Montag, 19. Juni 2023

Rezension: Christopher Clark - Revolutionary Spring: Fighting for a New World 1848-1849 (Teil 2)

Teil 1 hier.

Christopher Clark - Revolutionary Spring: Fighting for a New World 1848-1849 (Hörbuch) (Frühling der Revolution: Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt (Hörbuch))

In Clarkes nächstem Abschnitt, Patrioten und Nationen, befasst er sich mit einer damals noch völlig neuen, aber umso wirkmächtigeren Idee: dem Nationalismus. Die Idee der Nation war eine künstliche, auch wenn die Nationalisten alles versuchten, um irgendwelche "natürlichen" Grenzen zu konstruieren. Gerade für Konservative war die Idee oft ein Gräuel, weil sie bestehende Traditionen umwarf und zudem mit einer radikalen Gleichheitsvorstellung verknüpft war: wo die Monarchen aktuell aus Gottes Gnaden regierten, waren sie, selbst mit absoluter Macht ausgestattet, in der Nation doch aus der Masse legitimiert, dem Anathema jedes Konservativen. Die Künstlichkeit der Idee erforderte seitens der Nationalisten einen gewaltigen Bildungsakt: großen Teilen der Bevölkerung musste nahegebracht werden, was die Nation war, wodurch sie sich definierte und dass sie alle dazu gehörten. Der Nationalismus war eine Bewegung vorrangig der jungen Männer, die sie auch mit Gewalt durchzusetzen versuchten. Gleichwohl sollte er nicht mit seinen Auswüchsen gegen Ende des 19. und vor allem dem Schlachten des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt werden: zwar gab es genügend Geschmacklosigkeiten, wie den französisch-deutschen Konflikt um den Rhein ("Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze"), aber der Nationalismus war paradoxerweise eine gesamteuropäische Bewegung, und eine nicht unerhebliche Gruppe von Freiheitskämpfern focht in diversen nationalen Befreiungskämpfen. Der große Gegner aller Nationalisten waren die multiethnischen Reiche, allen voran das der Habsburger, weswegen sie in Wien auch ihren erbittertsten Gegner fanden. 

Nicht alle Menschen hatten allerdings überhaupt den Luxus, sich mit Politik beschäftigen zu können. Der Gegensatz von frei und unfrei war im 19. Jahrhundert noch wesentlich anders konnotiert als heute. Nicht nur waren die meisten europäischen Mächte im 19. Jahrhundert noch Sklavenmächte - die britischen Abolitionsbestrebungen wurden europäisch nicht geteilt, sondern vor allem (und nicht völlig zu Unrecht) als britische Interessenpolitik betrachtet -, die Intellektuellen der Zeit waren auch besessen von der Sklavereimetapher. Frauen waren die Sklavinnen der Männer, die Bürger waren durch die Fürsten versklavt, die Arbeiter von den Fabrikbesitzern, die Bauern von ihren Herren. Diese Masse der Sklavereivergleiche ging mit einer Relativierung und Verherrlichung der Sklaverei einher; die absurde Behauptung, den europäischen Bauern eringe es schlechter als den "zufriedenen" Sklaven der Zuckerrohrplantagen, findet sich bei zahlreichen Autoren. Clark bemerkt, dass die realen Bedingungen der Sklaverei überhaupt keine Rolle spielten und die europäischen Liberalen und Radikalen auch merkwürdig ignorant gegenüber dem Schicksal Haitis waren.

Kapitel 3, "Confrontation", beginnt mit dem Ausbruch der Julirevolution 1830 in Paris. Die wiederhergestellte Monarchie suchte den Konflikt mit dem vergleichsweise machtlosen liberalen Parlament, indem sie nach der konservativen Niederlage in den Parlamentswahlen 1830 den Befreiungsschlag gegen die Reformwünsche in massiver Unterdrückung suchte.

Der erste Abschnitt, "A liberal revolution", geht genauer auf die folgende Revolution ein. Die Liberalen waren wenig überraschend wenig angetan vom Verfassungsbruch und Putsch des Königs, aber da satte 0,3% der Bevölkerung das Wahlrecht besaßen, war kaum damit zu rechnen, dass sich eine Bewegung der Massen für ihre Rechte einsetzen würde. Doch genau das geschah. In mehreren Städten, besonders Nantes und Paris, erhob sich die Bevölkerung und focht bittere Kämpfe gegen die Regierungstruppen. Hunderte von Toten waren die Folge, aber mit Hilfe von Veteranen aus den napoleonischen Kriegen, die erbeutete Kanonen bedienen konnten, wurde das Blatt gewendet. Der letzte Bourbonenkönig floh. Das Parlament wählte den Herzog von Orléans zum neuen König, erweiterte das Wahlrecht auf 0,5% der Bevölkerung, beschnitt sanft die Rechte der katholischen Kirche, gratulierte sich zur moderat-pragmatischen Vernunft und verklärte die Ruhe und Ordnung der Massen in der Revolution und ihr commitment zu liberalen Werten.

