Sonntag, 3. Mai 2020

Das große Kanzlerranking, Teil 3: Helmut Kohl



Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.

Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.

Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersucht. In teil 2 war es Willy Brandt. Dieses Mal schauen wir zu Helmut Kohl.


KAS/ACDP
10-030 200
CC-BY-SA 3.0 DE

Platz 3: Helmut Kohl (1982-1998)

Helmut Kohl löste 1982 Helmut Schmidt mit dem ersten und einzigen erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum der bundesdeutschen Geschichte ab. Dass dies möglich war, lag an einer internen Machtverschiebung der FDP: Die Kräfte des sozialliberalen Flügels gerieten gegenüber dem wirtschaftsliberalen Flügel ins Hintertreffen. Die FDP betrieb den Koalitionsbruch und wählte Kohl zum Kanzler; dieser baute 1983 seine Mehrheit nach vorgezogenen Bundestagswahlen (auch auf Kosten der FDP) aus.

Er trat mit dem Versprechen einer "geistig-moralischen Wende" an: Weg von den gesellschaftlichen Reformen der sozialliberalen Ära, hin zu einer Rückbesinnung auf das konservative Deutschland von früher, mit einem Schuss Angebotspolitik à la Thatcher und Reagan. Nichts davon geschah. Ohne Ereignisse von außen, die sich Kohl mit unvorgesehener Geschicklichkeit zunutze machte, wäre seine Kanzlerschaft eher in derselben Riege wie Kiesingers und Erhards geblieben.

Innenpolitik

Helmut Kohls Kanzlerschaft war vor allem eine der Kontinuität. In dieser Beziehung steht er seiner politischen Ziehtochter Angela Merkel in wenig nach. Vergleichsweise behutsam fuhr er einiges von dem, was er als Fehlentwicklungen der sozialliberalen Ära sah, zurück. Doch ähnlich wie die SPD akzeptierte die CDU die Bundesrepublik im Großen und Ganzen so, wie sie sie nach dem Koalitionswechsel überreicht bekam. Trotzdem setzte die Regierung Kohl einige Akzente, die die Bundesrepublik wenigstens im Kleinen prägen sollten. Anders als die Festsetzungen Adenauers und Brandts kann man jedoch von den meisten nicht behaupten, dass sie sonderlich groß waren.

Da wäre zuerst die Anerkennung der Umweltpolitik als Thema. Kohl setzte den ersten Umweltminister ein; ein Amt, in dem auch Angela Merkel sich später ihre Meriten verdienen würde. Gerade bei diesem Thema ist allerdings ziemlich unumstritten, dass auch eine SPD-Regierung ein solches Ministerium geschaffen hätte; zu eindeutig war der Zeitgeist. Zwar prägte die Umweltpolitik künftig die deutsche politische Landschaft mit, aber bis zu Schröders Kanzlerschaft war sie eher unter ferner liefen.

Ähnlich wenig bedeutend, wenngleich mit einigen Sekundäreffekten behaftet, war die große CDU-Spendenaffäre. Ich liste sie hier vor allem deswegen auf, weil sie die spätere Kanzlerschaft Merkels überhaupt erst möglich machte. Ohne sie wäre ziemlich sicher Schäuble der nächste CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat 2002 gewesen.

Ebenfalls von späterer Bedeutung war die Schaffung der Pflegeversicherung 1997. Doch auch hier gilt, dass eine solche auch von einer SPD-Regierung geschaffen worden wäre; ihr vergleichsweise geringes Volumen relegiert sie zudem klar gegenüber den bisher untersuchten Sozialstaatsreformen auf die hinteren Plätze. Dies mag sich allerdings in Zukunft noch ändern.

Bedeutender war demgegenüber schon Kohls Steuerreform. In einer mehrstufigen Überarbeitung der Einkommenssteuersätze wurde der "Mittelstandsbauch" beseitigt, der deutsche Steuerrechtler lange zur Verzweiflung getrieben hatte. Gleichzeitig wurden die Höchststeuersätze gesenkt. Dies führte zu sinkenden Staatseinnahmen, die nirgendwo kompensiert wurden, und die schnell zu rasant steigenden Rekordschulden führten. Letztlich war es eine Steuersenkung auf Pump, wie sie ein Wahrzeichen der CDU-Reformpolitik bis zum heutigen Tag geblieben ist.

Einschneidend erweisen sollte sich dagegen die große Asyldebatte. Bereits in den 1980er Jahren forderte die Regierung Kohl eine Überarbeitung hin zu einer deutlichen Verschärfung des Asylrechts, für die sie freilich wegen der notwendigen Grundgesetzänderungen die Zustimmung der SPD brauchte. In diesem Zusammenhang wurde eine deutliche Verschärfung der Sprache in Diskussionen rund um Migration und Integration nicht nur willentlich in Kauf genommen, sondern auch aktiv befördert.

Diese Entwicklung erklomm nach der deutschen Einheit rasch einen neuen Höhepunkt, vor allem unter dem Eindruck des rasanten Anstiegs der Asylbewerberzahlen im Rahmen des jugoslawischen Bürgerkriegs. Angesichts des unsicheren Schicksals der neuen osteuropäischen Demokratien konnte sich die SPD dem Änderungsdruck auch nicht mehr erwehren, weswegen das Asylrecht 1993 deutlich verschärft wurde. Die Debatte stellt kein Ruhmesblatt der Kohl-Regierung dar, schon alleine deswegen nicht, weil die rechtsextremistischen Übergriffe bis hin zum Terrorismus weitgehend ignoriert wurden. Dazu gehört auch, die Gefahr des Rechtsextremismus in Ostdeutschland nicht anzugehen, sondern sich stattdessen anzuschmiegen, wie es etwa die CDU Sachsen tat.

Eine Weichenstellung von kaum zu überschätzender Bedeutung war dagegen die Medienpolitik Helmut Kohls. Während sich Helmut Schmidt noch mit Händen und Füßen gegen die Öffnung des Fernsehens für private Sender gewehrt hatte, gewährte Helmut Kohl dem ganzen Unternehmen, das sein langjähriger Spender gefordert hatte, durch ein exklusives Format ("Zur Sache, Herr Kanzler") reichlich Schützenhilfe. In rascher Folge wurden Sat1 und RTL gegründet und beglücken uns seither mit qualitativ hochwertiger Ware rund um die Uhr.

Doch die medienpolitischen Weichenstellungen der Kohl-Regierung enden nicht im Privatfernsehen, das auch eine breitflächige Verkabelung notwendig machte (Kosten, die, anders als heute schnelles Internet, selbstverständlich vom Staat getragen wurden). Als die Entscheidung anstand, in die angesprochene Verkabelung zu investieren, mussten auch die Telefonleitungen neu gemacht werden. Die Alternativen waren Fieberglas oder Kupfer. Jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung von der Materie hatte, riet in heftigster Weise von Kupfer ab. Kohls Postminister Schwarz-Schilling aber, der Kupferindustrie geschäftlich verbunden, optierte für Kupfer - und verdammte die Bundesrepublik zu der bis heute andauernden Internet-Diaspora mit miesen Verbindungsqualitäten.

Die allergrößte Weichenstellung der Kohl-Ära aber ist natürlich der innenpolitische Teil der Wiedervereinigung. Hier müssen vor allem zwei Stichworte fallen: Treuhand und Aufbau Ost.

Die Treuhand war der Versuch, ohne Verstaatlichungen die Industriebetriebe Ostdeutschlands abzuwickeln. Es wird für ewig umstritten bleiben, inwieweit die Treuhand rein zerstörerisch wirkte und in unnötigem Ausmaß sanierungsfähige Betriebe auflöste und die Filetstücke an den Westen verschacherte, wie ihre Kritiker behaupten, oder wie unmöglich die Sanierung der meisten Betrieb von Anfang an war. Fakt ist, dass die Treuhand der Privatisierung den Vorzug vor Sanierung gab und damit das Schicksal der maroden DDR-Betriebe besiegelte.

