Von Stefan Sasse
Teil 1 findet sich hier. In ihm wurde beschrieben, wie Irland seit der Personalunion mit der englischen Krone eine wechselhafte Beziehung mit England unterhielt und vor allem durch seine inneren Konflikte gespalten war, die entlang der Konfessionsgrenzen und Besitzverhältnisse verliefen. In Teil 2 wurde deutlich gemacht, wie die Politik der britischen Regierung und des Parlaments eine immer stärkere Wechselwirkung mit Irland entwickelten, in dem sich eine nationalistische Bewegung zu bilden begann und stets an Boden gewann. Als Großbritannien sich für die Selbstverwaltung Irlands, die Home Rule, entschied, hatten die Devolutionisten, die die totale Unabhängigkeit wollten, bereits deutlich an Boden gewonnen. Teil 3 beschrieb die zunehmende Gewaltbereitschaft zwischen den Unionisten in Ulster und den Nationalisten im Rest des Landes und die Konflikte um die Home Rule und wie diese Konflikte durch den Ersten Weltkrieg erst vertagt und dann verschärft wurden. In Teil 4 wurde gezeigt, wie die Iren den bewaffneten Kampf gegen die Briten aufnahmen und bereits in diesen Tagen der inner-irische Konflikt zu einer Art verdeckten Bürgerkrieg wurde. Auch die irische Nationalbewegung spaltete sich über das Ergebnis des Konflikts - die Teilung Irlands und den Dominion-Staus - und begann den bewaffneten Kampf gegeneinander. In Teil 5 haben wir gesehen, wie die Spaltung in offenen Bürgerkrieg ausartete, der letztlich mit der Niederlage der Radikalen und dem Tod vieler Moderater endete. Profitiert hat vor allem Großbritannien, das die Unabhängigkeit Nordirlands als Ganzes sichern konnte. Viele strukturelle Probleme blieben jedoch in beiden Ländern bestehen und noch ungelöst. Teil 6 beschrieb die Etablierung der beiden irischen Staaten und ihren Weg durch die Wirren der 1930er und 1940er Jahre. Besonders die latente Unruhe in Nordirland und der Versuch einer Modernisierung der irischen Wirtschaftspolitik wurden dabei aufgezeigt.
Bürgerrechts-Mural in der Bogside, Derry |
Zu Beginn der 1960er Jahre war Nordirland weitgehend ruhig geworden. Abgesehen von periodisch auftretenden Unruhen besonders an der Grenze, die allerdings nie eskalierten, geschah nichts mehr. Das Land war entlang der Konfessionsgrenzen stark territorial segregiert; nicht nur ballten sich Katholiken und Protestanten im Westen und Osten des Landes; die ländlichen Regionen waren eher katholisch, die städtischen eher protestantisch geprägt. Auch innerhalb der Städte gab es klar voneinander abgetrennte Wohnviertel, die fast ausschließlich von einer bestimmten Konfessionsgruppe bewohnt wurden. Dazu kam, dass die Gruppen sich selbst schon fast als Ethnien wahrnahmen und auch entsprechend bewerteten; so waren viele Protestanten davon überzeugt, dass nur Protestanten Iren sein konnten und dass die Katholiken gewissermaßen einer minderwertigeren Rasse angehörten, ähnlich amerikanischen Vorurteilen gegenüber der afro-amerikanischen Bevölkerung. Diese Sicht der Dinge fand auf katholischer Seite durchaus ihre Entsprechung.
Trotz allem war die Lage zu Beginn des Jahrzehnts bis etwa zu seiner Mitte relativ ruhig. Dann allerdings explodierte der stets latent vorhandene Konflikt in einer Reihe von provokativen Aktionen, die durch die beginnende Bürgerrechtsbewegung der Katholiken in Nordirland hervorgerufen wurde. Die Bürgerrechtsbewegung benannte dabei einige real existierende Benachteiligungen der Katholiken in Nordirland. Dazu gehörte eine Diskriminierung bei der Einstellung (ganz besonders im Öffentlichen Dienst, aber auch anderswo), was sogar mit Dokumenten belegt werden konnte; ein diskriminierendes Wahlrecht, das auf dem Stand des 19. Jahrhunderts zurückgeblieben schien und nur "Haushaltsvorständen" eine Stimme gab; die Zuweisung von Sozialleistungen auf Basis der Konfession; die Diskriminierung beim Zuschnitt der Wahlbezirke, die Protestanten wesentlich größere Repräsentation im Parlament gab ("Gerrymandering") und vieles mehr.