Das war zu früh gefreut, denn es blieb noch einige "Unfinished business" übrig. In den nächsten Jahren kam es zu mehreren blutig niedergeschlagenen Aufständen des breiten Volkes, das in den kleinen Reformen der Liberalen nicht den Ausweg aus ihren eigenen Problemen, allen voran der sozialen Frage, erkannte und weitergehende Reformen forderte, die inzwischen die Beseitigung der Monarchie - gegenüber der auch die französischen Liberalen angesichts der enttäuschenden Performance ihres neu gewählten Souveräns merklich abgekühlt waren - als gegebene Forderung annahmen und sich in immer weitergehende Forderungen verstiegen.

Diese Sozialrevolutionäre schrieben nicht nur radikale Pamphlete und versuchten, Widerstand gegen den Staat zu organisieren, sondern wurden auch dafür verhaftet. Die radikale Rhetorik der Sozialrevolutionäre war in den 1830er Jahren nur auf die Linke beschränkt; erst ab 1848 sollten die Rechten und Liberalen sich ihrer Methoden ebenfalls bedienen. Die große taktische Neuerung dieser Sozialrevolutionäre mit ihren Forderungen nach Gleichheit war die Nutzung der Gerichte als öffentliche Bühne: sie sprachen dem Staat jede Legitimation ab, sie überhaupt abzuurteilen und zerbrachen den Konsens, dass Gesetze Konflikte regeln sollten.

Viele dieser Revolutionäre bedienten sich eines "Cult of Clandestinity", niemand so sehr wie der italienische Revolutionär Buanarotti. Er bewegte sich von Versteck zu Versteck, Haftstrafe zu Haftstrafe und organisierte revolutionäre Zellen. Anders als die anderen Autoren der Epoche sah er die französische Revolution nicht in einer erfolgreichen Epoche 1789-1792, die durch die Übernahme Robesperries 1793 zerstört wurde. Er sah in Robespierre vielmehr ein leuchtendes Vorbild und schrieb die erste revisionistisch-positive Betrachtung. Seine Lektion? Kompromisse waren wertlos, was es brauchte war reinigende, revolutionäre Gewalt. Diese Idee würde im 20. Jahrhundert noch düsterste Konsequenzen haben.

Ähnliches gilt für die Ideen Mazinis, eines "Apostles of National Insurrection". Mazini war ein radikaler Demokrat und glaubte an die Gleichheit aller Menschen, aber gleichzeitig war er der Überzeugung, dass das Kollektiv - die Nation - über allem zu stehen habe, weil Pflichten vereinten, während Rechte spalteten. Die Betonung von Rechten in der Französischen Revolution war seiner Ansicht nach der Hauptgrund für deren Scheitern. Es ist leicht zu sehen, warum die Faschisten ihn später kooptierten. Mazini initiierte permanent scheiternde bewaffnete Aufstände und war essenziell in der Herausbildung einer Nationalbewegung wie eines Nationalbewusstseins. Das hatte er mit seinem Gegenstück Garibaldi gemein, der anders als Mazini auch persönlich ein gewalttätiges Leben führte: in Uruguay und Argentinien erlernte Garibaldi das Handwerk des Gauchos und brachte das individualistische Freiheitsstreben dieser Gruppe in die italienische Nationalbewegung ein.

Indessen gärte es auch in Deutschland. In "Political Ferment in Germany" verfolgt Clark die Ausbreitung der Ideen der Revolution von 1830 nach Deutschland, die zahlreiche kleine Aufstände inspirierte, die zur Verabschiedung von Verfassungen in den betroffenen Staaten führten. Das Hambacher Fest 1832 war eine riesige Veranstaltung, die die Macht der liberalen Netzwerke ebenso eindrucksvoll unter Beweis stellte wie das wachsende Gewicht der radikalen Linken und ihrer demokratischen Ideen. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: die deutschen Fürsten verschärften unter Metternichts Federführung die Zensur radikal (und benutzten dazu die Taktiken der Opposition, was sie besonders effektiv machte). Es ist allerdings aufällig, wie sich Stück für Stück eine liberale, vernetzte Öffentlichkeit herausbildete, die landesgrenzenübergreifend in Kontakt miteinander war - eine essenzielle Vorbedingung für die Revolution von 1848.

Clark erzählt anhand Robert Blum, der aus armen Verhältnissen kommend - die "Soziale Frage" am Lebendbeispiel - sich als Autodidakt hocharbeitete und bis 1847 radikalisierte, wie das in der Praxis oft aussah. Blum hatte sich einen Ruf als wichtigster Radikaler in Leipzig erarbeitet, und als die Stadt 1847 über die schlechte Versorgungslage in einen Aufstand zu rutschen drohte, übernahm er die Kontrolle und moderierte, lenkte die Energie in konstitutionelle Bahnen. So erbrachte er den Beleg, dass auch die Radikalen ernstzunehmende Verhandlungspartner waren, was im folgenden Jahr wichtig werden würde.

Wesentlich gewalttätiger ging es im "Schweizer Kulturkampf" zu. Nord gegen Süd, Land gegen Stadt, liberal gegen konservativ und vor allem katholisch gegen protestantisch waren die großen Trennlinien, die zu einer Reihe regionalisierter Verfassungskonflikte und Bürgerkriege führten. Die Schweiz in den 1840er Jahren stellt das beste Beispiel für die zunehmende Bedeutung von Religion dar, die Clark in Kapitel 2 darlegte, und das nicht auf eine positive Art.

Im Osten indes fand die "Radikalisierung Ungarns" statt. Die schlechte wirtschaftliche Lage sorgte 1825 für die Einberufung eines Parlaments. Wie in Frankreich konnte nur ein Bruchteil der Bevölkerung, vor allem Adelige, dieses wählen. Aber die Liberalen errangen auch hier Siege und forcierten eine nationale Entwicklungspolitik, die Wien zu verhindern versuchte. Reformer wie Lajos Kossuth und Mihály Táncsics trommelten für ein magyarisches Selbstverständnis, für eigene ungarische Werte und größere Autonomie. Die Habsburger bekämpften diese Bewegung mit allen Mitteln, aber letztlich gelang es ihnen nur, Märtyrer zu schaffen. Die ungarische Revolte aufzuhalten erwies sich als unmöglich.

In Frankreich indes zeigte sich die "Eclipse of a Bourgeois Monarchy". Die Regierung nach 1830 schien der Triumph der Liberalen, aber die Zufriedenheit mit dem neuen Regime schwand zunehmend, und die reaktionäre Politik des "Bürgerkönigs" entfremdete ihn auch von vielen Liberalen. Als die königliche Regierung im Frühjahr 1848 beschloss, die eigene Unterdrückungspolitik deutlich auszuweiten, explodierte die Situation stattdessen völlig - wie 1830, wie in vielen anderen Ländern auch.

Ein "Triumpf der Moderaten" hatte auch in Italien stattgefunden. Trotz des Radikalismus eines Mazini oder Garibaldi war die Politik der 1830er und 1840er Jahre von einer Vorherrschaft der Liberalen gekennzeichnet. Der König von Piemont-Sardinien inszenierte sich als Hoffnungsfigur der nationalen Erneuerung, und die radikalen Vorstellungen von einer Gleichheit (und Partizipation!) aller Untertanen waren ihm genauso abscheulich wie den Liberalen, die auf seine Einigung des Landes hofften. Der Amtsantritt eines neuen Papstes schien im Kirchenstaat den Anbruch einer zarten Modernisierung zu verheißen (die bald enttäuscht wurde), und der Bourbone auf dem Thron Siziliens war derart reaktionär, dass er nicht einmal den Anspruch Piemonts attackierte, Italien einigen zu wollen, weil er die Idee völlig absurd fand.

Die Polizei und das Militär indessen taten in Clarkes Lesart nichts, um die Revolutionen aufzuhalten. In ihrer Konzentration auf die Unterdrückung revolutionärer Verschwörungen sahen sie den Wald vor lauter Bäumen nicht und wurden von der Massenerhebung völlig überrascht; das Militär, dessen Strategie im Rückzug auf wenige befestigte Punkte bestand, um der Umkreisung durch Verschwörer zu entgehen, war daher nicht imstande, die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Weiter geht's in Teil 3.

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