Montag, 4. Mai 2020

Das große Kanzlerranking, Teil 4: Gerhard Schröder

Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.

Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.

Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersucht. In Teil 2 war es Willy Brandt. In Teil 3 schauten wir zu Helmut Kohl. Dieses Mal ist Schröder an der Reihe.


Olaf Kosinsky/Skillshare.eu

Platz 4: Gerhard Schröder (1998-2005)

Schröder war der erste Kanzler, der ohne großes Änderungsversprechen an die Macht kam. Vom "modernen Deutschland" Brandts zur "geistig-moralischen Wende" waren mit den vorherigen Machtwechseln jeweils große Änderungsversprechen verknüpft gewesen. Die SPD bestritt den Wahlkampf 1998 unter dem Slogan "Innovation und Gerechtigkeit". Ähnlich dem Machtwechsel 1969 trat sie also mit dem Versprechen an, das Land zu modernisieren. Anders als 1969 aber war die Idee die einer Überarbeitung bestehender Prozesse. Nicht komplett neue Strukturen sollten geschaffen, sondern die bestehenden behutsam modernisiert werden. Die linken Flügel beider Regierungsparteien waren damit nie wirklich einverstanden, verloren aber den entstehenden Machtkampf rasch. Bereits im Wahlkampf 1998 verkündete die Schröder-SPD dagegen, man wolle "wenig anders, aber vieles besser" machen, kündigte eine "Politik der ruhigen Hand" an - umso ironischer, dass gerade in Schröders Regierungszeit einige der größten Reformen der bundesdeutschen Geschichte fallen. Er ist der letzte der Kanzler, die Deutschland wirklich tiefgreifend verändert haben.

Innenpolitik

Ein ordentlicher Teil der Modernisierungsidee stammte vom kleinen Koalitionspartner, den Grünen. Unter Führung Joschka Fischers fügten sie sich Schröders Maßgabe, dass sie zu wissen hätten, "wer Koch und wer Kellner" sei, und warf damit radikalere Forderungen, wie sie der Grünen-Parteitag 1998 beschlossen hatte ("5 Mark für den Liter Benzin") über Bord. Die Maßnahmen, die die von ihnen geführten Ministerien auf den Weg brachten, waren daher eher kleinteilig. Aber eine Menge kleiner Veränderungen kann sich zu einer großen Änderungssumme mutieren.

Die rot-grüne Regierung bereicherte etwa das ohnehin an Verteilungskonflikten reiche Feld der Agrarpolitik mit einer gehörigen Dosis Bio-Liebhaberei ("Stärkung der ökologischen Landwirtschaft"), die seither bei jeden Koalitionsverhandlungen aufs Neue das Herz der betroffenen Zielgruppen erfreut. Einen weiteren kleinen Beitrag für ein ökologischeres Deutschland bestand im Dosenpfand, das für einige Jahre zum praktisch kompletten Verschwinden der Dosen sorgte, eher der Boom der Einmalverpackungen und neuen Pfandautomaten sie wieder zurückbrachte.

Irgendwo zwischen Symbolpolitik und Umgestaltung des Steuerrechts liegt die Einführung der Ökosteuer, die Benzin verteuerte und die Erlöse in die Rentenkasse leitete - zwei Fliegen mit einer Klappe, quasi. Insgesamt ist die Auswirkung auf beide Bereiche eher klein, aber die Regierung setzt ein Signal - und da die Ökosteuer in beiden Wahlkämpfen 2002 und 2005 ein Thema des TV-Duells war, darf man ihr durchaus Signalwirkung zusprechen.

Wesentlich nachhaltiger dagegen war ein rot-grünes Kernprojekt der ersten Regierungsjahre, der Atomausstieg und der damit verbundene starke Ausbau der erneuerbaren Energiequellen. Der Atomausstieg einerseits war ein Gründungsprojekt der Grünen. Ohne das war eine Koalition kaum zu haben. Der Ausstiegszeitraum war vergleichsweise großzügig gewählt; gleichzeitig sollte mit dem EEG ein gesetzlicher Unterbau zum Ausbau der erneuerbaren Energien geschaffen werden.

Es wird ein ewiger Streitpunkt bleiben, ob das EEG zu wenig oder zu viel war - darin ähnelt es praktisch jeder investierenden Staatstätigkeit seit mindestens den Tagen Keynes'. Fakt ist, dass es den Energiemarkt stark verändert hat. Nicht nur konnten in den Jahren des Förderprogrammes viele Hausbesitzer aus der Mittelschicht und noch viel mehr Hausbesitzer auf dem Mietermarkt ein ordentliches Zubrot durch Solaranlagen auf dem Dach erwirtschaften; der Anteil der Erneuerbaren am deutschen Energiemix stieg auf weltweit führende rund 30%.

