Teil 1 hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier.
Christopher Clark - Revolutionary Spring: Fighting for a New World 1848-1849 (Hörbuch) (Frühling der Revolution: Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt (Hörbuch))
Die Regierungsbildungen in Paris, Milan oder Palermo ersetzten eine bestehende Regierung. In Wien oder Berlin dagegen kamen neue Minister an die Macht, die sich diese mit alten Ministern und der weiter bestehenden monarchischen Exekutive teilen mussten. All diesen Fällen aber war gemein, dass die neuen Macht(teil)haber aus der Oberschicht kamen. Ihre liberalen Prägungen waren auf punktuelle Reformen zur Verbesserung ihrer Situation ausgerichtet; der breiten Mehrheit, deren Unzufriedenheit und Engagement die Revolution hervorgebracht hatte, konnten sie nur wenig bieten. Clarke spricht hier davon, dass sie die Revolution erbten, sie aber nicht hervorbrachten. Das war nur in Bukarest anders, wo eine kleine, stark französisch ausgerichtete Elite tatsächlich verschwörerisch eine Revolution in Gang setzte. Auch hier aber war es die schmale Oberschicht, die die Regierung zu ihren eigenen Zwecken übernahm.
Zum Liberalismus gehört wie der Deckel zum Topf das Parlament. Überall in Europa wuchsen diese nun in einer Epidemie von "Elect a Parlament" aus dem Boden. Auch hier waren die reichen Liberalen tonangebend; entweder, weil sich die neuen Parlamente aus bestehenden Vertretungen rekrutierten (die ja stets mit extrem engen Wählerkreisen konstituiert waren) oder weil die Auswahlprozesse wie bereits bei den Regierungen entsprechend angelegt waren. Diese Parlamente erfüllten zentrale Funktionen, auch wenn sie (oft) scheiterten: sie etablierten Regeln des parteiischen Streits und brachten diesen größeren Bevölkerungsschichten nahe (auch durch ein blühendes Zeitungswesen), sie schufen ein nationales Bewusstsein (besonders in Italien und Deutschland wichtig und irreversibel) und sie lieferten den Beweis für ein alternatives Regierungssystem. Diese Parlamente waren aber sehr moderat liberal; sie versuchten, die Revolution zu beenden (die, kaum zwei Monate alt, bereits schamhaft aus der Geschichte getilgt wurde) und die Forderungen der breiten Masse abzublocken, vor allem das immer wieder auftauchende Recht auf Arbeit. Aufällig ist, dass diese Parlamente oft bereits demokratischeren Wahlrechten gehorchten als ihre Vorgänger - und verlässlich konservative oder allenfalls moderate Mehrheiten produzierten. Die Radikalen reagierten darauf, wie Linke immer darauf reagieren: sie erklärten, dass das in Wahrheit nicht demokratisch sei und dass das Volk getäuscht werde, da es ja unter tatsächlich freien Bedingungen nicht umhin käme, so abzustimmen wie sie selbst.
Natürlich lag die Hauptaufgabe der meisten Versammlungen neben der eigenen Konstituierung in der Schaffung einer Verfassung, zumindest dem Selbstverständnis nach. Eine solche fehlte in vielen Ländern ja entweder noch oder bedurfte dringend der Liberalisierung. "Draft a Constitution" war aber ein Schlachtruf, den nicht nur parlamentarische Liberale auf den Lippen führten. Clarke unterscheidet drei Arten von Verfassungen: präventive, in denen Monarchen quasi eine Liberalisierung "von oben" verordneten oder die moderaten Liberalen das in die Hand nahmen, um eine Revolutuon zu verhindern; revolutionäre, in denen die Forderungen der Masse, die die Revolution eigentlich machte, zur Geltung kamen (keine von diesen überlebte die Revolution); und reaktionäre, mit denen die Monarchen auf die Revolution reagierten und die hauptsächlich den Sinn hatten, liberalere Entwürfe zu zerstören. So wurde etwa die preußische Verfassung 1849 explizit dazu erlassen, um die liberalere Waldeck-Charta auszuschalten. 1848/49, so das Fazit Clarkes, war der Höhepunkt des liberalen Verfassungsstrebens. Die Verfassungen wurden nun von Zielen, die man erreichen wollte, zu Mitteln. Er sieht einen Wandel von der Konstitutionalisierung zur Administration. Ab sofort würden die Bestrebungen sich darauf richten, die Regierungen selbst durch Partizipation und Verantwortlichkeit zu liberalisieren.
