Freitag, 6. Oktober 2023

Rezension: John Foot - Blood and Power. The Rise and Fall of Italian Fascism

 

John Foot - Blood and Power. The Rise and Fall of Italian Fascism (Hörbuch)

Besonders unter amerikanischen Linken ist es derzeit leider Mode geworden, den Faschismusbegriff inflationär gegen politische Gegner einzusetzen. Gleichzeitig sind Mächte im Aufstieg, die nur noch als protofaschistisch zu beschreiben sind, während in Italien eine Regierung fleißig an der Rehabilitation Mussolinis arbeitet. Es macht daher Sinn, sich mit dem historischen realen Phänomen des Faschismus auseinanderzusetzen und es besser zu verstehen. Den Anspruch, hierzu beizutragen, hat das vorliegende Werk von John Foot. Er möchte die Realität des Faschismus im Alltag der Italiener*innen begreiflich machen, statt eine Art verkappte Biografie Mussolinis zu schreiben. Dieser Anspruch gefällt, weil die systemischen Ursachen deutlich relevanter sind als die in der Person liegenden.

Die Erzählung beginnt 1911 mit einem Anschlag. Als italienischen Soldaten befohlen wird, sich nach Libyen aus zu Schiffen um dort für Italien ein Kolonialreich zu erobern, weigerte sich ein Soldat auf die spektakulärstmögliche Weise, indem er sein Gewehr von der Schulter nahm und einen Schuss auf seinen Oberst abgab. Das Militär versucht die Peinlichkeit später zu vertuschen, indem es den Attentäter als geisteskrank abqualifizierte, anstatt ihn zu exekutieren, während die Linke in einem Märtyrer für die gerechte Sache machte. die Episode wirft in jedem Fall ihre Schatten auf die Zukunft voraus.

Nach dieser gefühligen Einstimmung wendet sich Foot dem Thema der Gewalt zu. Im Juni 1914 brach eine Rebellion in weiten Teilen Italiens aus, die aus einem Generalstreik herrührte und für eine Woche das Leben im Land praktisch lahmlegte bevor die Gewerkschaften schlicht den Sieg deklarierten und die Arbeiter nach Hause schicken. Für die Linke bewies dass die Schlagkraft des Instruments Generalstreik, die sich in der Realität nie wiederholen ließ, für den gesamten Rest die eklatante Gefährlichkeit der Linken.

Der Erste Weltkrieg war ein unglaublich polarisierendes Ereignis für die italienische Gesellschaft. Er rief viel Widerstand hervor, viel mehr als etwa in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. Deswegen war die Militärdisziplin innerhalb der italienischen Armee auch wesentlich harscher als in praktisch jeder anderen beteiligten, mit deutlich mehr Todesurteilen, Strafbataillonen und ähnlichem. Auch die Durchsetzung militärischer Disziplin basierte auf wesentlich drakonischeren und deutlich schneller angewendeten Strafen als in vielen anderen Armeen. Dass die italienische Armee im Ersten Weltkrieg zudem eine furchtbare Performance ablieferte und selbst gegen die österreichische Armee nicht bestehen konnte, half in dieser Situation wenig.

Sowohl die Sozialisten als auch die Rechtsradikalen zogen aus dem Krieg ihrer eigenen Helden. Für die Sozialisten waren dies aufrechte Pazifisten, die den Kriegsdienst verweigerten oder protestmaßnahmen organisierten, wä rend auf Seiten der Rechten auf der einen Seite die elitären Sturmtruppen und auf der anderen Seite solche Offiziere besonders hervorgehoben wurden, die mit harschen Maßnahmen - in der italienischen Armee kamen offizielle Dezimierungen systematisch vor! - die Disziplin aufrechterhielten. Diese Polarisierung führte einerseits zu einer Klärung von politischen Lagern, andererseits aber auch zu politischen Wechseln. Der folgenreichste dieser Wechsel war der von Mussolini von einem erklärten Gegner zu einem fanatischen Unterstützer des Krieges, der zu seinem Ausschluss zuerst aus der sozialistischen Zeitung Avanti und dann aus der Partei führte und ihn von ganz links nach ganz rechts zu der frühen faschistischen Bewegung führte. Was diesen Wandel in Mussolini auslöste, wird von Foot allerdings nicht erklärt.

