Mittwoch, 6. Dezember 2023

Rezension: Wolfgang Will - Alexander der Große. Geschichte und Legende

 

Wolfgang Will - Alexander der Große. Geschichte und Legende

Es ist wohl keine Übertreibung festzustellen, dass Alexander der Große eine der mythenumranktesten Personen der Weltgeschichte ist. Bereits im antiken Rom erfüllte er eine narrative Rolle, die durchaus mit Marvel-Superhelden vergleichbar ist, war Vorbild und Gegenstand historischer Diskussionen. Merkreime wie "333 - Bei Issos große Keilerei" bestimmten Jahrzehnte den Geschichtsunterricht, in dem weitgehend unkritisch gelernt wurde, dass Alexander den Gordischen Knoten durchschlug und im Suff einen seiner besten Freunde erschlug. Dabei ist erstaunlich, wie wenig tatsächlich über den König bekannt ist - während die Frage, ob er das Attribut "der Große" überhaupt verdient, eine Standardfrage im modernen Geschichtsunterricht darstellt (während die breite Öffentlichkeit ihr Interesse an ihm wie an der Antike generell weitgehend verloren hat). Wolfgang Will hat es sich in diesem schmalen Band zur Aufgabe gemacht, die bekanntesten Mythen auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen. 

In Kapitel 1, "Die Überlieferung - ein literarischer Kampf um Alexander", legt Will die Grundlagen, indem er die Primärquellen untersucht (die uns freilich allenfalls fragmentarisch vorliegen). Dabei handelt es sich weitgehend um enge Weggefährten Alexanders (und seine Erben), was allerlei Probleme mit sich bringt. Eine unserer wichtigsten, Kallisthenes, schrieb als Chefpropagandist und fiel noch zu Alexanders Lebzeiten dem wechselnden politischen Klima zum Opfer und wurde exekutiert, während die anderen Generäle und Epigonen ihre Alexanderdarstellungen als Mittel der eigenen politischen Propaganda nutzten und in diesem Kontext gelesen werden müssen.

Kapitel 2, "Aufbruch nach Osten - Reise ohne Wiederkehr", stellt den Aufbruch Alexanders nach Persien vor, damals noch mit dem Ziel, die ionischen Städte zu "befreien", was nichts anderes bedeutete, als sie von einem Tributherren unter einen anderen zu stellen (weswegen die "Befreiungen" auch mit monatelangen Belagerungen und Schlachten verbunden waren). Da die Perser das Meer beherrschten, war das Unternehmen von Anfang an logistisch schwierig, was propagandistisch überhöht wurde, indem die Überlieferungen Alexander als ersten der Armee in voller Rüstung das Land betreten ließen, um dem Unternehmen von Anfang an den Ruch einer gewagten Militäroperation zu geben.

In Kapitel 3, "Meer- und andere Wunder - Das schwierige erste Jahr", spielen vor allem diese logistischen Schwierigkeiten eine zentrale Rolle, weswegen die Autoren auf zahlreiche "Wunder" zurückgeifen. Alexanders militärische Erfolge gegen die schwache persische Präsenz in Kleinasien werden alle mit göttlicher Vorsehung und Eingreifen erklärt, seine aus der Not geborenen Lösungen - etwa der Feldzug im Winter, bei dem die Soldaten mangels Schiffen an einer Engstelle bis zur Hüfte im eiskalten Wasser wateten - als brillante Schachzüge verbrämt.

Die wohl berühmteste Episode spielt in Kapitel 4, "Der Gordische Knoten - Asien im Schwertstreich", die Hauptrolle. Das auf griechischen Karten im Weltmittelpunkt gelegene Gordia war von großer symbolischer Bedeutung; der Knoten dort, dessen genaue Gestalt völlig unbekannt ist, sollte als Signal für die Eroberung Kleinasiens (!) dienen. Alexander ging ein propagandistisches Wagnis ein, indem er öffentlich das Rätsel zu lösen gedachte. Worin dieses bestand und wie er das genau tat, ist völlig unklar; die berühmteste Version, in der er den Knoten durschlägt, stammt von seinen Gegnern, die ihn als aggressiven imperialistischen Barbaren darstellen wollten.

Narrative Spielereien sind das Zentrum von Kapitel 5, "Issos und Gaugamela - Die Schlacht als Duell". In beiden Schlachten erfinden die Autoren direkte Duelle zwischen Alexander und Dareios, die mit Sicherheit so nicht stattgefunden haben (aber auch die berühmteste Alexanderdarstellung, das Mosaik von Pompeii, dominieren). Auffällig ist, dass dieses Duell nicht nur einmal, sondern zweimal stattgefunden haben soll, noch dazu in praktisch derselben Form, bei Issos und bei Gaugamela. Schon ein einmaliges Treffen dieser Art ist mehr als unwahrscheinlich; seine Wiederholung ist reine narrative Fiktion. Dass die Schlacht bei Issos nicht 333, sondern 328 stattgefunden hat, fällt da kaum mehr ins Gewicht. Der Reim ist aber auch zu schön.