Erinnerung an den Marsch auf Derry 1968 |
Die Aufmerksamkeit, die die Bürgerrechtsbewegung erzielte beunruhigte viele Loyalisten (wie sich die königstreuen Protestanten in Nordirland in Abgrenzung zu der friedlichen Bürgerrechtsbewegung und der terroristischen IRA nannten), was 1966 weder durch die Sprengung der Nelson-Säule in Dublin durch die IRA noch durch zahlreiche Osteraufstands-Gedenkmärsche zum 50. Jahrestags des Aufstands 1916 verbessert wurde. Die Gemüter auf beiden Seiten erhitzten sich, und obwohl die nordirische IRA schlecht bewaffnet und organisiert und kaum zu Aktionen in der Lage war, versuchte sie mit aller Macht den gegenteiligen Eindruck zu erwecken - ein Propagandaschachzug, den aufzugreifen den Loyalisten sehr gelegen kam, die ihrerseits noch im selben Jahr die "Ulster Volunteer Force" als paramilitärischen Verband wiedergründeten, die seinerzeit im Bürgerkrieg gegen die IRA gekämpft hatte.
Damit war die Bühne bereitet, und die nächsten drei Jahre sahen eine rasant steigende Zahl von Gewalttaten der UVF gegen Katholiken und, in geringerem Umfang, der IRA gegen Protestanten. Die Lage wurde dadurch nicht besser, dass die nordirische Polizei (RUC) wohl nicht unbegründet im Verdacht stand, die UVF zu decken und ihre Angriffe nicht zu verhindern, dafür umso härter gegen die IRA vorzugehen. Diese Konfliktlinie führte 1968 zu einer ersten Explosion. Die Bürgerrechtsbewegung plante einen großen Marsch nach Derry (nachdem bereits vorher andere Märsche abgehalten worden waren), den die RUC verhindern wollte. Polizisten kettelten die friedlichen katholischen Demonstranten ein und schlugen sie brutal zusammen. Der Zwischenfall wurde von anwesenden Kamerateams gefilmt und ging um die Welt; das Resultat waren zweitätige Unruhen in Derry und Umgebung.
Mural für die UVF, Belfast |
Dasselbe Spiel wiederholte sich, als eine neu gegründete Studentengruppe - People's Democracy - einen viertägigen Marsch von Belfast nach Derry unternahm. Polizei und UVF-Schläger attackierten sie wiederholt, einmal sogar mit Eisenstangen, Pflastersteinen und Flaschen bewaffnet, und griffen sie in Derry erneut an. Einige Einwohner Derrys bauten Barrikaden und verwehrten der Polizei Zugang zu ihren Vierteln; im Anschluss wurde das "freie Derry" proklamiert. Die Zustände wurden bürgerkriegsähnlich. Im Frühjahr 1969 beschlossen die Loyalisten, die Regierung, die ihnen nicht entschlossen genug gegen die Katholiken vorging, zum Rücktritt zu zwingen. Mit insgesamt sechs Bombenanschlägen in Dublin, die zweitweise Strom und Wasser abschalteten und die der IRA in die Schuhe geschoben wurden. Der Plan ging auf, und Premierminister O'Neill trat im April 1969 zurück.
Derry blieb weiterhin das Zentrum der Auseinandersetzung. Nachdem die RUC bei Hausdurchsuchungen durch exzessive Gewalt gegen Zivilisten sogar für Todesopfer sorgte, goss die neue Regierung noch Öl auf die Flammen, indem sie der loyalistischen Gruppe "Apprentice Boys" erlaubte, eine Demonstration entlang der Grenze zum katholischen Bogside-Viertel in Derry abzuhalten. Innerhalb kürzester Zeit bekämpften sich beide Seiten und die RUC griff ein und nutzte Tränengas, Wasserkanonen und gepanzerte Fahrzeuge um die Streithähne zu trennen. Die Straßenkämpfe dauerten fast zwei Tage. Als Antwort darauf protestierten die Katholiken vor RUC-Basen und blockierten einige, was zu erneuten Kämpfen führte. Die Panzerfahrzeuge der RUC schossen in Derry mit Maschinengewehren auf die Apartmenthäuser der Katholiken und erschossen einen neunjährigen Jungen.
Katholisches Banner in Derry |
Inmitten dieser Gewalt und Chaos hielt der irische Ministerpräsident Jack Lynch eine Rede, in der die Handlungen der RUC einseitig verurteilte, die UNO aufrief eine Friedenstruppe zu schicke und erklärte, dass "Irland nicht länger tatenlos zusehen" könne. Die einzige Lösung, die er sehe, sei die Wiedervereinigung. Die irische Armee errichtete Feldlazerette direkt an der nordirischen Grenze, um verletzte Katholiken zu versorgen. Er gab sogar einen geheimen Befehl an die Armee, die gewaltsame Evakuierung des katholischen Nordirland zu planen - was erst 30 Jahre später bekannt wurde. Die Straßenkämpfe in Derry einstweilen wurden druch das direkt Eingreifen der britischen Armee, die Truppen in Nordirland stationierte, zum Erliegen gebracht. Neun Menschen waren tot, über 750 verletzt (davon 133 mit Schusswunden), 400 Häuser und Geschäfte zerstört.