Der Krieg endete zwar mit einem Sieg Italiens, aber bei weitem nicht mit dem Erreichen der gesteckten Kriegsziele. Dieser „verstümmelte Sieg“ (vittoria mutilate) bestätigte beide Seiten in ihrer jeweiligen Haltung: die Sozialisten waren noch überzeugter, dass ihr Widerstand gegen einen sinnlosen Krieg gerechtfertigt war, während für die Rechten in genau diesem Widerstand der Grund für die Niederlage lag. Direkt nach dem Krieg war es die Linke, die sich durchsetzen konnte. Bei den Wahlen 1919 fuhr sie einen großen Sieg ein und die weite Unzufriedenheit brach sich in Streiks und Demonstrationen bahn. Immer wieder kam es zu vereinzelten Aufständen, vorher exilierte Berufsrevolutionäre kehrten unter großem Medienecho zurück und die Arbeiter erreichten ähnliche Erfolge wie in anderen Ländern auch, vor allem Lohnsteigerungen und die Einführung des Achtstundentages.

Die Stimmung schwankte beständig zwischen der Erwartung einer Revolution und einer permanenten Bereitschaft zu Protesten auf der Straße und einem Zurückschrecken vor dem Ernstmachen der eigenen revolutionären Rhetorik. Immer wieder entschlossen sich linke Führer, ihre eigenen Anhänger zurückzuhalten und eine Revolution doch nicht durchzuführen. In einer besonderen Farce gab es sogar an einem Punkt eine offizielle Abstimmung, ob man eine Revolution durchführen wolle oder nicht, die mit einer Entscheidung dagegen endete. Die „Roten Jahre“ 1919/20 Endeten mit einem deutlichen Verlust von Initiative und Schwung auf Seiten der Linken. Doch entscheidend war, dass vor allem das Bürgertum zu dieser Analyse völlig unfähig war und sich in eine Art kollektive Hysterie steigerte, in der es eine absurde Furcht vor den Linken und vor linker Gewalt hatte, die sich zwar real seltenst manifestierte, aber in der Imagination sowohl der Linken selbst als auch der Bürgerlichen permanent präsent war. Aus dieser hysterischen Dauerfurcht er wuchs ein brennender Wunsch nach „Ordnung“ in irgendeiner Form.

Das Jahr 1919 sah auch die offizielle Gründung der faschistischen Bewegung. Sie bestand hauptsächlich aus Schlägertrupps, die sich als squadristi bezeichneten, eine bewusste Anlehnung an die elitären Sturmtruppen des Ersten Weltkrieges. Sie enthielten auch viele Veteranen des Krieges, wie die deutschen Freikorps allerdings auch diverse Cosplayer. Im Gegensatz zu den linken „Revolutionären“ machten die Faschisten von Anfang an ernst mit ihrer gewaltsamen Rhetorik: sie attackierten vor allem Gewerkschaftseinrichtungen und bekannte Linke. Ihre Rhetorik war allerdings nicht revolutionär, sondern behauptete ständig, man wolle „die Ordnung wiederherstellen“. Besonders im Süden fiel ihnen dies sehr leicht, weil sie personell und strukturell mit den Mazzieri verschmolzen, Schlägertrupps der Landbesitzer (bewaffnet mit einem eisenbeschlagenen Knüppel, der mazza), mit denen diese traditionell die Landbevölkerung terrorisierten und damit die Machtverhältnisse stabil hielten. Gewalt war im italienischen Gesellschaftssystem ein integraler Bestandteil, weswegen anders als etwa in Deutschland der Faschismus diese nicht zuerst etablieren musste.

Die Gewalt gegen die Linken war dabei meistens nicht tödlich, sondern zielte auf deren Einschüchterung und Demütigung ab. Neben der Rhetorik von Ordnung Relativierten die Faschisten ihre Gewalt daher permanent, indem sie sie als eine Art Streich oder Scherz darstellten. Sie sprachen über Ihren Terror, als wäre alles nur ein großer Spaß und inszenierten ihn auch entsprechend. Dies erlaubte dem Staat und dem Bürgertum, die massive real existierende Gewalt anders als die überwiegend rhetorische seitens der Linken auszublenden. Die Faschisten dokumentierten ihre Gewalt auch fotografisch, indem sie Gruppenfotos vor und nach der Tat aufnahmen und so das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Diese Gewalt nahm ab 1920 massiv zu und löste so die „Roten Jahre“ mit den „Schwarzen Jahren“ 1920/21 ab.

In diesen Jahren systematisierten die Faschisten ihre Gewalt gegen linke Amtsträger und Gewerkschafter mit dem Ziel, diese aus ihren Machtpositionen zu vertreiben. Immer wieder schlugen linke Gruppen zurück und versuchten ihrerseits Gewalt gegen die Faschisten auszuüben, aber ohne übergeordnete Organisation blieben dies stets vereinzelte Maßnahmen, die stets einen großen Backlash hervorriefen, weil die Staatsmacht sie im Gegensatz zur rechten Gewalt unnachgiebig verfolgte und weil sie die Legitimation der Faschisten zu bestätigen schienen: wann immer die Linken zurückschlugen, war dies ein Beweis für die Rechtmäßigkeit der faschistischen Gewalt, die sich als Verteidiger der Ordnung inszenierte. Die Faschisten inszenierten ihre Gewalt zudem als eine offene und ehrliche, ehrenhafte Gewalt, die direkt mit dem Krieg assoziiert wurde, während sie linke Gewalt als hinterhältig charakterisierten und die Linken selbst als Deserteure bezeichneten, die ihr Vaterland verraten hätten.

In diesen „Schwarzen Jahren“ (nach der offiziellen Uniform der Faschisten, dem schwarzen Hemd) verschmolzen die Squadristi, die Polizei (Carabinieri) und das Militär immer mehr miteinander. Eine Art Auslöser hierfür war ein linker Anschlag auf zwei Militärlastwagen, die Matrosen zu einer Niederschlagung eines Streiks befördern sollten. Diese Militärlastwagen wurden von den Faschisten bei ihren eigenen Gewaltoperationen permanent verwendet, weswegen die Linken der Überzeugung waren, es mit Faschisten zu tun zu haben. Die ermordeten jungen Matrosen schienen alle Vorurteile gegenüber den Linken zu bestätigen und gaben erstklassige Märtyrer für den Faschismus ab, der nun endgültig mit den exekutiven Kräften verschmolz: immer öfter beteiligten sich Polizei und Militär an den Terroraktionen der Faschisten.

Auf diese Art und Weise „säuberten“ die Faschisten ganze Landstriche: in der Nacht umstellten sie das Haus eines Gewerkschaftsfunktionärs oder linken Amtsträgers, ermordeten oder entführten ihn, folterten ihn und zwangen ihn zur Aufgabe seines Mandats. Durch diese methodische „Säuberung“ existierte in vielen Regionen bald keinerlei demokratisch gewählte Regierung mehr. Die Faschisten ihrerseits inszenierten sich als legitime Regierung, indem sie ihre Terrorakte durch offizielle Proklamationen legitimierten, die seitens der Regierung stellen schlicht akzeptiert wurden.

Der Höhepunkt dieser Taktik wurde 1921 erreicht. Trotz massiver Einschüchterung und Unterdrückung gewannen die Sozialisten den größten Anteil der Mandate. Zum ersten Mal waren die Faschisten mit einigen Abgeordneten offiziell im Parlament vertreten. Sie brachten die Gewalt direkt ins Parlament: gewaltsam warfen sie einen Wortführer der Linken heraus und verwehrten ihm und anderen den Zutritt. Die Polizei unterstützte sie dabei und die Liberalen im Parlament gaben der Operation ihren Segen und akzeptierten die faschistische Argumentation, dass der Amtsträger durch seinen Widerstand gegen den Krieg als Vaterlandsverräter gesehen werden müsse. Dieser krasse Verstoß gegen die Ergebnisse einer demokratischen Wahl, die parlamentarische Immunität und jegliche verfassungsmäßige Ordnung war der wohl größte Sündenfall, der die italienische Demokratie de facto tötete.

Der reale Tod folgte kurz darauf. Die Faschisten machten sich daran, ermutigt durch ihre Erfolge und den geringen Widerstand, die Zentren der Sozialisten auszuschalten. Besonders Ravenna hat es Ihnen hier angetan, schon allein, weil die Stadt der Ort der „Roten Woche“ 1914 mit ihrer Gegnerschaft gegen den Krieg war. In einer „Schwarzen Woche“ tilgten die Faschisten in die Erinnerung an das Ereignis genauso aus wie die sozialistischen Machtstrukturen.

Was soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, von den Linken sei keine Gewalt ausgegangen. Die in Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten gespaltene und sich gegenseitig erbittert bekämpfende Linke agierte nur weder so planmäßig noch so propagandistisch geschickt wie ihre Gegner. Ein Beispiel hierfür ist ein anarchistischer Terroranschlag auf ein bourgeoises Theater. Das Ziel war symbolisch und richtete sich gegen den Klassenfeind, sodass sicher davon ausgegangen werden kann, den kompletten Start und die maximal mögliche Breite der Gesellschaft gegen sich zu mobilisieren. Im Prozess inszenierten sich die Täter desinteressiert, während die Familien der Opfer ihre Leidensgeschichten zum Besten gaben, und hielten große Reden von der kommenden Revolution. Die Faschisten indes erklärten die Opfer zu Märtyrern und schworen Rache im Namen der Liberalen Gesellschaft, die sie in Wirklichkeit genauso verachteten.

1922 erfolgte dann die Abschlussaktion der Faschisten. Sie vernichteten planmäßig weitere linke Zentren, wobei sie immer offener Hand in Hand mit Polizei, Justiz und Militär arbeiteten. In den Orten, in denen sie die Linke zerschlagen hatten, übernahmen sie danach direkt selbst die Macht und zerschlugen so auch die liberale Demokratie. Widerstand seitens des Bürgertums gab es keinen. Die eigentliche Machtübernahme, der „Marsch auf Rom“, war dann in Wirklichkeit kein Marsch, sondern ein Trip per Eisenbahn, während Mussolini von einem Hotel in Milan aus Befehle per Telegraph erteilte. Ein letztes Mal versuchte ein Liberaler, Widerstand zu leisten: er legte dem König einen Befehl zur Erklärung des Ausnahmezustands vor, so dass das Militär die Faschisten aufhalten würde. Die Militärs selbst erklärten, dass sie dies selbstverständlich tun könnten, die Regierung allerdings nicht das Risiko einer Meuterei auf sich nehmen solle. Der König lehnte die Erklärung ohne ihn ab.

Daraufhin war der Weg für Mussolini frei. Die Faschisten fielen in Rom ein und nahmen furchtbare Rache an ihren Gegnern. Wie immer wurden Häuser angezündet Besitztümer geplündert und Personen schwer verletzt oder ermordet. Wieso häufig stand die Polizei daneben und tat nichts oder beteiligte sich gleich an dem Terror. Mussolini wurde zum Premierminister erklärt und hielt seine erste Rede im Parlament: es war eine unverhohlene Drohung. Wer sich ihm in den Weg stellte, würde totgeprügelt.

Die Squadristi indes wurden, sofern sie bisher belangt worden waren, in einer Generalamnesie freigesprochen. Diese definierte sämtliche faschistischen Gewalttaten als patriotisch, während sämtliche linke Gewalttaten als anti-italienisch definiert wurden. Damit war auch jede weitere Gewalt der Faschisten legitimiert. Die Squadraisti wurden legalisiert und entweder in bestehende Verbände eingegliedert oder direkt in die neuen Parallelorganisationen, eine staatliche Miliz, überführt. Solche Parallelorganisationen wurden um die neue faschistische Partei herum auf allen Ebenen aufgebaut und stellten die Basis für Mussolinis Machtübernahme dar.

1923 zeigte sich, dass die Demokratie auch im offiziellen Wahlprozess erledigt war: die Faschisten gewannen die letzten Kommunal- und Regionalwahlen bis 1945 schon allein, weil ihre Gegner durch die massive Terrorkampagne gar keine Kandidaten mehr aufstellten. Nach den letzten Wahlen überhaupt - 1924 - wurden sie allerdings übermütig: ein bekanntes Mordkommando ergriff auf offener Straße den sozialistischen Abgeordneten Matteoti und ermordete ihn, was zu einem Proteststurm führte, der die letzte große innenpolitische Krise des Regimes bis zur Wende im Krieg darstellte.

Mussolini selbst nutzte sie, um seine Macht zu sichern. Er übernahm die volle politische Verantwortung für den Mord, was ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr schaden konnte, und er ist damit die Macht innerhalb der faschistischen Bewegung komplett an sich. Danach überzog eine Welle von Schauprozessen Italien. Zu Hunderten wurden Systemgegner oder irgendwelche anderen Leute, die in irgendeiner Art und Weise unerwünscht waren, vor Tribunalen abgeurteilt, die mit einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts mehr zu tun hatten.

Gleichzeitig schrieb der faschistische Staat seine eigene Geschichte neu um. Gehörten aufwendige Bestattungen früher schon zu Ikonographie des Faschismus, wurden nun Bücher herausgegeben, die die Märtyrer der Bewegung offiziell adelten und gleichzeitig eine Art hagiographische Geschichtsschreibung darstellten, in der alle Gewalt von Linken ausging und Faschisten nur als ihre Opfer dastanden - während die Rhetorik gleichzeitig unnachgiebig gewalttätig blieb.

Die Verfolgung von Systemgegnern ging weit über die Zerstörung deren Fähigkeit zur Opposition hinaus. So wurden am Jahrestag des Marsch auf Rom politische Gefangene in den Gefängnissen rituell verprügelt und selbst exilierten Systemgegnern, die zur Unterwerfung bereit waren, häufig genug keine Möglichkeit zur Rückkehr geboten. Wo die Faschisten dies zuließen, war es nur durch öffentliche Demütigung möglich, indem die Betroffenen in der Sprache der Faschisten ihren Irrtum eingestanden und um Gnade baten.

Dadurch existierte in den späteren 1920er Jahren keine interne Opposition mehr. Da der Faschismus aber vom beständigen Kampf gegen andere lebte, suchte er neue Ziele. In den frühen 1930er Jahren fand er diese in den Juden, für die nun eigene Rassengesetzgebung eingeführt wurde, die genauso inkonsistent und albern und dennoch für die Betroffenen zerstörerisch wie in Deutschland war. Es gibt zahlreiche Mythen um diese antisemitische Verfolgungspolitik, etwa dass der italienische Faschismus gar nicht rassistisch gewesen sei oder dass Italo Balbo irgendwie versucht hätte, sie aufzuhalten. All das ist Unfug. Zwar war der italienische Antisemitismus nicht so mörderisch wie der deutsche, aber die Juden wurden auch in Italien verfolgt, weit bevor die Deutschen die Kontrolle übernahmen.

Die Manie der Faschisten mit der Eroberung eines Imperiums fand ihren Niederschlag auch in der Geschichtsschreibung, die eine direkte Linie vom Krieg in Libyen 1912 über den Ersten Weltkrieg zur faschistischen Gewalt und in die Zukunft zog, in der Mussolini Italien ein Imperium zu erobern gedachte. Das erste Ziel war Äthiopien, das 1896 der italienischen Armee eine schmerzliche Niederlage zugefügt hatte, die es nun auszumerzen galt. Mit brutaler Gewalt, Giftgas und Genozid marodierte die italienische Armee durch Äthiopien und eroberte das Land.

Eine rassistische Ideologie bot die Grundlage für die Unterdrückung der dortigen Bevölkerung (selbstverständlich garniert mit der üblichen kolonialistischen Rhetorik von der segensreichen aufgeklärten Regierung fortgeschrittener Europäer über hinterwäldlerische Barbaren) und den Squadristi ein neues Aktionsfeld.

Die Faschisten schafften es hervorragend, die italienische Bourgeoisie und den Papst sowie den König für sich zu gewinnen. Letzterer, der durch seine Verweigerung der Unterschrift unter den Befehlen, sie aufzuhalten, den Marsch auf Rom überhaupt erst möglich gemacht hatte, setzte dieselbe Unterschrift bereitwillig unter sämtliche Dekrete Mussolinis, die die Juden und andere Gruppen diskriminierten, verfolgten und bedrohten. Innerhalb der faschistischen Bewegung selbst gab es keinerlei Opposition oder Widerstand, und auch aus dem Bürgertum war nichts zu erwarten.

Auffallend war, das ist den Faschisten nicht gelang, die Arbeiterklasse für sich einzunehmen. Foot Erklärt, dass das Regime 1939 bereits auf dem absteigenden Ast gewesen sei: die Dauermobilisierung war unbeliebt und die Arbeiterklasse immer noch feindlich gegenüber der Bewegung. Als Mussolini 1940, seiner außenpolitischen Souveränität mittlerweile durch seine eigene verfehlte Politik praktisch beraubt, Hitler in den Krieg folgte, war die italienische Bevölkerung innerlich bereits auf dem Weg weg vom Faschismus.

Dies zeigte sich vor allem beim Arbeiteraufstand von Turin 1943. Es war der erste große Streik seit den Niederschlagungen 1922. Die offene Ablehnungsbekundung seitens Hunderter von Menschen war wie eine Art Dammbruch. Mussolinis Fall kam dann allerdings aus völlig unerwarteter Ecke: ausgerechnet die ihm hörige Parallelinstitutionen des Faschistischen Rats verweigerte ihm den Gehorsam, seine Paladine lockten ihn in die Falle und der König ließ ihn verhaften. Dass der einstig schier gottgleiche Diktator wie ein gewöhnlicher Krimineller von der Polizei abgeführt werden konnte, zerstörte seinen Mythos nachhaltig. Italien er erklärte einen Waffenstillstand gegenüber den Alliierten und schied offiziell aus dem Krieg aus.

Für die Italiener begann der wahre Horror jetzt erst: die deutsche Wehrmacht marschierte in Italien ein und ein langer, zäher und blutiger Krieg begann. Dieser wandelte sich auch gleich in eine Art Bürgerkrieg: antifaschistische Widerstandsgruppen organisierten sich und kämpften gegen ihre einstigen Feinde, die einmarschierenden alliierten Truppen nahmen besonders im Fall der französischen Armee Rache für frühere italienische Gräueltaten, die Wehrmacht beging zahlreiche Kriegsverbrechen und die offiziellen italienischen Stellen steckten mittendrin und führten ihren eigenen Parallelkrieg. Dazu kam die Operettenrepublik des von den Deutschen befreiten Mussolini, die im Norden Italiens ein eigenes faschistisches Terrorregime aufrechterhielt.

Ein größeres Drama aber stellte der italienische Holocaust dar. 1943 wurde auf Grundlage der in den 1930er Jahren erlassenen Rassegesetze begonnen, die Juden zu deportieren und zu ermorden. Wie in so vielen Ländern Europas gelang dies vor allem wegen der Kooperation der einheimischen Institutionen und Bevölkerung. Die Italiener pflegten nach dem Krieg den Mythos zahlreicher Helden, die Juden das Leben retteten, auch hier wieder ähnlich zu vielen anderen europäischen Ländern. Ein sehr großer Teil dieser Mythen hat sich allerdings genau als das erwiesen: Mythen. Historische Forschungen in den letzten 20 Jahren haben allzu oft ergeben, dass entweder viel weniger oder gar keine Rettungen stattgefunden hatten. Stattdessen hatte es viel Kollaboration und Bereicherung gegeben. Alles in allem kein Ruhmesblatt für die Italiener.

Der Fall des faschistischen Systems brachte eine Welle der Gegengewalt mit sich: die Partisanen und ehemaligen Widerstandskämpfer, die unterdrückten Sozialisten und in wenigen Fällen einige der überlebenden Juden nahmen grausame Rache an den Faschisten. Das Ende des Faschismus brachte natürlich nicht das Ende der Faschisten. Der Umgang mit ihnen stellte die italienische Gesellschaft vor dieselben Probleme, die auch die Deutsche mit den Nazis hatte. Der Seitenwechsel Italiens auf die Seite der Alliierten erschwerte die Sache zusätzlich; ein Äquivalent zu den Nürnberger Prozessen gab es nicht. In den seltenen Fällen, in denen ehemalige Faschisten tatsächlich für ihre Schandtaten verurteilt wurden, kamen sie üblicherweise schnell wieder frei; in den meisten Fällen wurden sie mangels Beweisen oder durch Intervention des italienischen Staates gar nicht erst verurteilt.

Ich empfand die Lektüre des Buchs in großen Teilen als frustrierend. Das liegt vor allem an seiner Struktur: einerseits löst Foot sein Versprechen, den Faschismus aus Perspektive der Menschen zu zeigen, nicht wirklich ein; andererseits ist die Schwerpunktsetzung eine sehr merkwürdige, die -  allerdings im Einklang mit dem Titel - praktisch ausschließlich den Aufstieg und den Fall des Faschismus bespricht und die Zeit dazwischen weitgehend auslässt. Da der Einstieg des Buches allerdings explizit mit einer familiären Anekdote gemacht wurde, in der die Großmutter des Autors den Faschismus als eine „großartige Sache“ bezeichnete, hätte man durchaus erwarten können, dass gezeigt wird, woher diese Ansicht kommt. Foot beschäftigt sich aber ausschließlich mit den Proponenten und Gegnern des Systems und nicht mit der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die unter ihm lebten und letztlich keine spezifische Position dazu einnahmen.

Dazu kommt, dass der gewählte Ansatz dazu führt, dass das Buch vor allem aus einer Pastiche biographischer Notizen besteht. Das führt dazu, dass das Ganze weniger ist als die Summe seiner Teile: ich habe in dieser Rezension die Analyse und Schlussfolgerungen weitgehend selbst getroffen; Foot begnügt sich überwiegend damit, (ordentlich recherchierte) Geschichten zu erzählen und aneinanderzureihen. Dieser Ansatz der Personalisierung, der in der angelsächsischen Geschichtsschreibung leider sehr verbreitet ist, wird hier ins Extreme getrieben.

Besonders extrem ist mir dieses Deskriptive aufgefallen, als es um den Fall Mussolinis ging, der ausschließlich als Abfolge von Ereignissen geschildert wird, ohne dass mir klar werden würde, warum Mussolini eigentlich fällt. Zudem fallen einige merkwürdige Leerstellen auf: Graf Ciano etwa wird nur einmal ganz am Rande im Kontext von Mussolinis Fall erwähnt und spielt ansonsten überhaupt keine Rolle. Auch der Kult um Italo Balbo und sein Tod kommen effektiv nicht vor.

Immerhin war die Lektüre insoweit aufschlussreich, als dass sie mir selbst die Bildung von Schlussfolgerungen und Parallelen erlaubte. Ich möchte einige dieser Überlegungen im Folgenden teilen, aber vorher noch einmal klar aussprechen, dass sich davon nichts im Buch findet.

Der Aufstieg des Faschismus erforderte die Kooperation der Liberalen und Konservativen. Dies gilt grundsätzlich für den Aufstieg praktisch aller rechtsradikaler Bewegungen. Ohne diese Kooperation oder doch zumindest das leise Beiseitetreten diese Gruppen wäre es für die Faschisten unmöglich gewesen, die Macht zu ergreifen. Dasselbe gilt für die Sicherheitsapparate: die Faschisten konnten stets darauf vertrauen, dass Geheimdienste, Polizei und Militär auf ihrer Seite waren und sich nicht in den Weg stellen würden, ganz anders als bei den Gewerkschaftlern und den Linksradikalen, die beständig Repression der Staatsapparate ausgesetzt waren.

Es ist auch offenkundig, wie unglaublich bescheuert und kontraproduktiv die Linksradikalen waren: ihre beständigen Bekenntnisse zur Gewalt, ihre Versuche, die Faschisten durch Gewalt zu bekämpfen und ihre revolutionäre Rhetorik waren maßgebliche Faktoren für diese Kooperation. Sie weckten im Bürgertum die Furcht vor einer Revolution nach sowjetischem Vorbild und legitimierten das Messen mit zweierlei Maß durch die Sicherheitsdienste.  Ich bekomme jedes Mal die Krise, ich heutige Linksradikale wie die Antifa für gewaltsamen Widerstand gegen Rechtsextremisten argumentieren sehe. Es hat noch nie funktioniert und wird auch nie funktionieren.

Hierin findet sich auch die wichtigste Lehre für den Umgang mit dem Rechtsextremismus heute: solange die vielzitierte „Brandmauer“ nach rechts steht, solange die Institutionen treu zu Demokratie und Rechtsstaat stehen, so lange sind wir weitgehend sicher. In dem Moment, indem Liberale und konservative Demokrat*innen mit den Rechtsextremen kooperieren oder ihren Aufstieg zumindest hinnehmen und in denen die Institutionen sich demokratie- und rechtsstaatsfeindlich verhalten, haben wir ein ernsthaftes Problem.

Historisch gesehen ist auffällig, wie stark sich Hitler am Vorbild Mussolinis orientiert hat. Der gescheiterte „Marsch auf Berlin“ 1923 ist hierfür nur das augenscheinlichste Beispiel; auch in den Mechanismen der Herrschaftsausübung, der Koalitionsbildung mit den konservativen Eliten und vielem mehr orientierte sich der Nationalsozialismus sehr deutlich am Faschismus (ohne natürlich seine spezifischen Eigenheiten zu verlieren). Dieses System kommunizierende Röhren führte dann auch zur Übernahme des mörderischen Antisemitismus durch den Faschismus ab 1938.

Auch zum totalitären Stalinismus gibt es Parallelen. Auffällig fand ich hier vor allem das System, das in der kommunistischen Diktatur den Namen der „Selbstkritik“ trägt: die rituelle Demütigung von Systemgegnern in der Öffentlichkeit und die Durchführung von Schauprozessen. Dies sind merkwürdigerweise Elemente, die der Nationalsozialismus so nicht übernommen hat.

Eine letzte Kleinigkeit: die alliierten Bombenangriffe auf italienische Städte hatten zumindest in der Erzählung Foots den erwünschten Effekt, die Moral zu zerstören: die Bombardierungen und ihre Folgen zerstörten die Glaubwürdigkeit und Beliebtheit Mussolini ist nachhaltig und wurden nicht den Alliierten, sondern dem Regime zur Last gelegt. Generell ist auffällig, wie unbeliebt der Krieg in Italien war und wie maßgeblich eher für Mussolinis Sturz ist. Hier ist die Lage völlig anders als in Deutschland oder Japan.

Insgesamt war die Lektüre daher zwar für mich dank der Querbezüge, die ich ziehen konnte, einigermaßen gewinnbringend; auf eine umfassende Darstellung des italienischen Faschismus‘warte ich allerdings noch immer.

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