Montag, 23. Oktober 2023

Rezension: Shmuel N. Eisenstadt - Die Vielfalt der Moderne (Teil 1)

 

Shmuel N. Eisenstadt - Die Vielfalt der Moderne

Der Begriff der Moderne ist ein unglaublich normativ aufgeladener. Um die Jahrhundertwende das erste Mal benutzt, kennzeichnete er Entwicklungsprozesse des 19. Jahrhunderts in einer stark eurozentrischen Perspektive. Die Zeitgenossen, allen voran Karl Marx und Max Weber, gingen davon aus, dass es einen bestimmten Weg in die Moderne gebe, der nur temporal versetzt wahrgenommen werde. Er zieht sich über die Industrialisierung hin über die Nationalstaatsbildung zu einer gesellschaftlichen Modernisierung. Diese These ist mittlerweile überholt. Bereits zu Webers Lebzeiten fiel Sombart auf, dass die USA nicht über eine sozialistische Bewegung verfügten, wie sie für Europa so typisch war. Über das 20. Jahrhundert zeigte sich, dass weder der Prozess der Nationalstaatsbildung noch die Modernisierung in anderen Teilen der Welt dem europäischen oder amerikanischen Vorbild folgen mochte. Stattdessen gibt es eine Vielfalt von Modernisierungen, die Komparativ untersucht werden müssen. Um die Jahrtausendwende unternahm Shmuel Eisenstadt in einer viel beachteten Vorlesungen, die er später in das vorliegende Buch umwandelte, Genau diesen Versuch.

Freitag, 20. Oktober 2023

Rezension: Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

 

Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Als Christopher Bayly 2004 sein Mammutwerk "Die Geburt der Modernen Welt: Eine Globalgeschichte von 1790 bis 1914" vorlegte, rief er damit ein großes Echo hervor. Die Idee einer Globalgeschichte selbst war für viele Jahrzehnte in der Geschichtswissenschaft außer Mode gekommen und in einer unseriösen Ecke verschwunden, nicht ganz bei kontrafaktischer Geschichtsschreibung, aber doch sehr nahe dran. Bayly allerdings ging mit solcher Sachkenntnis und methodischer Qualität vor, dass sein Werk kaum ignoriert werden konnte und viel diskutiert wurde. Ich habe es seinerzeit gelesen, aber ich muss zugeben, dass es mich damals überforderte. Seither steht es bei mir im Regal und verlangt vorwurfsvoll, noch einmal gelesen zu werden. Dieses Unterfangen ist mit dem Erscheinen von Jürgen Osterhammels ebenfalls nicht unbedingt schlanken Wälzer "Die Verwandlung der Welt" nicht eben nähergerückt. Denn Osterhammel hat 2020 sozusagen seine persönliche Antwort auf Bayly vorgelegt.

Montag, 16. Oktober 2023

Rezension: Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Teil 13)

 

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Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Der Schluss, „Das 19. Jahrhundert in der Geschichte“, beginnt mit der Feststellung, dass das Jahrhundert eine Zeit der Selbstreflexionen gewesen sei. Die Zeitgenossen machten sich permanent Gedanken über ihren eigenen Standort in der Zeit und die Charakteristik ihrer Gegenwart. Osterhammel macht sich dann an die Deutungsangebote des Begriffs der Moderne und weist darauf hin, dass Eisenstadts „multiple Modernen“ der wohl einzig sinnvolle Ansatz sind, den Begriff zu fassen. Was überhaupt mit Moderne gemeint ist, wie sie sich abstufen lässt und wo sie stattfand wurde in der Vergangenheit endlos debattiert, macht für ihn allerdings wenig Sinn.

