Dienstag, 2. April 2013

Die USA um 1900, Teil 1/3

Von Stefan Sasse

"American Progress": Colombia führt die Siedler, Buch unterm Arm
Um 1900 waren die Vereinigten Staaten ein ungemein widersprüchliches Land, noch viel widersprüchlicher als sie es sonst sind. Ein nie dagewesener technischer Fortschritt erreicht die breite Masse der Bevölkerung und sorgte für eine dramatische Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Wirtschaft boomte, und jeden Tag kamen hunderte von Migranten ins Land. Die Vorstellung, dass Amerika eine weltweit einzigartige Nation war, deren Bestimmung es sein musste, die Ideale von Freiheit und Demokratie in die Welt hinauszutragen - der so genannte American Exceptionalism - mischte sich mit einer großen Welle der Religiosität, deren Triumph 1919 das Alkoholverbot der Prohibition werden sollte. Gleichzeitig aber waren die Abgründe zwischen arm und reich im Land gigantisch, lebten viele Minderheiten diskriminiert und von den Segnungen des Fortschritts ausgeschlossen und wurden die letzten großen Verbrechen an der amerikanischen Urbevölkerung, den Indianern, begangen. Im Folgenden sollen schlaglichtartig Aspekte dieser Widersprüchlichkeit der USA, die so viel mit einer ähnlichen Widersprüchlichkeit im Deutschland derselben Epoche gemeinsam hat und doch völlig andere Wege daraus findet, genauer beleuchtet werden.

Die Epoche zwischen 1890 und 1920 sah die Vervollständigung des amerikanischen Territoriums durch die Zulassung neuer Staaten zum Gebiet der USA. Die Ära des Wilden Westens, die in den scheinbar rechtlosen territories geblüht hatte, kam mit der formalen Aufnahme der Bundesstaaten Montana, South Dakota, North Dakota, Washington (alle 1889), Idaho, Wyoming (beide 1890), Utah (1896), Oklahoma (1907), Arizona und New Mexico (beide 1912) zu ihrem Ende. Das bedeutete auch das vollständige Ende der amerikanischen Urbevölkerung als frei umherziehender Stammesgesellschaft, die bereits zuvor durch die Errichtung der Reservate empfindlich eingeschränkt worden war. Mit der Aufnahme der neuen Staaten jedoch kamen das Recht der USA (für US-Bürger, was die Indianer nicht waren), ihre Polizei, die Marshalls und das Militär in jeden Winkel der USA. Da die wertvollen Gebiete der neuen Bundesstaaten das Interesse von Siedlern und Geschäftsmännern gleichermaßen weckten, wurden die Indianer ein weiteres Mal deportiert. Häufig waren ihre Zielreservate über tausend Kilometer entfernt und weder klimatisch noch kulturell in irgendeiner Weise mit ihrem bisherigen Lebensraum identisch. 

Häuptling Bigfoot tot am Wounded Knee
Der Niedergang ihrer Gesellschaft und Kultur und die Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Kampfs gegen die Weißen führte bei den Indianern zu einer Welle von Spiritualität, der so genannten Geistertanzbewegung, die in bemerkenswerter Weise mit Wellen amerikanischer (christlicher) Spiritualität zusammenfiel. Sie hatte bereits zwischen 1860 und 1872 eine erste Blüte erlebt. Zentraler Inhalt war die Vorstellung, dass die Ahnen zurückkehren und eine Wiederbelebung der indianischen Lebensweise einleiten würden. Entgegen populärer Vorstellungen nahmen bei weitem nicht alle indianischen Gesellschaften daran teil; der Geistertanz war eine Sache vorrangig der Minneconjou-, Sioux- und Lakota-Stämme, die die großen Ebenen bewohnt hatten. Die Idee war, dass durch an die alten Jagdtänze gemahnende Geistertänze die Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits geöffnet werden und damit den Ahnen und den Büffeln die Rückkehr ermöglicht werden könnte. Die Weißen würden dann verschwinden. Diese Protestbewegung gewann 1890 massiv an Zulauf und stellte eine insgesamt friedliche Protestbewegung dar, die die US-Regierung aber alarmierte. Sie reagierte mit Einschränkungen der ohnehin unzureichenden Lebensmittellieferungen an die Reservate und verschärften Kontrolle. Im Winter 1890 eskalierte die Situation in South Dakota am Wounded Knee, wo Soldaten der 7. Kavalleriedivision ein Massaker unter den Indianern verübten und die Geistertanzbewegung zu einem abrupten Ende brachten. Der Widerstand der Indianer war nach dem Massaker endgültig gebrochen. Ohne Bürgerrechte vegetierten sie für 80 Jahre in den Reservaten dahin, ehe in den 1970er Jahren die Sache der Indianer in der Protestkultur der Epoche einen wichtigen Stellenwert einzunehmen begann und mit der Besetzung von Wounded Knee 1973 populären Ausdruck fand. 