Ich tendiere zu der Annahme, dass angesichts der grausigen Lage der DDR-Wirtschaft - das ganze Ausmaß des dortigen Bankrotts wurde erst in den letzten anderthalb Dekaden wirklich ausgeforscht - ein Schwerpunkt auf Sanierung letztlich eine zeitlich nicht begrenzbare Subventionierung unrentabler Branchen bedeutet hätte, mit Niedriglöhnen und ohne Aussicht auf Erfolg. Die Treuhand fuhr demgegenüber eine Schockstrategie, aber ich halte es für zu optimistisch anzunehmen, dass subventionierte Dauerbaustellen den Osten besser befriedet hätten, als angesichts der Massenarbeitslosigkeit der Fall war. Diese kam ob der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit und er verdeckten Arbeitslosigkeit in der DDR (die von Experten auf bis zu ein Viertel geschätzt wird!) so oder so.

Es ist auch nicht bekannt, dass die jahrzehntelang subventionierten Kohlekumpel des Ruhrgebiets und des Saarlands ihr Schicksal mit größerer Fassung getragen hätten. Daher sehe ich am Endergebnis - Massenarbeitslosigkeit und hohe Kosten - letztlich als alternativlos, und die Frage, wo die Kosten entstanden wären, als weitgehend akademisch.

Ähnlich sieht das bei der Weichenstellung für den Aufbau Ost aus. Hier gibt es ein kontrafaktisches Szenario, das ich weiter unten diskutieren will, aber grundsätzlich hätte auch eine SPD-Regierung riesige Transfers installiert, um die Lebensstandards anzugleichen und "blühende Landschaften" zu schaffen. Offiziell sollte dies 20 Jahre dauern; intern rechneten Experten mit 40 Jahren. Diese haben wir jetzt erreicht - und letztlich muss man dem Aufbau Ost eine Erfolgsgeschichte bescheinigen. Die vom Grundgesetz geforderte Angleichung der Lebensverhältnisse ist zwar bei weitem noch nicht erreicht.

Aber wenn man sich ansieht, von welchem Stand man den heutigen erreicht hat, und welche gewaltigen regionalen Disparitäten westliche Länder wie Frankreich, Großbritannien oder gar die USA ohne 40 Jahre realsozialistischer Misswirtschaft kennen, dann muss man vor den Leistungen des Aufbau Ost den Hut ziehen. Kohl hätte sicherlich so manches hier besser machen können. Aber das sind Detailfragen. Die grundsätzliche Stoßrichtung bleibt Notwendigkeit.

Außenpolitik

So durchwachsen Kohls Bilanz in der Innenpolitik auch ist, so unbestritten sind seine Verdienste in der Außenpolitik. Kein Kanzler seit Adenauer konnte Deutschlands Rolle in der Welt so nachhaltig ändern wie Kohl. Er präsidierte (kanzlerte?) über den Wandel Deutschlands von einem primus inter pares zur unangefochtenen Schlüsselmacht in Europa. Dabei wurden Grundsatzentscheidungen getroffen, die durch die Kanzlerschaften Schröders und Merkels nachhallten und auch Merkels NachfolgerInnen binden werden.

Die größte dieser Weichenstellungen ist sicherlich die Wiedervereinigung. Ich werde in der Sektion der nicht gegangenen Wege genauer auf die Gründe eingehen, aber meine grundsätzliche Prämisse ist folgende: Das Zeitfenster für die Wiedervereinigung war sehr kurz. Wir reden von nicht einmal einem Jahr. Entsprechend schnell musste Kohl agieren. Zudem galt es, mit mindestens (!) fünf anderen Staaten eine Übereinkunft zu treffen, von der Konsensfindung im eigenen Land gar nicht zu reden. Das war eine gewaltige Aufgabe. Dass Kohl sie mit Bravour löste, wird immer seine herausragende Leistung bleiben und ist in meinen Augen in der Außenpolitik der BRD unübertroffen.

Das Managment der deutschen Einheit erforderte einige Weichenstellungen. Relativ unbedeutend war das Transferieren einiger Milliarden an die UdSSR, damit diese bis 1994 ihre Truppen abzog. An Geld hat es der deutschen Außenpolitik noch nie gemangelt (anders als der sowjetischen Wirtschaft). Das Bestätigen der weiteren NATO-Mitgliedschaft war ebenfalls unumstritten und beruhigte vor allem die USA.

Wesentlich problematischer war, die Zustimmung von Großbritannien und Frankreich zu erhalten. Hierzu ging Kohl zwei Verpflichtungen ein. Beide waren ihm als überzeugtem Europäer nicht fern. Einerseits blieb das wiedervereinigte Deutschland Mitglied in der EG, während die EG zur EU werden sollte. Andererseits würde diese EU eine gemeinsame Währung einführen, eine Forderung vor allem der Franzosen.

Beide EU-Reformen würden gewaltige Langzeitkonsequenzen haben. Offenkundig ist die Umwandlung der EG in die EU ein Paradigmenwechsel, der mit EU-Staatsbürgerschaft, dem Schengenabkommen und dem Vertrag von Maastricht nur unzureichend umrissen ist und die Lebensrealität weit über Deutschland hinaus maßgeblich geändert hat. Die Einführung des Euro ist eine Grundsatzentscheidung Kohls, deren Auswirkungen erst in der Kanzlerschaft Merkels wirklich spürbar wurden und dort tiefgreifender behandelt werden sollen.

Ebenfalls in Kohls Kanzlerschaft fällt die Entscheidung zur EU-Erweiterung nach Osten (die für die Erweiterung von 1995 war eine logische Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, wegen der Finnland, Schweden und Österreich bislang nicht hatten Mitglied sein können). Auch diese Entscheidung würde in ihrer Tragweite große Konsequenzen haben, die erst in der Kanzlerschaft Merkels wirklich spürbar werden würden.

Allen EU-Entscheidungen aber ist gemein, dass sie von so vielen Akteuren kollaborativ getroffen wurden, dass es schwer ist, sie direkt Kohl zuzuschreiben. Unzweifelhaft stand er ihnen nicht im Weg und hat sie im Sinne deutscher Interessen, wie er sie verstand, beeinflusst. Aber insgesamt muss wohl festgestellt werden, dass diese mehr in die Kanzlerschaft Kohl fallen als von ihr ausgingen.

Deutlich aktiver dagegen sehen wir die Rolle des Kanzlers bei der Bundeswehr und im Balkan. Es war Kohl, der die ersten deutschen Soldaten in den Auslandseinsatz schickte (1994 nach Somalia) und damit ein Grundsatzurteil des BVerfG erforderlich machte, das den Charakter der Bundeswehr als Interventionsarmee grundsätzlich ermöglichte, aber dem Parlamentsvorbehalt unterstellte. Dies wurde kurz darauf sehr relevant, als Deutschland - das neue Gewicht als europäische Regionalmacht nutzend - massiv auf dem Balkan intervenierte und die Auflösung Jugoslawiens vorantrieb. Später steuerte Kohl das Land nach einer Beteiligung an der Friedenserhaltungsmission SFOR auf eine deutsche Beteiligung im sich anbahnenden Krieg gegen Serbien hin. Dieser würde dann von der Regierung Schröder ausgeführt werden, aber die grundsätzliche Entscheidung traf Kohl.

Nicht gegangene Wege

Die Natur der Möglichkeiten zu Weichenstellungen, welche sich Kohl boten, erlaubt einige relevante kontrafaktische Szenarien, vor allem im Rahmen der Gestaltung der deutschen Einheit. Ich hatte eingangs das knappe Zeitfenster erwähnt. Wenn sich die Verhandlungen bis zu Gorbatschows Sturz 1991 hingezogen hätten, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass seine Nachfolger nicht bereit gewesen wären, die DDR so billig aufzugeben wie er. Allein das wirft gigantische Unwägbarkeiten in den Weg.

Es ist aber natürlich auch vorstellbar, dass Kohl die Gelegenheit schlicht nicht ergreift. Sein direkter Konkurrenz Oskar Lafontaine war wahrlich nicht der Einzige, der damals gegen die Einheit war, vor allem gegen die Einheit in dieser Geschwindigkeit. Auch die DDR selbst, sowohl ihre (rapide an Legitimität verlierende) Regierung als auch die Opposition, waren keine Freunde eines Beitritts zum Bundesgebiets. Grundsätzlich wäre etwa eine Art Föderationslösung vorstellbar gewesen - mit kaum zu übersehenden Folgen. Offene Grenzen, direkte Wirtschaftskonkurrenz und der bekannt marode Zustand der DDR würden de facto zu einem Billiglohnkonkurrenten im eigenen Land geführt haben, mit Verwerfungen auch in der westdeutschen Wirtschaft, gegen die die Globalisierung sich wie ein laues Lüftchen ausnimmt.

Ein letztes Szenario wäre ein unkontrollierter Zusammenbruch der DDR, der den gesamten Ostblock ins Chaos stürzt, entweder mit oder ohne Intervention der UdSSR, mit hunderttausenden von Flüchtlingen, die sich in die BRD ergießen. Auch diese Alternative ist vorstellbar - auch wenn man die Übung lieber nicht unternehmen will.

Demgegenüber sind kleinere alternative Szenarien - ein anderer Umtauschkurs der D-Mark etwa oder eine andere Gestaltung der Treuhand - geradezu überschaubar. Die deutsche Einheit war eine Zeit voller Unsicherheiten, die in viele Richtungen hätte ausgehen können. Dass sie so gut ausgegangen ist wie sie ausging - das ist Kohl.

Ein weiteres Szenario, das sich im Umfeld der deutschen Einheit ergibt, wäre das Scheitern des Verhandlungsformats 2+4. Um ein Szenario wie Versailles zu vermeiden, wurden die Verhandlungen auf die vier Siegermächte und die beiden deutschen Staaten begrenzt. Aber wenn, wie teilweise gefordert, auch andere Länder teilgenommen und/oder Reparationsforderungen gestellt worden wären, wären die Verhandlungen anders verlaufen - vor allem deutlich langsamer, was dann zu den bereits beschriebenen Problemen führt. Dies war allen Teilnehmern bewusst. Gerade die Griechen dürften ihre Zustimmung zum Verzicht auf Reparationen aber inzwischen bereut haben.

Ebenfalls spannend wäre die Frage, was geschehen wäre, wenn CDU und FDP darauf verzichtet hätten, ihre jeweiligen Blockflöten zu integrieren. Die SPD hatte ja ein Angebot der moderaten Teile der SED auf dem Tisch liegen, die Partei zu verlassen und zur SPD überzutreten. Dies hätte die Existenz der SED praktisch unmöglich gemacht und der SPD eine Machtstellung im Osten verschafft. Die SPD lehnte dies damals ab. CDU und FDP waren weniger skrupulös; sie vergaben und vergaßen den Blockflöten alles und nahmen ihre Hilfe im Wahlkampf an, den sie danach auch gewannen (nicht ohne Schützenhilfe eines irrlichternden Lafontaine, nebenbei bemerkt). Ein solches Szenario würde ein völlig anderes Parteiensystem im Osten Deutschlands bedeuten, und vermutlich auch eine deutlichere Trennung der beiden Landesteile.

Als letztes Einheitsszenario will ich die Option nennen, den Aufbau Ost als eine Art libertäre Dystopie zu begehen - völlig ohne Transferleistungen und Angleichung von Sozialleistungen. In diesem Fall haben wir einen wesentlich brutaleren Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft, massenhaft Flüchtlinge in den Westen und desolate Landschaften. Zu keinem Zeitpunkt wurde diese Idee auch nur ansatzweise diskutiert - zu offensichtlich waren die Folgen.

Bevor wir Kohls Kanzlerschaft verlassen, brauchen wir noch ein weiteres, zentrales kontrafaktisches Szenario. Eine der schwerwiegendsten Nicht-Entscheidungen Kohls war es, sich auf die Behauptung zu versteifen, Deutschland sei kein Einwanderungsland und keine relevanten Schritte in der Integration der vielen ausländischen Mitbürger zu unternehmen. Dies sollte gigantische Folgeprobleme haben, die zu den Erblasten gehören, die Schröders und Merkels Kanzlerschaften hinterlassen wurden und die auch Merkels NachfolgerIn plagen werden. Fairerweise muss man sagen, dass Kohl dieses Problem von Schmidt, der von Brandt und der es von Kiesinger erbte. Aber es ist nicht schwer, sich ein Szenario auszumalen, in dem Kohl bessere Entscheidungen auf diesem Feld trifft und Deutschland von Anfang an die Realitäten anerkennt, statt sich 25 Jahre lang in die Tasche zu lügen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen