Mittwoch, 21. Juni 2023

Rezension: Christopher Clark - Revolutionary Spring: Fighting for a New World 1848-1849 (Teil 3)

 

Teil 1 hier, Teil 2 hier.

Christopher Clark - Revolutionary Spring: Fighting for a New World 1848-1849 (Hörbuch) (Frühling der Revolution: Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt (Hörbuch))

Verantwortlich für die konterrevolutionären Bestrebungen war Metternich. Der österreichische Fürst war bei weitem nicht der radikalste Konservative seiner Zeit; er war Wandel nicht grundsätzlich abgeneigt, sofern dieser langsam und mit den herrschenden Eliten vereinbar war. Als "The Rock of Order" aber war er das Gesicht der alten Ordnung. Zudem verkrustete Metternichs Denken nach 1815 zunehmend, weswegen er nicht in der Lage gewesen sei, zwischen Reformern und Radikalen zu unterscheiden; für ihn seien alle Liberalen Radikale gewesen, was der Lage nicht unbedingt förderlich gewesen sei. Das Selbstverständnis Metternichs sei das eines Damms gewesen, der die flutartige Wucht der Veränderungen aufhält. 

Die naheligende Folgemetapher ist die von "Cracks in the Dam", die solche Versuche des Aufhaltens von Veränderungen als wenigstens prekär entlarven mussten. Clarke beschreibt zwei solcher Risse im Damm. Der erste war das Pontifikat Pius IX., der als "Reformpapst" Erwartungen weckte, die er unmöglich erfüllen konnte. Die italienischen Nationalisten projizierten ihre Wünsche auf ihn, die er, abhängig von österreichischem Schutz, kaum erfüllen konnte. Nicht, dass die Bourbonen im Königreich beider Sizilien besser wären; sie riefen den Hass ihrer Untertanten durch offensive Missachtung von Reform- und Einigungswünschen auf sich. Einer ähnlichen Situation sah sich Preußen ausgesetzt: der König musste, um die notwendigen Investitionen ins Eisenbahnnetz vornehmen zu können, Schulden aufnehmen. Dies war aber nur mit Zustimmung des Landtags möglich. Als er diesen einberief, weigerte sich der Landtag nicht nur, ihm die Kredite zu gewähren; die Liberalen organisierten sich zudem gegen die partikularistisch-provinziellen Konservativen und erlebte dadurch einen Erweckungsmoment eigener Handlungsfähigkeit.

Eine weitere überclevere Metapher findet Clarke in "The Avalanche", unter der er den kurzen Schweizer Bürgerkrieg der Föderation gegen den Sonderbund 1847 abhandelt. Der komplexe Krieg wurde in Europa intensiv beobachtet und auf die Formel einer liberalen Mehrheit gegen eine jesuitisch-reaktionäre Minderheit verdichtet. Die begeisterte Unterstützung, die die Föderation im liberalen Ausland bekam, ließ tief blicken.

Das war jedoch nichts gegen das in Kapitel 4, "Detonations - I Predict a Riot", beschriebene Phänomen der sizilianischen Revolution im Februar 1848. Von Palermo ausgehend eskalierte eine Serie kleiner Aufstände durch Passivität, mangelndes Selbstvertrauen und Inkompetenz der Regierung in eine volle Revolution. Die Bourbonen hatten zu spät begonnen, zaghafte Reformen einzuleiten, und den Moment verpasst, in dem sie noch die revolutionäre Stimmung beschwichtigen konnten. Keine Maßnahme half, den unorganisierten Volkszorn einzudämmen, der zum Kontrollverlust über Palermo und Sizilien führte. Eine herausragende Rolle nahmen in dieser Revolution auch die britischen, französischen und amerikanischen Offiziere ein, die ihre Schiffe als neutrale Verhandlungspositionen anboten und mal mehr, mal weniger offenkundig für die Republikaner Partei ergriffen. Am Ende musste Leopold II. eine Verfassung für das Königreich versprechen.

Frankreich indessen blieb von revolutionären Unruhen nicht verschont. In "Nouvelles Diverses'" beschreibt Clarke die Erwartungshaltung einer kommenden Auseinandersetzung, die sich in Frankreich in jenen Tagen aufbaute. Während er die Idee einer sich durch Europa ausbreitenden "Welle" der Revolution wegen mangelnder kausaler Zusammenhänge trotz der zeitlichen Korrelation ablehnt, betont er doch die international ausgerichtete Presse, die all die revolutionären Strömungen bündelte.