Diese Art der Kolonialisierungspolitik nach innen fand eine Entsprechung nach außen. Die USA, die unter Präsident Monroe bereits 1823 den Anspruch erklärt hatten, den gesamten amerikanischen Doppelkontinent zu beherrschen und von europäischen Einflüssen zu befreien, drängten aggressiv den Einfluss der letzten europäischen Kolonialmacht zurück (Kanada wurde bereits 1919 als eigenständiger Staat im Völkerbund zugelassen, obwohl es seine formale Unabhängigkeit erst 1931 erhielt), Spanien. In der Karibik sowie im Pazifik hielt Spanien noch diverse militärisch wichtige Stützpunkte auf verschiedenen Inseln, die die USA als unabdingbar für die die Durchsetzung ihres Manifest Destiny – wörtlich: unabwendbares Schicksal, die Vorstellung, dass man amerikanische Werte auf dem ganzen Kontinent ausbreiten müsse – ansahen. Im amerikanisch-spanischen Krieg von 1898 besiegten die USA spielend das veraltete Militär der auseinanderbrechenden und von inneren Zwistigkeiten gelähmten einstigen Großmacht Spanien und errichteten einen Satellitenstaat im vormals spanischen Kuba, annektierten Puerto Rico und Guam und kauften Spanien die Philippinen für 20 Millionen Dollar ab. Da die lateinamerikanischen Kolonien ohnehin bereits (zumindest de facto) von ihren einstigen iberischen Kolonialherren unabhängig waren, dominierten die USA damit den Doppelkontinent und schickten sich an, ein eigenes Kolonialreich im Pazifik zu gründen. Im Gegensatz zu Europa nannte man es allerdings nicht „Kolonien“ und plante keine so großflächigen Besitznahmen wie die Europäer das taten, sondern dachte eher in Handels- und Militärstützpunkten.

Amerikanische Truppen erklimmen die Mauern von Peking
Es überrascht nicht, dass die USA 1901 ganz selbstverständlich an der Seite der europäischen Kolonialmächte an der Niederschlagung des Boxer-Aufstands teilnahmen. Die Boxer, eine chinesische Protestbewegung gegen die westlichen Einflüsse auf ihr halb kolonisiertes und zur Bedeutungslosigkeit reduziertes Land, hatten durch Angriffe auf Botschafter Europas eine de-facto-Kriegserklärung abgegeben. In einer entfernt an die Geistertanz-Bewegung erinnernden Welle der Spiritualität (obwohl es natürlich keine Verbindung zwischen den Boxern und den Indianern gab) brachten sich die Boxer in einen Zustand spiritueller Ektase, von der sie sich Unverwundbarkeit gegenüber den Kugeln der Kolonialherrn versprachen. Das Resultat war ein Gemetzel an den Boxern und die Unterwerfung Chinas unter die Handelsinteressen Europas und, erstmals, der USA. 

Die USA begriffen sich erstmals auch in der breiteren Öffentlichkeit als eine Großmacht mit „natürlichen“ Interessen jenseits ihrer eigenen Grenzen. In den Tagen vor Beginn des Ersten Weltkriegs war die Nation äußerlich konsolidiert und hatte sich in eine aktive Macht verwandelt, mit der auf internationaler Ebene gerechnet werden musste und von der niemand klar sagen konnte, wie sie sich verhalten würde, am allerwenigsten die Amerikaner selbst. Man war sich einig darin, dass man keine „typisch europäische“ Kolonialmacht sein wollte – das Manifest Destiny sah schließlich die Verbreitung amerikanischer Werte vor – aber gleichzeitig war man überzeugt, besser als die Nationen ohne Großmachtstatus zu sein und daher das Recht auf ein Eingreifen in deren Souveränität zu besitzen und ihre Bevölkerung als minderwertig zu betrachten. 


Anti-katholische Karikatur
Genau dieser Überlegenheitsdünkel führte zu einer Bewegung namens Nativism, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts aggressiv Stimmung gegen Einwanderer gemacht hatte, um 1900 herum aber eine erneute Blüte erlebte. Der Nativism ging davon aus, dass einige Nationen über „besseres Blut“ verfügten als andere – besonders England, Schweden und Norwegen wurden mit positiven Eigenschaften bedacht, während Osteuropäer, Südeuropäer, Iren und Asiaten (Latinos spielten damals noch keine Rolle) negative Eigenschaften zugeschrieben wurden, die eine Vereinbarkeit mit amerikanischen Werten wenn nicht ausschlossen, so doch zumindest in Frage stellten. In einer unheimlichen Parallele zu heutigen Migrations- und Integrationsdiskursen unterstellte man den Einwanderern, dass ihre Religion – der Katholizismus – unvereinbar mit amerikanischen Werten sei und sie im Geheimen das Ziel anstrebten, die USA in einen Vasallenstaat des Vatikans zu verwandeln. Man echauffierte sich über die hohen Geburtenzahlen der Migranten und fürchtete eine Überfremdung des eigenen „Volkes“. Die Migranten seien, entweder vom Blut (Genetik war noch nicht bekannt) oder von kulturellen Werten her außerdem faul und kriminell veranlagt. Die überdurchschnittliche Repräsentation besonders der Italiener (etwa in Chicago) und Iren (etwa in Atlantic City) in der organisierten Kriminalität schien diese Annahmen zu unterstützen.

Einwanderer, die in New York die großen Auswanderungsschiffe verließen, sahen sich daher häufig bei der Arbeitssuche Schildern ausgesetzt, die in klaren Worten ihre Unerwünschtheit deutlich machten: "Irish Need Not Apply" (Iren brauchen sich erst gar nicht zu bewerben) "No Wops Allowed" (Kein Zugang für Spaghettifresser) und "The Chinese Must Go" (Die Chinesen müssen verschwinden) zeigten, dass das Versprechen, das man auf die Freiheitsstatue graviert hatte – Give me your tired, your poor, Your huddled masses (Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure zusammengedrängten Massen) – für die Amerikaner eine Drohung geworden war. Die Migranten wurden so künstlich in eine Unterschicht gepresst, in der viele als einzigen Ausweg aus billiger, schwerer Arbeit die Kriminalität sahen, was die Vorurteile nur zu bestätigen schien. Der Aufstieg des Nativism zeigt sich auch deutlich in politischen Maßnahmen jener Zeit, wurden doch Quoten für Einwanderer festgelegt: Während es für die „erwünschten“ Ethnien wie Engländer oder Skandinavier praktisch keine Begrenzungen gab, wurden Süd- und Osteuropäer kaum mehr ins Land gelassen. 


Carl C. Brigham, um 1914
Eine weitere unschöne Parallele zu heute ist die Rolle der Wissenschaft. Auch um 1900 machten sich Gegner der Migration scheinwissenschaftliche Argumente zu eigen, um ihre Forderungen zu unterstützen. Eine traurige Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang vor allem der Psychologe Carl C. Brigham. Er brachte 1915 eine Studie heraus, die die Intelligenz von Einwandern untersuchte (mit genauso dubiosen Methoden, vor allem passend zusammengestellten IQ-Tests) und offiziell feststellte: "The intellectual superiority of our Nordic group over the Alpine, Mediterranean, and negro groups has been demonstrated." (Die intellektuelle Überlegenheit der nordischen Gruppe über die alpine, mediterrane und Neger-Gruppe ist bewiesen worden.) Zur Ehrenrettung Brighams muss man sagen, dass er diese Theorien in den 1920er Jahren vollständig widerrufen hatte, was aber Politiker nicht daran hinderte, sie für die Einführung schärferer Einwanderungsgesetze 1924 zu missbrauchen. Für die Einwanderer, die bereits im Land waren, plante man eine umfassende „Amerikanisierung“. Dazu gehörten vor allem Bücher und Pamphlete, in denen die Einwanderer aufgefordert wurden, ihre bisherige Kultur aufzugeben und stattdessen die amerikanische anzunehmen – ähnlich dem heutigen Integrationsdiskurs also wurde eine totale Assimilation gefordert, eine Annahme „unserer“ Werte und ein Ablegen der „fremden“ Werte. Dass diese „amerikanischen“ Werte ebenfalls von Einwanderern verschiedenster Couleur geprägt worden waren, ist damals wie heute in der hysterischen Debatte völlig untergegangen. Während dieser „Amerikanisierungsprozess“ andauerte, steckte man die Migranten vor allem dahin, wo man sie nicht oft sehen musste und wo sie „den Wert harter Arbeit“ kennenlernen konnten: Textilfabriken, Minen und häusliche Dienstleistungen für die Oberschicht.

Weiter geht's in Teil 2. 

Literaturhinweise:
Videospiel "Bioshock Infinite", das sich mit den hier besprochenen Ideen und Ereignissen auseinandersetzt und die Inspiration für diesen Artikel bot: PC, PS3, X360
Bildnachweise: 
American Progress - John Gast (gemeinfrei)  
Bigfoot - Department of Defense (gemeinfrei)
Peking - Department of the Army (gemeinfrei)
Karikatur - Alma Bridwell White (gemeinfrei)
Brigham - unbekannt (gemeinfrei)

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