichts; die Ölpreise waren bereits seit den 1960ern im Anstieg, was ein ganzes Bündel von Ursachen hatte und für das auf das billige Öl angewiesene Wirtschafts- und Wachstumssystem des Westens ein Anzeichen für Probleme wenigstens hätte sein sollen. Der eigentliche Ölboykott im Rahmen des Jom-Kippur-kriegs diente den westlichen Regierungen dann als praktischer Sündenbock, um eigene Versäumnisse zu übertünchen (ein Schelm, wer da Parallelen zur heutigen Situation erkennen möchte).

Der Boykott aber war globapolitisch bedeutsam, weil der Paukenschlag des Entstehens eines neuen Machtblocks in der OPEC, die scheinbar die Macht zur Abwürgung des Westens hatte, die ohnehin durch die Entspannungspolitik laufende Annäherung von Ost und West stark begünstigte. Der Westen kaufte in hohem Maße Rohstoffe aus dem Osten und lieferte im Gegenzug vor allem Pipelines. Daran knüpften sich (wie wir heute wissen: völlig überzogene) Hoffnungen auf "Wandel durch Handel". Beide hatten wenig Interesse an einem neuen Machtblock (der dann auch nicht kommen sollte, aber das war in der hitzigen Atmosphäre 1973 noch nicht absehbar). Die Ölpreise stiegen 1973 auch gar nicht so stark und die Krise war daher weniger einschneidend als die von 1979, blieb aber wegen der ergriffenen symbolischen Maßnahmen wie autofreien Sonntage (die sich 1979 nicht wiederholen würden) einprägsamer.

Die Krise von 1979 befeuerte allerdings einen bereits begonnen Trend zum Energiesparen. Während manche der verordneten Maßnahmen nur symbolisch zu sehen waren, sollte man ihren Wert trotzdem nicht unterschätzen, da sie der Schaffung von Aufmerksamkeit für das Thema dienten. Die bundesdeutsche Regierung versuchte vor allem, die Wirtschaft und die Bevölkerung zu effizienteren Geräten zu bringen um direkte Interventionen zu vermeiden, weswegen die BRD auch - anders als praktisch alle anderen europäischen Länder - kein Tempolimit einführte, ein Sonderweg, den wir bis heute trotz seiner klaren Energiesparpotenziale aufrecht erhalten.

Für den Energiemix war die Ölkrise ebenfalls bedeutsam. Die Bundesrepublik schwenkte von Öl auf Kohle und Gas um (letzteres hauptsächlich aus der Sowjetunion, mit den bekannten Konsequenzen). Es erfolgten zwar rhetorische Bekenntnisse zum Ausbau der Erneuerbaren Energien, anders als etwa Dänemark aber unternahm man keine Schritte in diese Richtung, sondern schätzte, dass dies um 2000 herum von allein geschehen würde.

Die Sowjetunion profitierte durch die gestiegenen Rohstoffpreise und die Entspannung von der Ölkrise, was aber auch im Ostblock zu steigenden Preisen führte. Die DDR schwenkte deswegen auf den umweltverpestenden Abbau von Braunkohle um, von dem wir uns bis heute nicht entfernt haben. Die Konsolidierung eines neuen OPEC-Machtblocks blieb letztendlich aus; die viel beschworene Einigkeit der arabischen Staaten war eine Schimäre. Vor allem Saudi-Arabien brach in den frühen 1980er Jahren aus und senkte die Preise durch Erhöhung der Fördermengen, während es sich außenpolitisch an die USA anschmiegte.

Bösch sieht die Ölkrise zudem als Grund für die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre deutlich unterschätzt. Die steigenden Preise würgten die Wirtschaft ab und heizten die Inflation an, ein nicht unerheblicher Grund für die Stagflation. Umgekehrt sorgten die fallenden Preise in den frühen 1980er Jahren für einen erneuten Wirtschaftsaufschwung, der auch das Scheitern der Privatisierungsprogramme übertünchte und wesentlich zur Erholung der Wirtschaft beitrug.

Der Energiemix spielt auch in Kapitel 9, "Der AKW-Unfall bei Harrisburg", eine tragende Rolle. Genauso wie gegen Atombomben hatte es stets Widerstand gegen die Atomenergie gegeben (weswegen die Branche auch den Begriff "Kernenergie" zu etablieren versuchte), aber den Unfall von Harrisburg sieht Bösch als Wegmarke. Bereits in den 1960er Jahren und besonders dann ab den 1970er Jahren mehrten sich die Proteste gegen die Atomenergie.

Bösch zeigt dabei auf, dass es bereits vor Harrisburg zahlreiche Störfälle, auch in BRD, gegeben hatte, die immer wieder für Teilabschaltungen der Kraftwerke und aufwändige Reparaturen sorgten, was die Energieform sehr viel weniger effizient als ihr viel beschworenes Potenzial machte. Auch die ebenso viel beschworene Unabhängigkeit, die gerade im Zuge der Ölkrise in den Fokus rückte, war angesichts der Abhängigkeit von Uranimporten (das vor allem aus den USA bezogen wurde) wenig tragfähig. Die Bundesrepublik schwenkte ab 1973 auf Importe aus Namibia und der UdSSR um, weil diese als sicherere Quelle schienen als die USA (mit denen man politisch immer wieder über Kreuz lag). Auch hier sind die Parallelen zur Ölkrise offenkundig. Für die BRD war die Kernkraft allerdings in anderer Hinsicht wirtschaftlich bedeutend, nämlich als Exportmarkt: das Know-How zum Bau und Unterhalt von Reaktoren wurde in die ganze Welt verkauft, was maßgeblich zu den Spannungen mit den USA beiträgt, wo etwa Iran betroffen ist.

Bösch arbeitet auch die internationale Vernetzung der Kernkraftgegner heraus. Dies war ein Novum der Protestbewegung, aus dem sie große Kraft schöpfte: die Globalisierung sorgte dafür, dass man sich als eine Gemeinschaft fühlte, und ein Störfall in einem AKW in einem anderen Land wirkte plötzlich als Bedrohung im eigenen und als Bestätigung des eigenen Gefühls der Unsicherheit, das dadurch stetige Nahrung erhielt - und natürlich durch die schiere Zahl an Störfällen, die zunehmend das Vertrauen in die Expert*innen erschütterte; auch eine Dynamik, die wir heute gut kennen.

Zwar wurde das Vertrauen im Westen durch Reformen und verbesserte Sicherheitsmaßnahmen im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre teilweise wiederhergestellt; die Bevölkerung blieb aber überwiegend skeptisch, weswegen es ab 1970 auch mehr zu einem weiteren Ausbau der Atomkraft kam. Auffällig ist die Dynamik, dass die zahlreichen Störfäll im Westen gut aufgearbeitet wurden und daher zu mehr Protest und sinkender Unterstützung für die Energieform, aber zu wesentlich besserer Sicherheitführten), während sie im Osten vertuscht wurden, was genau den gegenteiligen Effekt hatte. In zahlreichen Ländern wurden in den 1970er Jahren Moratorien auf die Kernkraft ausgegeben; vielerorts (etwa in Dänemark, Italien, Schweden, USA) entstanden praktisch keine neuen Kraftwerke, allenfalls wurden alte Baustellen fertiggestellt.

All diese Dynamiken wurden durch den Unfall von Harrisburg wie durch ein Brennglas verschärft. Die Medien sprangen mit Begeisterung auf den Zug auf; besonders der Spiegel titelte mit kernkraftkritischen Covern und trug maßgeblich zu der Anti-Atomkraft-Haltung der Bevölkerung bei. Ein Großteil der westeuropäischen Länder und der USA kam zu dem Schluss, dass Atomenergie zu teuer und störanfällig war; in den Ausnahmefällen Großbritannien und Frankreich wurde sie vor allem als nationales Prestigeobjekt weiter betrieben.

Den Abschluss der Ereignisse macht in Kapitel 10, "Die Fernsehserie "Holocaust"", das Thema Vergangenheitsbewältigung. Die Fernsehserie war ein globales Fernsehereignis, das weltweit 250 Millionen Zuschauer*innen vor die Bildschirme lockte. Vor der Ausstrahlung war der Holocaust im öffentlichen Gedächtnis nicht besonders stark verankert gewesen. Die deutsche Regierung fürchtete einen großen Imageschaden und wollte sie eigentlich gar nicht ausstrahlen; besonders die CDU-geführte Länder blockierten den Ankauf der Rechte und die Ausstrahlung, weswegen die Serie schließlich im dritten Programm gesendet wurde. Das war durchaus mehrheitsfähig; die deutschen Medien und die Politik machten die Serie unisono schlecht, bevor sie ausgestrahlt wurde (und bevor irgendjemand sie gesehen haben konnte), indem sie - mit einer gehörigen Portion Antiamerikanismus - ihre Trivialität und den amerikanisierten Unterhaltungscharakter betonten. In Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit bislang lag die Betonung auf dem deutschen Widerstand; die 1970er Jahre sahen zudem einen Fokus auf die Nazi-Haupttäter, paradigmatisch in Fests Hitlerbiografie.

"Holocaust" war dagegen als Familiendrama mit zwei Seiten (eine jüdische Familie und eine deutsche Familie mit SS-Mann) konzipiert, um für eine möglichst breite Schicht ansprechend zu sein. Sie war zudem erstaunlich nah an den geschichtswissenschaftlichen Trends, indem sie (anders als die deutschen Produktionen) die Idee der "Radikalisierung von unten", also des Holocausts als Eskalation der Bürokratie, zum ersten Mal breitflächig rezipierte. Zwar war die Serie ein Melodrama, aber historisch erstaunlich korrekt (jedenfalsl für den damaligen Stand der Wissenschaft). Die deutsche Geschichtswissenschaft hinkte dem ziemlich hinterher, weil sie sich mit dem Holocaust kaum beschäftigt hatte.

Die CDU bestand dann auf der Position, die Serie nur auszustrahlen, wenn gleichzeitig auch das Leid der Deutschen gezeigt werde, weswegen rasch einige Dokus produziert wurden, die auch "anspruchsvoll" sein sollten (anders als, so behauptete man, "Holocaust"). Dahinter stand die Furcht, dass der die Serie ankaufende WDR ("Rotfunk") eine linke Agenda verfolge, der man sich präventiv entgegenstellen müsse (Kohls Interesse an einer geschichtspolitischen Wende wird hier wieder deutlich). Vorsorglich wurde die Serie so geschnitten, dass die Deutschen weniger schuldig erschienen; das hoffnungsvolle Ende mit der Auswanderung nach Palästina wurde gleich ganz gekürzt. Zudem wurde die Serie auf schlechte Sendeplätze (21 Uhr) gedrängt. Es war das Dauerthema der Kritik, dass "Holocaust" zu seicht und trivial sei, während deutsche Werke dagegen ernstzunehmend und qualitativ wertvoll seien.

Trotz all dieser Hürden war die Serie ein Riesenerfolg (ein Viertel aller Deutschen sah sie komplett, deutlich über die Hälfte wenigstens eine Folge) und brachte einen Boom der Beschäftigung mit dem Thema, gerade auch in die Schulen (wo sie bisher praktisch nicht stattfand). Anders als behauptet war die Qualität der Serie nicht das Problem; vielmehr konnten die deutschen Konkurrenzproduktionen (die wie gefordert dann vor allem die Vertreibung aus den Ostgebieten thematisierten und die Rettung von Juden durch Deutsche zeigten) kaum überzeugen. Ironischerweise übernahmen in der Folgezeit deutsche Produktionen das emotionalisierende Schema der Serie, bauten dieses aber so um, dass Holocaust ausgespart wurde und ständig bildungsbürgerliche Mischehen im Zentren standen. Auch der in der Serie thematisierte jüdische Widerstand wurde konsequent ausgespart. Generell verweigerte sich die Bundesrepublik unter Kohls Kanzlerschaft konsequent einem zentralen Gedenken (weswegen das Holocaust-Mahnmal in Berlin auch erst 2006 fertig wurde und in Bonn nie eines entstand).

Für den Umgang mit dem Holocaust kann die Serie, die den Begriff selbst überhaupt erst salonfähig machte (zum Leidwesen derer, die den Begriff der Shoa zu etablieren versuchen), kaum überschätzt werden. Außerhalb Deutschlands fällt vor allem die Amerikanisierung des Holocaust auf. Anders als befürchtet führte die Ausstrahlung nicht zu einem Imageschaden Deutschlands; vielmehr bezogen die Amerikaner*innen das Geschehen auf sich, und 75% der Befragten gaben an zu glauben, dass dies auch im eigenen Land möglich sei. Die USA bauten noch lange vor Deutschland Holocaust-Mahnmähler und richteten zentrale, große Museen für den Genozid ein.

All das ging an DDR vorbei, wo keine Debatte über den Holocaust stattfand. Stattdessen erklärte das SED-Regime, dass man in vorbildlicher antifaschistischer Haltung das Problem des Rassimus überwunden habe und fuhr damit fort vor allem der kommunistischen Opfer der NS-Terrorherrschaft zu gedenken. Der bis heute auch wesentlich schlechtere Kenntnisstand über die NS-Verbrechen in Ostdeutschland ist auch ein Erbe dieser Verweigerung der SED, sich mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen.

In einem Epilog bindet Bösch dann alles noch einmal zusammen und betont vor allem die globalen Verflechtungen der verschiedenen Themen. Die 1970er Jahre warfen bereits deutliche Schatten auf die kommende Globalisierung und zeitigten den Zeitgenossen ein erstes Wetterleuchten einer global vernetzten Gesellschaft, wenngleich vorläufig noch auf den Westen begrenzt.

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Insgesamt fand ich die Lektüre des Buch überaus bereichernd. Ich war anfangs skeptisch über die Struktur, die globale Phänome so explizit auf den deutschen Kontext bezog, aber die Konsequenz und bewusste Setzung stellte sich für mich schnell als ungeheurer Gewinn heraus, weil sie anders als "unabsichtlich" deutschzentrierte Darstellungen stets die internationale Dynamik mitdenkt. Die Auswahl der Ereignisse ist natürlich, genauso wie das Jahr, etwas reißerisch und arbiträr, taugt aber als Gedankenstütze völlig und sollte nicht zu wörtlich genommen werden.

Ein Faktor, der mir neu war und mich besonders fasziniert, ist die 180-Grad-Wende bei der Positionierung in vielen Themen seitens der CDU und SPD (etwa in der Flüchtlingspolitik), die durch die spezifische Situation des Kalten Krieges erklärbar ist (und natürlich das Spiel von Opposition und Regierung). Der christliche Flügel der CDU war aber seinerzeit noch wesentlich stärker als heute, und der Menschenrechtsdiskurs der Zeit hatte in der Partei zwar spezifisch konservative, aber deutlich wahrnehmbare Spuren hinterlassen.

Ebenfalls erleuchtend fand ich, wie international viele der Ereignisse, etwa die Atomkraftgegnerschaft, rezipiert wurden. Darin findet sich sicherlich ein wesentlicher Bruch gegenüber der Zeit zuvor; die Globalisierung war, anders als die Ende des 19. Jahrhunderts, wesentlich breiter und erfasste viel mehr Bevölkerungsschichten.

Auffällig ist für mich auch die wahnsinnig schlechte Holocaustbildung in den 1970er Jahren. Der Geschichtsunterricht endete damals üblicherweise mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus, und die breite Öffentlichkeit beschäftigte sich kaum mit der Thematik, die man weitgehend zu verdrängen versuchte. Der für unsere heutige Gesellschaft so konstitutive Umgang mit dem NS-Genozid fand seinen Ursprung in jener Ära. Vielleicht wäre er auch ohne die Serie gekommen, aber sicherlich nicht mit solcher Wucht. Die Versuche einer neuen geschichtlichen Identität, die Kohl stärker als jeder andere Kanzler betrieb, hätten wohl ohne die Sensibilisierung durch die Serie auch nicht so viel Widerstand hervorgerufen. Bösch sieht - und ich stimme ihm zu - die Proteste angesichts von Kohls Bitburg-Besuch als direkte Folge der Ausstrahlung.

Zuletzt finde ich die Rolle des Medienaktivismus auffällig. Ob "Cap Anamur" oder Kernkraft, die Medien waren in den 1970er Jahren wesentlich daran beteiligt, die kritischen Öffentlichkeiten mitzugestalten. Die oft behauptete Vorstellung, dass wir es heute mit besonders aktivistischen Medien zu tun hätten, während früher mehr Neutralität geherrscht habe, kann also einmal mehr in den Bereich des Wunschdenkens verwiesen werden (eine Entwicklung, die ich bereits in meiner wissenschaftlichen Arbeit 2010 für den Wahlkampf 1972 nachgewiesen habe).

Damit bleibt mir eigentlich nur, eine unbedingte Empfehlung für das Buch auszusprechen.

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