Nicht kausal von Palermo ausgelöst, aber fast zeitgleich fand "A Revolution in February" in Paris statt. Der Versuch, ein politisches Bankett mit Forderungen nach mehr Repräsentation zu verbieten, sorgte für einen Massenauflauf unzufriedener Bürger*innen. Der fast unvermeidliche Schuss eines in Panik geratenden Soldaten ließ die Lage dann explodieren. Viele Nationalgardisten weigerten sich, ihre Posten anzutreten, und fraternisierten mit der Bevölkerung. Der König dankte ab, und eine neue Regierung proklamierte die Republik. Clarke stellt trocken fest, dass sich die Monarchen auf die falsche Revolution vorbereitet hatten: es gab keine Verschwörung elitärer Zirkel, sondern eine breite Bewegung zahlreicher sozialer Schichten. Bereits im Pariser Februar wurde allerdings sichtbar, dass die sozialen Probleme, die die breite Masse antrieben, den wohlhabenden Liberalen reichlich egal waren.

Die Revolution, nun bereits in Italien und Frankreich Erfolge feiernd, erreichte als nächstes Wien. Die Absetzung Metternichs, der die Geschehnisse gegenüber seiner Frau mit "We are Dead" kommentierte, zeigte den Grad der revolutionären Erregung. Noch mehr als in Paris aber war es eine sozial gespaltene Revolution. Während in Wien selbst die Liberalen den Ton angaben und ihre Treue zum Kaiser betonten (während gleichzeitig in Budapest das Junge Ungarn ausgerufen und die Unabhängigkeit gefordert wurde), kämpfte in den Vororten die Arbeiterklasse für mehr Rechte - und wurde von Nationalgardisten zusammengeschossen, die eben noch in der Kernstadt die liberale Revolution getragen hatte.

Die Frage "Shall we be slaves?" ertönte deswegen in den Arbeiterquartieren Wiens wie Budapests besonders laut. Clarke lenkt den Blick außerdem noch einmal nach Budapest, wo eine nationale Revolution in wildem Gange war und eine Delegation nach Wien entsandt wurde, um dort für die Rechte der Ungarn zu argumentieren. Von den dortigen Geschehnissen wurde die Delegation aber vollständig überrollt. Clarke betont zudem, dass die Krise die Schwäche des Throns gegenüber den adeligen Kabalen aufzeigte, die bereits vor der Revolution die Geschehnisse in Österreich bestimmt hätten; die scheinbare Alleinherrschaft Metternichs war nur eine Mirage.

Ähnliche Erlebnisse wie Wien machte Berlin kurz darauf. Die Forderung "Soldaten raus" ertönte nach den heftigen Barrikadenkämpfen vom März. Diese wiederum waren das Resultat der bereits üblichen Eskalation: die Soldaten versuchten, demonstrierende Menschenmassen ohne allzuviel Gewalt aufzulösen, ein Schuss löste sich, panikartig breiteten sich Gerüchte aus, Barrikaden wurden gebaut. Clarke weist darauf hin, dass diese Barrikadenkämpfe in den bürgerlichen Vierteln stattfanden und einer kuriosen Arbeitsteilung unterlagen: gekämpft und gestorben wurde durch die unteren Schichten, während die Bürger sich auf passive Unterstützung beschränkten. Umgekehrt war die Begeisterung über die Zusagen Friedrich Wilhelm IV. bei ihnen besonders hoch, während die hungernden, ausgebeuteten Arbeiter für sich wenig Positives in einer versprochenen liberalen Verfassung erkennen mochten. Der preußische König agierte in Clarkes Erzählung allerdings sehr geschickt; ein revisionistischer Kontrapunkt zu früheren Darstellungen, in denen er sich schwach und inkompetent den Revolutionären auslieferte. Tatsächlich erhielt er das Ansehen der Monarchie, ein wichtiger Baustein für spätere Ereignisse.

Indessen findet sich der nächste revolutionäre Furor in den "Five Days of Milan". Auch hier eskalierten Konflikte in Straßenkämpfe, dieses Mal mit der österreichischen Besatzungsarmee, und ein von Kaiser Ferdinand II. gesandter Botschafter konnte angesichts des Wiener Machtvakuums wenig ausrichten. Die Österreicher überließen strategisch den Milanesen das Feld, die der ungewissen Zukunft einer piedmontesischen Intervention entgegenharrten, die vor allem die Annexion der Lombardei und weniger das liberale Erwachen Italiens im Auge hatte.