Damit wendet er sich Kapitel 6, "Emancipations", zu. Das Wort "Emanzipation", das aus dem römischen Recht für die Befreiung von Sklaven übernommen war, erlebte zu der Zeit eine Blüte. Es wurde für zahlreiche Gruppen geradezu inflationär verwendet.
Die wichtigste davon waren natürlich die Sklaven selbst. Für sie schlug "The Day of the Abolitionist", als in Frankreich durch das Geschick Victor Schoelchers. Der Abolitionist schaffte es, durch parlamentarisches Geschick und einen festen moralischen Kompass die Versuche der Sklavenhalter, den Prozess aufzuhalten und durch Entschädigungsforderungen zu verhindern, effektiv zu blocken. Die Sklaven wurden endgültig befreit. Clarke betont auch die Rolle der Sklaven selbst: ohne eine ganze Reihe von Sklavenaufständen vor allem auf Martinique zwischen 1815 und 1848 hätte die Sklaverei niemals einen solchen Ansehensverlust erlitten, der Schoelchers Erfolg möglich gemacht hatte.
Insgesamt jedoch fiel das "Black 1848" sehr gemischt aus. Die Begeisterung der Franzosen nahm schnell wieder ab, und die tatsächliche Umsetzung der Befreiung, vor allem ihrer Folgen, schleppte sich. Die Eliten vor Ort bemühten sich nach Kräften, die ehemaligen Sklaven durch Knebelverträge in wirtschaftlicher Abhängigkeit zu halten und bezahlten sie nur mit Anteilen an der Ernte. Dass sich auf diese Weise keine tragfähigen neuen Gesellschaften entwickeln konnten, liegt auf der Hand.
Die Rolle der Frauen indest ist schwierig zu bestimmen. Sie waren gewissermaßen "Waving from Windows", und Clarke verweist darauf, dass die Quellenlage extrem schlecht ist: Schriftquellen über Frauenaktivitäten existieren kaum, weil die Männer das nicht für berichtenswert hielten, und die Darstellungen sind allesamt propagandistisch überhöht. Das gilt besonders für Schilderungen bewaffneter Frauen, die direkt in den Kampf ziehen; sie sind praktisch alle ein literarisches Genre, kein Tatsachenbericht, und wurden entweder aspirationell oder, häufiger, herabwürdigend eingesetzt. Welche Rolle den Frauen in den Kämpfen tatsächlich zukam, bleibt weitgehend unklar.
Weniger unklar ist ihre systematische Ausgrenzung aus dem politischen Prozess. Die Idee war, dass Frauen einerseits natürlich ungeeignet seien, sich politisch zu betätigen, es andererseits aber auch unschicklich sei. Ihnen gebühre der Platz zuhause. Viele "progressive" Maßnahmen der Revolution konzentrierten sich deswegen darauf, die häusliche Sphäre und damit den Status der Frauen aufzuwerten. Diese Anerkennungsversuche wurden aber vielfach blockiert, und nirgendwo wird das so deutlich wie bei den beginnenden Kindergärten. Auf Fröbels Idee der Notwendigkeit frühkindlicher Erziehung aufbauend, wurden in der Revolutionszeit Kindergärten gegründet und formierten sich Vereinigungen von Frauen, die als Erzieherinnen arbeiten wollten. Diese Professionalisierung wurde erbittert bekämpft, weil JEDE Professionalisierung von Frauen als Angriff auf die patriarchalische Gesellschaftsordnung empfunden wurde, auch solche, die explizit in "weiblichen Sphären" wie Kindeserziehung stattfanden.
Wesentlich besser ist die Quellenlage bezüglich der Emanzipation der Juden, die sich in einem Spannungsverhältnis von "Liberty and Risk". Einerseits waren die Liberalen grundsätzlich Verfechter der Rechtsgleichheit, die sich entsprechend im Frühjahr 1848 in zahlreichen Verfassungen und ähnlichen Texten wiederfand. Aber Papier ist bekanntlich geduldig, und weder die unteren Schichten noch die Konservativen waren zur Emanzipation bereit. Während letztere mit politischen Manövern die Umsetzung blockierten, führten letztere - vor allem in Deutschland - Pogrome durch, die für Clarke direkt im Zusammenhang mit der Emanzipation stehen: ihre realistisch möglich Verwirklichung weckte jahrhundertelang leicht reaktivierbare Vorurteilsmixe, die sich in zerstörerischer Gewalt Bahn brachen. Die Liberalen kühlten demnach auch gegenüber der Idee und verfolgten sie nur halbherzig weiter. Zwar war ein Anfang gemacht; die vollständige Emanzipation aber musste bis in die 1870er Jahre warten, und die weitere Geschichte zeigt, wie gefährdet sie blieb.
Ein örtliches Phänomen der Wallachei war die "Liberation of the "Roma Slaves"". Bis in die 1830er Jahre waren die Sinti und Roma in der rumänischen Gegend noch legal von Staat, Kirche und Privatleuten versklavt. Erstere Sklavenverhältnisse wurden in den 1830er Jahren aufgeläst; 1848 brachte auch die Abschaffung der Sklaverei von Privatleuten. Wie auf Martinique ließ die praktische Umsetzung auf sich warten: Es musste garantiert sein, dass die Vorbesitzer staatliche Entschädigung erhielten und dass die Sinti und Roma gesetzlich gezwungen wurden, weiter für sie zu arbeiten, damit sie keine Freizügigkeit besaßen. Man darf wohl sagen, dass sie in dieser Region Europas noch heute auf ihre Emanzipation warten.
Clarke verweist generell auf das Phänomen "The Time of Emancipation": eine anfängliche Begeisterung kühlte sich schnell ab. Besonders bedrückend ist, dass die Gewalt und der Hass gegen die zu emanzipierenden Gruppen in dem Umfang zunahm, indem ihre Gewinnung von Rechten eine politische Möglichkeit und teils sogar Realität wurde. Auch dieses Phänomen lässt sich bedauerlicherweise heutzutage noch 1:1 nachvollziehen.
Damit leitet Clarke zu Kapitel 7, "Entropy", über. Anhand einiger Gemälde der Epoche verdeutlicht er, dass die Revolution bereits im Frühjahr aus disparaten Gruppen bestand, die kaum einig fühlten und handelten.
Stattdessen sei eine "Vagabond Sovereignity" zu beobachten: die Revolution hatte die Macht zwar aus den Händen der alten Eliten genommen (wenigstens teilweise); sie war aber noch nicht klar neu verteilt worden. Die politischen Wende drehten deswegen scharf und unberechenbar. Politische Akteure stiegen und fielen praktisch täglich. Auffällig für dieses Phänomen ist zudem der Aufstieg bewaffneter Gruppierungen aller Schattierungen. Zu Beginn waren es vor allem die Radikalen, die sich von Studenten- über Handwerksverbände in den Städten und in etwas, das Clarke aus dem Italienischen heraus als squadres bezeichnet, formierten. Genauso wie bei den Parlamenten galt auch hier, dass die Gegner der Radikalen (die oft mit Jagdgewehren des 18. Jahrhunderts und ähnlich untauglicher Ausrüstung aufliefen) wesentlich erfolgreicher und professioneller waren. Bald übertrafen deren bewaffnete Verbände die der Radikalen. Zudem verpassten die Radikalen vielfach die Chance (mit Ausnahme von Wien), die Macht dann auch tatsächlich zu sichern; allzu oft ließen sie sie fahren.
Die Radikalen versuchten sich angesichts ihrer offenbaren Schwäche durch einen "Radical Breakaway" neue Geltung zu verschaffen und die Revolution erneut zu entfachen. Im deutschen Kontext sind hier vor allem Hecker und Struwe wichtig; Hecker vor allem wurde zu einer Ikone seiner Zeit, wenngleich Clarkes Behauptung, er sei im deutschen Südwesten heute noch berühmt, angesichts des durchschnittlichen Kenntnisstands über das 19. Jahrhundert haarsträubend ist. Auch in Italien und Österreich gab es solche radikalen Aufstände; nur in Österreich erreichten sie mit der Übernahme der Macht in Wien aber kurzfristigen Erfolg. Sie alle aber scheiterten innerhalb kürzester Zeit und wurden niedergeschlagen; die Anführer gingen oft ins Exil (Hecker und Struwe etwa in die USA, wo sie eine beachtliche zweite politische Karriere hinlegten). Die italienischen Radikalen im Besonderen hatten mit ihrem Aufstand allerdings nie reale Hoffnungen auch eine Machtübernahme verknüpft; sie sahen im heroischen Scheitern vielmehr einen Wert an sich, weil es eine neue Generation mobilisierte und die für revolutionäre Bewegungen so wichtigen Märtyrer schuf.
Weiter geht es in Teil 5.
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