Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.
Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.
Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersucht. In Teil 2 war es Willy Brandt. In Teil 3 schauten wir zu Helmut Kohl. In Teil 4 war Schröder an der Reihe. In Teil 5 ging es mit Angela Merkel weiter. In Teil 6 schauten wir auf Helmut Schmidt. In Teil 7 war Kurt Georg Kiesinger an der Reihe. Den Abschluss machen wir heute mit Ludwig Erhard.
Bundesarchiv, B 145 Bild-F004204-0003 Adrian, Doris CC-BY-SA 3.0 |
Platz 8: Ludwig Erhard (1963-1966)
So kontrovers die Bewertungen von Kanzlerschaften auch sind, würde irgendjemand in einer Geschichte der BRD die von Ludwig Erhard vergessen, den meisten Lesern dürfte es nicht einmal auffallen. Das liegt unter anderem an Konrad Adenauer. Erhard hatte in den 1940er eine deutlich andere Vision von der "sozialen Marktwirtschaft" als sein großer Rivale. Adenauer setzte sich mit seinen Ideen durch, war aber clever genug, Erhards Selbstvermarktung wenig entgegenzusetzen, so dass er zwar der Säulenheilige der Sozialen Marktwirtschaft wurde, den heute sogar Sahra Wagenknecht zitiert ohne rot zu werden, aber mit seinen Vorstellungen nicht durchkam.Als er dann endlich den Posten bekam, den er seit den 1940er Jahren anstrebte - als die CDU ihren alternden Patriarchen 1963 endgültig zum Abschied zwang - musste er mit dem Ruch des Cäsarenmords kämpfen und regierte gerade, als die Wirtschaftswunderzeit zu Ende ging. Auf die einsetzende Wirtschaftskrise hatte er nur wenig Antworten und warf bald entnervt das Handtuch.
Innenpolitik
In der Innenpolitik gibt es eigentlich keine relevanten Weichenstellungen Erhards, weder im Guten noch im Schlechten. Die Wirtschaftskrise vermochte er nicht zu lösen, wohl aber seine in anderer wirtschaftswissenschaftlicher Wolle gewaschenen Nachfolger, weswegen auch hier wenig Bleibendes besteht. Letztlich ist das Wichtigste, das man über seine Ägide hier sagen muss wohl, dass er nichts kaputt gemacht hat.Außenpolitik
In der Außenpolitik gibt es drei Themen, in denen Erhard kleine Akzente setzte.Die erste Öffnung gegenüber der DDR erfolgte mit dem Passierscheinabkommen, das wenigstens in kleinem Rahmen Verwandtschaftsbesuche von West nach Ost ermöglichte und auf dessen Strukturen die späteren Ostpolitik-Abkommen mit der DDR aufbauen würden.
Erhard war zudem ein überzeugter Atlantiker. Er brach die Verhandlungen, die Adenauer mit de Gaulle zu einer strategischen Partnerschaft begonnen hatte, brüsk ab und bekannte bei jeder Gelegenheit die Treue zum transatlantischen Bündnispartner, etwa bei Devisenabkommen zu den Kosten der Stationierung von US-Truppen. Mit Johnson verband ihn ein freundschaftliches Verhältnis, das dieser allerdings nicht wirklich erwiderte. Nach Erhard gab es keinen CDU-Politiker mehr, der ein besonderes Verhältnis zu Frankreich hatte, das vor dem zu Washington gestanden hätte - erste Priorität galt ab da immer dem amerikanischen Bündnispartner.
Zuletzt öffnete Erhard, seinem Führungsstil folgend (dazu gleich mehr) ohne jeden Parlaments- oder Kabinettsbeschluss diplomatische Beziehungen zu Israel, ein damals sehr kontroverser Schritt, der heute eher als Ausdruck moralischen Urteilsvermögens gelten dürfte.
Nicht gegangene Wege
Von Beginn an versuchte Erhard, eine andere Konzeption des Kanzleramts durchzusetzen, als sie von Adenauer geprägt worden war. Darin überschätzte er sowohl seine eigenen Fähigkeiten als auch die Beharrungskräfte der Adenauer'schen Festlegungen. Seine Idee war die eines "Volkskanzlers", der quasi plebiszitär an den traditionellen Strukturen vorbeiregiert. Einem Wirtschaftsexperten wie Erhard lag diese Idee nahe; sich nicht in die Niederungen der Politik begeben zu müssen, hat noch jedem Menschen mit seinem Hintergrund gefallen. Und sie hat noch nie funktioniert. Wäre Erhards Plan, auf Basis seiner eigenen großen Popularität statt auf der Stärke von Fraktion, Koalition und Partei, zu regieren aufgegangen, sähe die Kanzlerschaft heute anders aus. Sie war jedoch von Beginn an realitätsfern und trägt den Keim des Scheiterns bereits in sich.Dazu passt, dass Erhard mit der "Formierten Gesellschaft" ein ambitioniertes Projekt zum kompletten Umbau der deutschen Gesellschaft nach seinen Vorstellungen hatte, das er auch aggressiv in die öffentliche Debatte einzubringen versuchte. Das Konzept sah im Endeffekt eine Überwindung aller Klassen- und Standesschranken vor und träumte von einem einigen Volk, das er dann kraft seines Charismas regieren konnte - eine nicht eben sonderlich demokratische Idee. Bereits in seiner Amtszeit schlug Erhard für diese Ideen harsche Kritik entgegen; die HistorikerInnen sind ihnen gegenüber seither nicht eben aufgetaut.
Ein weiteres kontrafaktisches Szenario betrifft die Änderung des Wirtschaftssystems anhand der Ideen, mit denen Erhard gegenüber Adenauer nie durchdringen konnte. Dazu fehlte ihm jedoch innerhalb der Partei die Machtbasis, insgesamt das politische Geschick, der Wille und auch die Zeit. Grundsätzlich wäre aber vorstellbar, dass unter Erhard eine leichte Amerikanisierung des deutschen Wirtschaftssystems erfolgt, ohne dass einige spezifische deutsche Eigenheiten aufgegeben würden.
Erhard verpasste in den Wahlen 1965 die absolute Mehrheit nur relativ knapp. Dieses Rekordergebnis für die CDU konnte er aber nie in persönliche Macht ummünzen; eine auffällige Parallele zu Willy Brandt und der Wahl 1972. Hätte er entweder die absolute Mehrheit errungen oder aber die FDP die Koalition 1966 nicht platzen lassen, die Große Koalition wäre vielleicht nie passiert. Vielleicht hätte sich die CDU-Herrschaft sogar bis in die 1970er Jahre fortgesetzt.
Ein letztes Szenario betrifft das Frankreich de Gaulles. Erhard trat dem französischen Präsidenten immer sehr kühl gegenüber, aber grundsätzlich hätte er den Angeboten aus Paris, eine verstärkte Sicherheitspartnerschaft unter dem Schirm der force de frappe einzugehen, auch annehmen und damit die USA mittelfristig aus Europa wenn nicht hinausdrängen, so doch zumindest schwächen können - was die erklärte Absicht de Gaulles war. Eine Achse Paris-Berlin mit Schwerkraftzentrum in Paris, die eine unabhängige Außenpolitik verfolgt scheint eher als Fantasterei, weswegen Erhard diesen Pfad auch nicht beschritt. Aber offen stand er grundsätzlich.
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