Mittlerweile aber stagniert diese Entwicklung seit mindestens einem Jahrzehnt. Die Energiepreise sind im internationalen Vergleich hoch, Deutschland braucht massiv Kohlekraft und die Erneuerbaren sind wegen der ausgelaufenen Subventionen nicht mehr im Wachstum noch international führend. Wir können, erneut, lange darüber streiten warum das ist. Fakt ist, dass es so kam. Die Energiepolitik ist seit der Regierung Schröder ein Dauerproblem jedes Kabinetts.

Ebenfalls in den Bereich dieser Politiken gehören zahlreiche Reformen auf dem Feld des Verbraucherschutzes. Als im Rahmen des BSE-Skandals Renate Künast das Agrarministerium übernahm, fügte sie ihm das Feld des Verbraucherschutzes hinzu, das seither eine deutliche Aufwertung erfahren hat - ein Konstante auch in allen Kabinetten Merkel, von der man erwarten darf, dass sie ein Fixpunkt der deutschen politischen Landschaft bleiben wird.

Dafür, dass Schröder sich so eindeutig-herablassend gegenüber seinem Ministerium für "Frauen, Familie und Gedöns" geäußert hatte, machte die rot-grüne Koalition auch auf diesem Feld einige bemerkenswerte Fortschritte. So wurden die Kinderrechte zum ersten Mal seit Langem 2001 wieder deutlich gestärkt, als ihnen das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zugesprochen wurde. Auch in der Emanzipationspolitik gelangen unter Rot-Grün deutliche Fortschritte.

Die größten gesellschaftlichen Verwerfungen aber brachte mit Sicherheit die Idee des "Multikulti" mit sich. Anfangs noch positiv besetzt, versuchte die Regierung Schröder die Versäumnisse aller bisherigen Regierungen aufzuarbeiten, indem neue Modelle der Integration angewandt wurden. Beispielhaft erwähnt sei hier die doppelte Staatsbürgerschaft (gegen die mobilzumachen sich für die CDU als zwar anrüchige, aber effektive Methode erwies, 1999 die Mehrheit im Bundesrat zu erobern), die reformierte Visa-Vergabe oder die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts.

Man tut vermutlich keinem der Beteiligten Akteure zu viel Unrecht, wenn man feststellt, dass sie in mehreren Bereichen über das Ziel hinaus schossen. Für die Grünen entwickelte sich die arg freigiebige Visa-Vergabe in der Ukraine zu einem veritablen Skandal, der in eine ohnehin wachsende Ablehnung der Multi-Kulti-Idee schlug. Zudem sorgte paradoxerweise gerade der Versuch, eine Integration der Menschen mit Migrationshintergrund zu erreichen, dazu, dass das Thema politisiert wurde: CDU und FDP polemisierten gegen die Integrationsidee, während SPD und Grüne (und die PDS) sich betont optimistisch gaben.

Dabei geriet aus dem Blickfeld, dass weder Integration noch eine multikulturelle Gesellschaft dadurch geschaffen werden konnten, dass man die Leute in wohlwollender Vernachlässigung ließ. Nicht, dass CDU und FDP - die 16 Jahre lang das Problen ignoriert hatten - nun etwas anzubieten hatten; das musste noch bis zur kurzen Bundespräsidentschaft Christian Wulffs warten. Aber auch SPD und Grüne hatten kein echtes Konzept, und das Problem der Parallelgesellschaften plagt uns noch heute.

Die rot-grüne Regierung brachte auch die größte Rentenreform seit 1972 auf den Weg. Hatte man 1999 noch die moderate Kürzung der Kohl-Regierung wieder rückgängig gemacht, legte die Regierung 2004 eine Kehrtwende hin und beschloss eine Kürzung des Rentenniveaus von 53% auf 43% bis zum Jahr 2030 bei gleichzeitiger Höchstgrenze des Beitragssatzes von 22%. Diese beispiellose Kürzung ging mit einer Förderung der privaten Vorsorge unter dem überkomplexen und überregulierten Konstrukt der Riester-Rente einher, die mittlerweile als gescheitert gesehen werden muss. De facto bedeutete die Reform eine starke Kürzung der Rente für alle seit den späten 1950er Jahre Geborenen, vor allem aber für alle, die seit den späten 1970er Jahren das Licht der Welt erblickten. Dass damit das Rentenproblem gelöst worden sei, wird dagegen wohl niemand behaupten wollen.