Noch unklarer sind die religiösen Aspekte, wie Kapitel 6, "Der Zug zum Ammonorakel - Weltherrscher und Gottessohn", aufzeigt. In Ägypten - in das Alexander nach den Schlachten gegen Dareios abbog, was im Übrigen gegen einen Plan zur Welteroberung vor diesem Zeitpunkt spricht - besuchte er das Ammonorakel, in dem ihm irgendetwas prophezeit wurde. Was genau das war, ist ein weiteres Mal unklar; das Einzige, das halbwegs gesichert gesagt werden kann ist, dass Alexanders Größenwahn erst irgendwann nach dem Besuch dieses Orakels einsetzte. Will geht auch etwas stärker auf die Kompatibilität zum griechischen Kosmos ein: Ammon als höchster Gott der Ägypter und direkte Gottheit der Pharaonen war quasi automatisch für Alexander zuständig, der als nun neuer Pharaoh Ägyptens automatisch zum Sohn Ammons wurde. Da die Griechen vermutlich Ammon und Zeus gleichsetzten, wurde Alexander damit auch zum Zeussohn (was die Autoren durch diverse Wunder wie Sichtungen von Adlern, Schlangen und ähnlichem Getier untermauern). Alexander erhielt dadurch göttliche Züge.

Der in Kapitel 7, "Der Brand von Persepolis - Ein kalkulierter Affekt", beschriebene Brand des persischen Königspalasts wird in den Quellen gerne als Affekthandlung Alexanders beschrieben, der persönlich mit der Fackel in der Hand den (hölzernen) Palast in der Residenzstadt niederbrennt. Seine eigene propagandistische Absicht ist etwas nebulös, aber Will ist sicher, dass es, unabhängig seiner Intention, ein Fehler war, der schnell zu einer Gegenreaktion der Perser führte, gegenüber denen sich Alexander bislang nicht als barbarischer Eroberer präsentiert und auf allzu offensichtliche Darstellungen seiner Überlegenheit verzichtet hatte. Die Idee, dass er quasi aus einer Laune heraus den Palast angesteckt habe, ist aber gar nicht so unwahrscheinlich. Alexander war vergleichsweise stark affektgetrieben, weswegen diese Tat ins Bild passen würde.

Ebenfalls ins Bild passt die in Kapitel 8, "Feinde und Narren - Die Legende vom königlichen Trinker", beschriebene Trinksucht des Königs. Seine Feinde versuchten, diese propagandistisch auszuschlachten, und es ist auffällig, dass die Makedonen ihrerseits vor allem eine Überhöhung der Trinkerei - Alexander als wiedergeborener Dionysos - oder eine Relativierung (in Wirklichkeit hielt sich der König klug und maßvoll zurück und trank viel weniger als seine Umgebung) versuchten. Tatsächlich scheint Alexander Unmengen an Alkohol konsumiert zu haben. Die Quellen sind voll von mehrtägigen Trinkgelagen, die zu allen möglichen Gelegenheiten veranstaltet wurden und den Doppeleffekt hatten, die Truppen zu motivieren und zu belohnen.

Eine Legende der eigenen Art wird in Kapitel 9, "Und wo war ich denn damals? - Alexander und die Amazonen", beschrieben. Die Existenz der sagenumwobenen Amazonen ist ohnehin ein Zankapfel der Forschung. Es gibt zahlreiche Theorien, woher der Mythos stammen könnte, aber zumindest in der Form, wie es die Geschichten klassischerweise behaupten, existierten die Amazonen sicher nicht. Das war selbst den Zeitgenossen so offensichtlich, dass die Quellen es als Anlass nehmen, die Bescheidenheit und den Witz Alexanders herauszustellen, indem er angesichts von Geschichten über seine Begegnung mit den Amazonen gefragt haben soll "Und wo war ich damals?" Solche selbstironischen Äußerungen sind natürlich von vielen Herrschern überliefert und gehören fest in den narrativen Kanon von Königspropaganda.

Ein schwierigeres Rätsel stellt die in Kapitel 10, "Für alle zu wenig, für einen zu viel - Durch die Wüste von Gedrosien", beschrieben Durchquerung der Wüste von Gedrosien dar, durch die Alexander einen Großteil seiner Armee auf dem Rückzug vom Indus ziehen ließ. Es ist unklar, warum er diese Entscheidung traf, obwohl wesentlich ungefährlichere Alternativen zur Verfügung standen; der Rückzug wurde auch zum Desaster, bei dem zehntausende zu Tode kamen. Es gibt Vermutungen, dass er es bewusst als Bestrafung der beim Indus meuternden Truppen tat (die sich als unzuverlässig herausgestellt hatten) oder als Inszenierung seiner Führungsrolle, um ihr Vertrauen wiederzugewinnen (weil er ihre Qualen teilte, ein weiterer Topos der Königspropaganda).

Seine ideologische Ausrichtung spielt in Kapitel 11, "Alle Menschen werden Brüder - Alexanders "Unity of Mankind"", die Hauptrolle. Die Idee, die gesamte Menschheit in einem Reich zu einen, kam erst spät in Alexanders Karriere auf. In diesen Kontext fällt die berühmte Massenheirat, bei der tausende Makedonen zusammen mit ihrem König persische Frauen nahmen (freilich ohne diese später auch zu ehren, nach Alexanders Tod ließen sie sie ebenso zu Tausenden zurück) oder die Schaffung der Epigonen, jener nach griechischem Vorbild ausgerüsteten und ausgebildeten Einheiten aus jungen Persern. Gleichzeitig haben wir die Persifizierung Alexanders und vieler Madedonen, die sich immer weiter von ihren griechischen Wurzeln entfernten. Man sollte jedoch den späteren Rechtfertigungen als großem Plan nicht zu viel Gewicht beimessen; es gibt wenig Hinweise dafür, dass hier tatsächlich ein universalistisches ideologisches Konzept zugrundelag, und die geringe Haltbarkeit der bestehenden Versuche Alexanders spricht hier eine deutliche Sprache zumindest über die Priorität dieses Projekts, so es je existiert hat.

Kurios ist die Rolle Roms, wie in Kapitel 12, "Auf dem Höhepunkt der Macht - Alexander gegen Rom", dargestellt wird. Angeblich wurde Alexander in Babylon kurz vor seinem Tod von Delegationen aus dem ganzen Mittelmeerraum bis nach Spanien besucht, darunter auch einer aus Rom, das damals kaum mehr als eine aufstrebende Regionalmacht war. Diese Delegationen sind insgesamt extrem unwahrscheinlich; gerade im Falle Roms kennen wir aber aus den römischen Quellen die Darstellungen genauer, die alle darauf schließen lassen, dass sie nachträglich erfunden wurden, um die Ewige Stadt in besserem Licht erscheinen zu lassen. Das gilt umso mehr für das blühende Genre der virtuellen Geschichte, in dem römische Autoren zwar Alexanders Leistungen bewunderten, aber immer wieder Abhandlungen darüber schrieben, wie er sich gegen römische Legionen geschlagen hätte - natürlich ohne Zweifel daran zu lassen, dass die Römer obsiegt hätten und er nur deswegen so erfolgreich war, weil er "nur" gegen den verweichlichten Osten gekämpft hatte. Angesichts der anhaltenden Popularität dieses Genres fand ich das eine sehr amüsante Randnote.

Das letzte Kapitel, Kapitel 13, "Ein sterbendes Imperium - Die letzten Tage Alexanders" befasst sich kurz mit seinem Tod. Wie viele Autoren vor ihm bemerkt will, dass nicht Alexanders Tod mit "nur" 33 Jahren bemerkenswert ist, sondern dass er angesichts seines ungesunden Lebenswandels überhaupt so alt wurde. Nicht nur die bereits beschriebene Trinkerei, sondern auch der ständige Wechsel von Hitze und Kälte, die Entbehrungen auf dem Marsch und die Exzesse forderten ihren Tribut, so dass Alexanders Körper zum Zeitpunkt seines Todes ein Wrack gewesen sein muss. Die spätere Überhöhung ist natürlich wieder legendenumrankt (inklusive Giftmorden), aber es gibt wenig Grund anzunehmen, dass der Tod nicht natürlich war.

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Insgesamt fand ich die Darstellung angenehn und frisch zu lesen. Der Fokus auf der Untersuchung der Legenden und das ständige kritische Hinterfragen der Quellen sind ein stabiler Ansatz und sorgen für echten Erkenntnisgewinn der Lesenden. Einige Grundkenntnisse werden vorausgesetzt (die Legenden zu kennen ist hilfreich, wenngleich man sie sich gut aus dem Text erschließen kann). Ich finde auffällig, was bezüglich Alexander und dem ganzen Genre der "Geschichte gr0ßer Männer" für ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Wo früher Generationen mit diesen Geschichten aufwuchsen, spielen sie heute überhaupt keine Rolle mehr. Wir haben unsere historisch geerdeten Fantasiefiguren mittlerweile durch offensichtliche Fantasiefiguren ersetzt. Ich halte das für eine gute Entwicklung. Debatten, ob Sauron das Prädikat "der Große" verdient hat, bleiben einem so erspart.

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