Keine der beiden Seiten war unschuldig am Ausbrechen des Konflikts, aber der Löwenanteil der Schuld liegt sicher bei der nordirischen Seite. Nicht nur sah man den gegenseitigen Provokationen der protestantischen Loyalisten und der katholischen Nationalisten tatenlos zu, man ergriff auch noch Partei für die Loyalisten. Auch das Eintreffen der Armee, der die Katholiken zuerst mehr vertrauten als der RUC, besserte die Lage nicht, da die Armeeführung diplomatisch nicht sonderlich bewandert war und die Beziehungen zu den Katholiken schnell einfroren. Für einen kurzen Moment jedoch legte sich wieder etwas Ruhe über das Land.
Protestantisches Graffitti in Belfast |
1970 flammte der Konflikt dann mit voller Härte wieder auf, denn die IRA hatte ihre anfängliche organisatorische Schwäche gegenüber der UVF aufgeholt. In Derry, das immer noch Zentrum des Konflikts war, waren viele Teile der Stadt für die britischen Behörden effektiv No-Go-Areas, in die selbst mit 1-Tonnen-Panzerfahrzeugen nicht mehr eindringen konnten. Innerhalb dieser Bezirke hatten sich zwei verfeindete IRA-Strömungen eingenistet, die "Official IRA", die gewissermaßen der politische Arm der irischen IRA war und gewaltsame Auseinandersetzungen ablehnte, und die "Provisional IRA", die den bewaffneten Kampf als einzige Lösung sah. In der Praxis jedoch bekämpften beide IRA-Organisationen die Loyalisten und die Briten - und sich selbst.
Zwischen 1970 und 1972, den blutigsten Jahren des Konflikts, brach die Gewalt in Schusswechseln immer wieder aus, nicht nur in Derry, sondern auch Belfast und anderen Städten. Ein gewichtiger Grund für diesen Ausbruch war mit Sicherheit der Aufstieg der Provisional IRA und ihrem Fokus auf bewaffnetem Kampf. Die protestantischen Terroroganisationen zahlten in gleicher Münze zurück, was eine Spirale gegenseitiger Morde in Gang setzte. Eine weitere, wenngleich weniger gewichtige Rolle spielte die Strategie der Behörden, die oft ebenfalls auf Gewalt setzten, mit dem Bruch von illegalen Besetzungen oder den überdimensionierten Angriffen auf vermutete Verstecke der IRA, die praktisch zwingend Kollateralschäden bedeuteten. Die Provisional IRA schob ihren Fokus auf den Kampf gegen die britischen Truppen, was angesichts der professionellen Bewaffnung und geringen Toleranz der einen und der irischen Unterstützung auf der anderen Seite ebenfalls einen gewaltigen Anstieg in der Gewaltspirale bedeutete.
Im Juni 1973 begann sich die Lage wieder etwas abzukühlen, als im so genannten "Sunningdale Agreeement" die Republik Irland und die britische Regierung darin übereinkamen, dass Nordirland künftig auch katholisch-unionistische Kräfte mit einbeziehen würde. Die Lebenszeit dieses Abkommens allerdings war kurz: die protestantischen Radikalen akzeptierten es überhaupt nicht, und durch die IRA ging ein tiefer Graben, der die Bewegung spaltete und zu Bruderkämpfen führte. Das Abkommen scheiterte 1974, nachdem das "Ulster Worker Council" (UWC) einen Generalstreik ausrief, der auch vom britischen MI5 massiv unterstützt wurde, der mit dieser Einmischung die regierende Labour-Regierung unter Harold Wilson stürzen wollte. Der Streik wurde von massiven Bombenattentaten begleitet, deren Ursprung bis heuten icht geklärt ist. Die Katholiken traten aus den Sunningdale-Gremien aus.
Literaturhinweise:
Richard English - Armed Struggle - The history of the IRA
Polizeikontrolle in Belfast |
Literaturhinweise:
Richard English - Armed Struggle - The history of the IRA
Bildnachweise:
Bürgerrechts-Mural - Kenneth Allen (CC-BY-SA 2.0)
Gedenkstein - Kenneth Allen (CC-BY-SA 2.0)
UVF Mural - Sitomon (CC-BY-SA 2.0)
Banner - Fribbler (GNU 1.2)
Graffitti - George Louis (GNU 1.2)
Polizeikontrolle - George Louis (GNU 1.2)
Polizeikontrolle - George Louis (GNU 1.2)
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