Auf ewig verbunden aber wird die Schröder-Regierung mit der Agenda2010 bleiben. 2001 setzte Schröder eine Kommission unter Peter Hartz ein, die ein umfassendes Konzept für Arbeitsmarktreformen erarbeiten sollte. Im Wahlkampf 2002 verpflichtete er sich, die Vorschläge der Kommission 1:1 umzusetzen. Das geschah natürlich nie, weil die CDU und FDP im Bundesrat starke Veränderungen durchsetzten. Aber die Grundidee blieb erhalten.

Die Agenda2010 ist letztlich der Versuch, das "Reformstau"-Problem der 1990er Jahre zu lösen, das die zweite Hälfte von Kohls Kanzlerschaft geprägt hatte. Im berühmten Artikel des Economist von 1999, der Deutschland als "kranken Mann Europas" bezeichnete, wurden als Probleme die hohen Zinsen, die Kosten des Aufbau Ost und das hohe Niveau der Sozialabgaben kritisiert. An den ersten beiden Problemen konnte keine Regierung viel drehen. Wie auch der Economist seinerzeit feststellte, war die einzige Drehschraube das Niveau der Abgaben. Und hier setzte die Schröder-Regierung an.

Als zentrales Problem der damals sehr hohen Arbeitslosigkeit wurde ihre strukturelle Natur ausgemacht. Ein großer Teil der Arbeitslosen waren Langzeitarbeitslose. Das war aus zwei Gründen ein Problem. Einerseits wegen der hohen Kosten, andererseits wegen der Verstetigung. Die Hartz-IV-Reform, größte und bleibendste der Hartz-Reformen, schaffte das bestehende Arbeitslosengeld und die parallele Sozialhilfe daher de facto ab und schuf eine Grundsicherung, die, in den Worten von Schröders Regierungserklärung, "im Allgemeinen auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe liegen wird".

Diese Reform veränderte das Leben der Menschen in Deutschland tiefgreifend. Vor allem für die Mittelschichten entstand der Albtraum eines Absturzes ins ökonomische und, vor allem, soziale Nichts, das wegen der Verwerfungen durch die Globalisierung ohnehin wahrscheinlicher war als früher. Kombiniert mit der Sockelarbeitslosigkeit vor allem im Osten führte dies zu wahren Proteststürmen, in denen die PDS den lange gehegten Traum einer Expansion nach Westen erreichen konnte und sich als LINKE neu als Fixpunkt des Parteiensystems etablierte - die erste Anti-System-Partei seit den Grünen 1983. Ob die LINKE eine ähnliche Wandlung durchmachen wird, ist noch immer offen.

Weniger erfolgreich und tiefgreifend waren die anderen Hartz-Reformen, die unter anderem die Selbstständigkeit fördern sollten. Zwar gab es eine kurze Periode des Booms der so genannten Ich-AGs, aber viel ist davon nicht geblieben. Hartz-IV aber bleibt eine Realität der Bundesrepublik, die nicht mehr wegzudenken ist. Selbst die LINKE fordert bestenfalls rhetorisch die Abschaffung der Reform. Noch steht eine historische und soziologische Gesamtbetrachtung der Auswirkungen der Agenda2010 aus; sicher sein dürfte allerdings, dass die rot-grüne Regierung das Antlitz der deutschen Gesellschaft stark verändert hat.

Außenpolitik

Eine außenpolitische Weichenstellung, die sich bereits unter Kohl ankündigte, erhielt in der rot-grünen Ära eine neue Bedeutung: die Intervention im Kosovo 1999. Obwohl Deutschland bereits seit 1997 auf den Konflikt hinsteuerte, bedeutete die Schröder-Kanzlerschaft, dass die Verantwortung für den ersten Kampfeinsatz seit 1945 (und das auch noch ohne UN-Mandat!) ausgerechnet von einem grünen Außenminister und einem roten Verteidigungsminister mit verantwortet werden musste - eine deutliche Abkehr von sowohl den Wurzeln der Grünen (was ihnen die Verunglimpfung der "Olivgrünen" eingetragen hat) als auch der SPD mit ihrer Kritik am Doppelbeschluss unter Schmidt. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr genossen daher in den Folgejahren eine breite Basis im Parlament, wo alle Parteien (außer der PDS bzw. seit 2005 der LINKEn) den Einsätzen zustimmten.