Freitag, 13. Oktober 2023

Rezension: Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Teil 12)

 

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Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Auf einer gänzlich anderen Ebene verlief ein anderes Strukturmerkmal des 19. Jahrhunderts: die Abschaffung der Sklaverei. Beginnend im britischen Weltreich baute sie entgegen späterer Annahmen nicht auf den Ideen von Adam Smith, dass die Sklaverei wirtschaftlich der freien Lohnarbeit umzulegen sei. Das ist erwiesenermaßen nicht der Fall. Stattdessen war es die Schaffung eines neuen moralischen Bewusstseins und eines massiven moralischen Drucks einer Minderheit, die über einen jahrelangen Prozess ihre moralischen Vorstellungen mehrheitsfähig machte. Als die britische Regierung den Sklavenhandel abschaffte, tat sie dies also nicht aus ökonomischen, sondern moralischen Motiven. Die Royal Navy unterlegte diesen Moralismus mit einer handfesten Komponente und verhinderte durch ihre Politik der Überprüfungen von Schiffen auch von Drittnationen, dass das Vakuum wieder geschlossen werden konnte, dass durch das Ausscheiden der britischen Händler entstanden war.

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Rezension: Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Teil 11)

 

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Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Das Gegenstück des Adels im 19. Jahrhundert war mit Sicherheit das Bürgertum. Es zu definieren, ist noch schwieriger als beim Adel. Man landet immer beim selben Zirkelschluss: Bürger ist, wer sich als solcher definiert. Dadurch ist das Bürgerturm die agilste und durchlässigste Klasse. Gleichzeitig ist sie die, deren Mitglieder am stärksten vom Abstieg bedroht sind. Im 19. Jahrhundert verbreitete sich die Kategorie außerdem um die Kategorie der Kleinbürger, gegen die es mannigfaltige Abgrenzungsbewegungen gab. Die Kleinbürger waren weniger vernetzt und lokaler, als es die traditionellen bürgerlichen Schichten waren. Gleichzeitig sieht Osterhammel in allen Bürgern einen beständigen Drang nach oben, zu einem sozialen Aufstieg.

Freitag, 6. Oktober 2023

Rezension: John Foot - Blood and Power. The Rise and Fall of Italian Fascism

 

John Foot - Blood and Power. The Rise and Fall of Italian Fascism (Hörbuch)

Besonders unter amerikanischen Linken ist es derzeit leider Mode geworden, den Faschismusbegriff inflationär gegen politische Gegner einzusetzen. Gleichzeitig sind Mächte im Aufstieg, die nur noch als protofaschistisch zu beschreiben sind, während in Italien eine Regierung fleißig an der Rehabilitation Mussolinis arbeitet. Es macht daher Sinn, sich mit dem historischen realen Phänomen des Faschismus auseinanderzusetzen und es besser zu verstehen. Den Anspruch, hierzu beizutragen, hat das vorliegende Werk von John Foot. Er möchte die Realität des Faschismus im Alltag der Italiener*innen begreiflich machen, statt eine Art verkappte Biografie Mussolinis zu schreiben. Dieser Anspruch gefällt, weil die systemischen Ursachen deutlich relevanter sind als die in der Person liegenden.

Montag, 2. Oktober 2023

Rezension: John Foot - Blood and Power. The Rise and Fall of Italian Fascism (Teil 2)

 

Teil 1 hier.

John Foot - Blood and Power. The Rise and Fall of Italian Fascism (Hörbuch)

1922 erfolgte dann die Abschlussaktion der Faschisten. Sie vernichteten planmäßig weitere linke Zentren, wobei sie immer offener Hand in Hand mit Polizei, Justiz und Militär arbeiteten. In den Orten, in denen sie die Linke zerschlagen hatten, übernahmen sie danach direkt selbst die Macht und zerschlugen so auch die liberale Demokratie. Widerstand seitens des Bürgertums gab es keinen. Die eigentliche Machtübernahme, der „Marsch auf Rom“, war dann in Wirklichkeit kein Marsch, sondern ein Trip per Eisenbahn, während Mussolini von einem Hotel in Milan aus Befehle per Telegraph erteilte. Ein letztes Mal versuchte ein Liberaler, Widerstand zu leisten: er legte dem König einen Befehl zur Erklärung des Ausnahmezustands vor, so dass das Militär die Faschisten aufhalten würde. Die Militärs selbst erklärten, dass sie dies selbstverständlich tun könnten, die Regierung allerdings nicht das Risiko einer Meuterei auf sich nehmen solle. Der König lehnte die Erklärung ohne ihn ab.