Nicht überall in Europa herrschte allerdings Gewalt. Unter dem Schlagwort "The Dogs that didn't bark" betrachtet Clarke die Lage in den Niederlanden, wo der König durch rechtzeitige - ein zentraler Unterschied zu Wien, Berlin und Paris - Zugeständnisse an die Liberalen die Lage unter Kontrolle zu halten vermochte. Auch in Großbritannien kam es zu keiner Revolution, wenngleich Clarke betont, dass die über 100 Jahre geäußerte Selbstgefälligkeit der Briten darüber eher Glück und Zufall zu verdanken sei; allenfalls das frühe Aufkommen der Chartisten und das gewöhnt Sein an den Umgang mit sozialen Forderungen habe Großbritannien geholfen.

So in jedem Fall war "The End of the Beginning" erreicht. Die Revolution hatte den Großteil Europas erfasst. Clarke stellt heraus, dass die meisten Monarchen sich gar nicht so sehr von den französischen Vorgängen beeindrucken ließen - diese wurden als sui generis aufgefasst - sondern von denen Mitteleuropas. Der niederländische König war von den Vorgängen in Sachsen-Weimar, der preußische König von denen in Wien nachhaltig erschüttert; Paris wurde eher als normal verworfen. Es war gerade die europäische Dimension der Revolution, die die Regierungen so verunsicherte und damit Raum öffnete.

Kapitel 5, "Regime Change", beginnt die Folgen dieser Erschüttertung und Verunsicherung zu untersuchen.

Clarke betrachtet dafür zuerst den "Revolutionary Space". Wir Menschen, so die These, sind räumliche Wesen. Die Revolutionszeit war die Hochphase der Cafés, in denen sich die bessere Gesellschaft (liberale Männer) zur politischen Diskussion und dem Austausch von Neuigkeiten traf. Sie waren quasi eine Art Schnittstelle zwischen den Geschehnissen auf der Straße und in den Regierungsgebäuden. Gleichzeitig setzte eine Umbenennung von Straßen in "Barrikadenstraße" oder "Konstitutionsplatz" ein, die die Revolution überhöhte.

Zu dieser Überhöhung gehörte auch "Honor your Dead", die feierliche Bestattung der Toten der Aufstände. Dabei zeigte sich das Geschichtsbewusstsein der Revolutionäre, die bewusst bereits begannen, die gerade erst begonnene Revolution zu historisieren und ihre eigene Rolle zu inszenieren. Clarke betont, dass in den großen Bestattungen die Bruchlinien, die die Revolution später zerreißen würden, bereits sichtbar wurden. In Wien etwa wurden die proletarischen Toten ausgeschlossen und nur die Bürgerlichen beerdigt. In Berlin versuchte die evangelische Kirche, die Märzgeschehnisse als reinigendes Gewitter zu inszenieren, das das Verhältnis zwischen König und Volk geklärt und zum besseren gewandt habe, während radikalere Redner es eher in den Kontext einer größeren Erneuerung stellten, die noch zu bewerkstelligen war. Und so weiter.

Zumindest wo die Könige gestürzt waren, mussten die Revolutionäre selbst Verantwortung übernehmen. In "Establish a Government" zeigt Clarke, wie sowohl in Paris als auch in Milan provisorische Regierungen gebildet wurden. Der Prozess geschah notwendig chaotisch und ohne klare Verfahrensregeln, und so war das Ergebnis sehr gemischt. Gut vernetzte wohlhabende Bürgerliche fanden sich plötzlich in Machtpositionen wieder, und die Zeitungen spielten eine enorme Rolle in der Propagierung von Kandidaten wie auch im Auswahlprozess. Indessen erfasste die Revolution weitere Orte: in Venedig brach sich die mittlerweile bekannte Kombination sozialer Proteste und liberaler Wünsche Bahn. Wie an vielen anderen Orten wurde eine Nationalgarde instituiert, die, allein aus den wohlhabenden Schichten bestehend, vor allem den Auftrag hatte, das Vermögen dieser Schichten zu stützen, aber auch gegen die Österreicher in Stellung gebracht werden konnte. Das Verweigern sowohl des Zutritts zur Nationalgarde als auch der Anerkennung der vorherigen Kampfesleistung gegenüber den unteren Schichten war ein hässliches Element jener sich überall in Europa wiederholenden Dynamiken.

 

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