Ebenso bedeutsam erwies sich die Intervention in Afghanistan 2001. Dieses Mal mit UN-Mandat beteiligte sich Deutschland am längsten Krieg der modernen Geschichte des Staates. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchem Gleichmut die Bevölkerung diesem mittlerweile 18 Jahre währenden Engagement gegenübersteht. Inzwischen dienen Soldaten in Afghanistan, die zum Zeitpunkt 9/11 noch nicht einmal geboren waren!

In der Europapolitik steht die rot-grüne Ära eher für Stillstand oder gar Rückschritt, wenngleich das nur teilweise der Regierung zum Vorwurf zu machen ist. Die Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden etwa oder die Stagnation des Einigungsprozesses nach Nizza fallen in diese Kategorie. Auffällig ist dagegen, wie wenig Schröders "Männerfreundschaft" mit Chirac erbrachte; obwohl es an gemeinsamen Initiativen nicht mangelte (ein auffälliger Kontrast zur folgenden Merkel-Ära), etwa im Bereich der Schaffung des "sozialen Europa", fiel die Europapolitik vor allem in ihrer Verfestigung der absurden Agrarsubventionen auf.

Nicht gegangene Wege

Ein erstes spannendes Szenario ist das Ausbleiben eines Bruchs mit Lafontaine. Hätte Schröder - aus welchen Gründen auch immer - den internen Machtkampf verloren und wäre Lafontaines Kalkül aufgegangen, hätte dieser mit seiner Hausmacht als SPD-Vorsitzender das Finanzministerium als Machtbasis dem Kanzleramt beinahe gleichgestellt und eine Art Nebenregierung eröffnet. Das wäre ein völlig anderes Regierungssystem gewesen, als Deutschland je zuvor ausprobiert hat, mit einer stark eingeschränkten Kanzlermacht und deutlich gestärktem Kabinett. Man könnte sagen, es käme der ursprünglichen Idee des Grundgesetzes näher, aber das war 50 Jahre nach dessen Verabschiedung und den Adenauer'schen Prägungen eher unwahrscheinlich. Warum Lafontaine je dachte, damit durchzukommen, bleibt sein Geheimnis.

Die letzte militärpolitische Weichenstellung ist ebenfalls interessant. Wohl auch, um die Wahl 2002 zu gewinnen, positionierte sich Schröder klar gegen den Krieg im Irak und riskierte gemeinsam mit Frankreich den Bruch mit den USA. Angela Merkel sprach sich seinerzeit für eine deutsche Beteiligung aus; angesichts der Teilnahme am Afghanistaneinsatz ist nicht unvorstellbar, dass auch die Bundeswehr 2003 an dem Irakkrieg beteiligt gewesen wäre. Man sollte Schröder in dieser Frage nicht allzuviel Prinzipienfestigkeit unterstellen. In diesem Fall wäre die rot-grüne Regierung ähnlich Tony Blairs Labour in den kommenden Jahren in den Mahlstrom des Konflikts verwickelt worden - einmal abgesehen von den Kosten an Geld und Menschenleben.

Eine Zielsetzung deutscher Außenpolitik während Rot-Grüb zeigt einen beeindruckenden Weitblick, blieb aber letztlich folgenlos: der mit Frankreich unternommene Versuch des Aufbaus einer multipolaren Weltordnung. Mit großer Klarheit sahen die rot-grünen Außenpolitiker das Ende von Amerikas Unilateralismus kommen und hofften, die EU als einen Gegenpol etablieren zu können. Aus verschiedenen Gründen scheiterte das bereits im Ansatz, aber die Vorstellung einer im Zuge der Verfassungsreform von der Achse Paris-Berlin getriebenen deutlich proaktiveren EU-Außenpolitik ist spannend.

Ein letztes außenpolitisches Was-wäre-wenn stellt die gescheiterte EU-Erweiterung in Richtung Türkei dar. Die rot-grüne Regierung setzte sich gegen den erbitterten Widerstand von CDU und FDP, aber auch etwa Großbritanniens, für die Aufnahme der Türkei in die EU ein (übrigens in Übereinkunft mit der Bush-Regierung, mit der man gleichzeitig wegen des Irakkriegs im Konflikt lag). Aus heutiger Perspektive kann man nur froh sein, dass Schwarz-Gelb sich damals durchsetzen konnte (wenngleich der stetige rassistische Unterton damals wie heute problematisch bleibt). Eine EU, in der die Türkei Mitglied ist lässt einen erschaudern. Ein Bündnis von Warschau, Budapest und Ankara? Erschreckende Vorstellung, genauso wie eine EU-Außengrenze zu Syrien. Dieses Szenario hat so viele direkte Konsequenzen, man weiß gar nicht wo anfangen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen