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Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
Der Schluss, „Das 19. Jahrhundert in der Geschichte“, beginnt mit der Feststellung, dass das Jahrhundert eine Zeit der Selbstreflexionen gewesen sei. Die Zeitgenossen machten sich permanent Gedanken über ihren eigenen Standort in der Zeit und die Charakteristik ihrer Gegenwart. Osterhammel macht sich dann an die Deutungsangebote des Begriffs der Moderne und weist darauf hin, dass Eisenstadts „multiple Modernen“ der wohl einzig sinnvolle Ansatz sind, den Begriff zu fassen. Was überhaupt mit Moderne gemeint ist, wie sie sich abstufen lässt und wo sie stattfand wurde in der Vergangenheit endlos debattiert, macht für ihn allerdings wenig Sinn.
Ausführlicher beschäftigt er sich mit der Frage, mit der das Buch begann: dem zeitlichen Ort des 19. Jahrhunderts. Versucht man, sich aus der europazentrischen Sicht zu lösen, bleibt nur die Erkenntnis, dass es regional unterschiedliche Zeitrechnungen und Perioden gibt, die sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Für große Teile Europas und Nordamerika macht die Periodisierung von circa 1760, als die großen globalen imperialen Verwicklungen begannen, bis ungefähr 1920, als sie ihren Abschluss fanden, halbwegs Sinn. Gleichwohl beginnt die Periodisierung der USA zwar im selben Zeitraum, endet aber eher mit dem Bürgerkrieg und geht dann in eine neue Phase, die bis 1945 beziehungsweise 1965 reicht.
Außerhalb Europas zerfasert diese Einteilung sehr schnell weiter. Für große Teile Afrikas markiert 1880 mit dem Einbruch der europäischen Imperialisten eine wichtige Zäsur, deren Abschluss mit der Dekolonialisierung in den 1960er Jahren gefunden werden kann. Japans Modernisierung datiert eher von 1853 bis 1945. China dagegen fällt zwar durch die dynastische Politik in einem sehr ähnlichen Zeitrahmen wie Europa, hat aber abgesehen von dieser zeitlichen Zufälligkeit keinerlei Überlappungspunkte. Der Versuch, ein globales 19. Jahrhundert zu definieren, bleibt daher aussichtslos.
Osterhammel versucht allerdings, fünf große Merkmale dieser Epoche zu synthetisieren.
Das erste ist die asymmetrische Effizienzsteigerung. Diese Steigerungen fanden regional, zeitlich und sektoral stark versetzt statt, veränderten den Alltag der Menschen allerdings radikal. Der industriellen ging eine Agrarrevolution voraus, die erste im 20. Jahrhundert in eine Industrialisierung der Landwirtschaft münden würde. Die gewaltigen Effizienzsteigerungen kamen einerseits dem Militär, andererseits der staatlichen Kapazität zugute, wobei letztere sich für die Menschen im jeweiligen Staat durchaus segensreich auswirken konnte.
Die zweite ist der Zugewinn an Mobilität. Diese Kategorie ist die offensichtlichste komme schon allein, weil zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ein signifikanter Teil der Menschheit Zugriff auf Fortbewegungsmöglichkeiten hatte, die schneller als das Pferd waren. Die Eisenbahn - und das passt wieder zu Osterhammels Leitmotiv, dass die Industrialisierung örtlich sehr beschränkt war und vergleichsweise wenig Menschen direkt berührte - Beschäftigte und transportierte mehr Menschen, als sie eine Fabrik von innen sahen. Mobilität betraf neben den Menschen aber auch Waren, die im 19. Jahrhundert zum ersten Mal in einem globalen Wettbewerb gekauft und verkauft wurden, und das Kapital, das überhaupt zum ersten Mal schöpferische wie zerstörerisch tätig werden konnte.
Die dritte Kategorie ist die, die er asymmetrische Referenzverdichtung nennt. Gemeint ist hier einerseits die dominierende Stellung westlicher Ideen, die mit der Idee von der Moderne identifiziert wurden und den peripheren Gesellschaften und Staaten als Leitstern dienten, ohne dass diese dabei kritiklos übernommen worden wären: wo sich die Peripherie als gelehriger Schüler erwies, nutzte sie diese Ideen üblicherweise für ihre eigenen Freiheitskämpfe. Der Versuch, wissenschaftliche Strukturen aufzubauen, gehört ebenfalls in diese Kategorie. Auffällig ist zudem die gierige Bereitschaft der Peripherie zur Übernahme westlicher Ideen bei gleichzeitiger Weigerung des Westens, irgendetwas von diesen lernen zu wollen.
Das vierte Merkmal ist die Spannung zwischen Gleichheit und Hierarchie. Das 19. Jahrhundert war eines, in dem die Idee der allgemeinen Gleichheit zum ersten Mal zum Durchbruch kam. Darin lag eine ungeheure Kraft, die explosiv und radikal verändernd wirken konnte. Die Europäer trugen die Kritik an Sklavenhaltung und der Unterdrückung von Frauen und Minderheiten in die Peripherie und schoben dort revolutionäre Veränderungen an. Gleichzeitig hielten sie sich bei der Umsetzung allzu oft in heuchlerischer Manier zurück. Das lag unter anderem an dem massiven Rassismus gegenüber dieser Peripherie, die ihr eine Gleichheit nicht gestattete.
Das fünfte Merkmal ist das der Emanzipation. Es ist direkt mit dem vierten Merkmal verwoben und sorgte dafür, das überall auf der Welt unterdrückte Gesellschaften oder Gesellschaftsteile sich selbst zu befreien gedachten. Die Bilanz dieser Befreiungsversuche fällt selbst für Europa sehr ambivalent aus. Das gilt sogar für die Peripherie, wo die bereits erwähnte Revolutionierung zur Emanzipation vorher rechtloser Bevölkerungsteile führte, die durchaus als eine positive Folge des Imperialismus gesehen werden könnten, jedoch von den Imperialisten schnell verspielt und durch Unterdrückungsstrukturen ersetzt wurden.
Insgesamt postuliert Osterhammel eine anhaltende Relevanz des 19. Jahrhunderts für die Deutung der Gegenwart, die sogar über die Periode zwischen dem ersten und Zweiten Weltkrieg hinausgehe. In jener Zeit hätten erstaunlich wenige konstruktive Lösungen gefunden werden können, während viele unserer heutigen globalen Probleme entweder im 19. Jahrhundert bereits existierten oder dort ihre Wurzeln hatten. Zahlreiche bedeutende Staatsmänner des 20. Jahrhunderts waren zudem Männer des 19. Jahrhunderts, ob Adenauer oder Churchill. Die Beschäftigung mit dieser Epoche, gleich wo man Ihren Beginn und Ende setzt, kann daher nur fruchtbar sein und bleibt heute relevant.
Die schiere Länge dieser Rezension zeigt bereits, welchen Umfang Osterhammels Werk besitzt. Auf 1300 kleinbeschriebenen, großformatigen Seiten (denen noch einmal 300 Seiten Fußnoten folgen) entwirft er ein Panorama einer riesigen Epoche im globalem Maßstab. Er ist sich dabei der Probleme und Herausforderungen seines Ansatzes durchaus bewusst und vergleicht diese mit dem Erklimmen eines Gipfels, von dem aus man zwar einen guten Überblick erreichen kann, auf dem man es allerdings nicht lange aushält: am Ende kann die Hauptaufgabe der Historiker*innen nur darin bestehen, Mosaiksteine beizutragen, die dann gelegentlich von eben jenem Gipfel aus zu einem großen Bildnis zusammengetragen werden können.
Ich habe für die Lektüre dieses Buches deutlich über ein halbes Jahr gebraucht. Ich glaube, ich habe noch nie oder doch zumindest sehr selten eine so fordernde wie stimulierende Lektüre erlebt. Nicht nur ist Osterhammels Magnum Opus sehr lang, es ist doch unglaublich dicht geschrieben und in höchstem Maße anspruchsvoll. Grundkenntnisse über sämtliche angesprochenen Thematiken werden schlicht vorausgesetzt; der Autor hält sich kaum damit auf, die Öffnung Japans, die Indian Mutiny oder die Reichseinigung zu erklären: die reine Faktenlage ebenso wie einige grundsätzliche Diskurse zum Thema müssen die Lesenden schon selbst mitbringen. Osterhammel bietet eine Einordnung in den größeren Kontext des 19. Jahrhunderts. Es ist der Gipfel als ein eher unangenehmer, entbehrungsreicher Ort, von dem er sprach und stehen zu erklimmen eine Leistung für sich darstellt.
Wer diese Leistung allerdings erbringt, dem steht ein unglaublicher Reichtum an Deutungen, Einordnungen und Analysen zur Verfügung. Es ist gerade die Synthese zahlreicher verschiedene Ideen, Epochen und Orten, die dieses Buch so ungeheuerlich relevant macht, auf der anderen Seite aber eben auch dazu führt, dass sich Lesevergnügen nur insofern einstellt, als das ist einen intellektuellen Stimulans bietet. Unterhaltsam oder schlicht nur die Zeit vertreibend ist das Werk nicht, es zu lesen ist Arbeit, die sich gleichwohl lohnt.
Das bedeutet auch, dass Osterhammel auf Anekdoten oder Personalisierungen praktisch vollständig verzichtet. Bismarck, Washington oder Napoleon sind eher Figuren von Nebensätzen. Wenn es Hauptcharaktere in diesem Buch gibt, dann handelt es sich um Strukturen und Dynamiken. Definitiv handelt es sich nicht um eine Geschichte großer Männer oder überhaupt um eine Geschichte, in der Individuen vorkommen. Trotz der großen Länge verzichtet er auf jedem Kolorit oder Auflockerung, wie sie gerade die angelsächsische Geschichtsschreibung kennzeichnet. Für mich ist das ein großes Plus, aber mein Geschmack ist diesbezüglich auch etwas spezifisch.
Wenn man zwingend nach Kritikpunkten suchen möchte, so wird man diese vermutlich in der Konzentration auf Nordamerika, Europa und Asien finden. Südamerika spielt nur punktuell und Afrika praktisch nur als Objekt eine Rolle; Australien bleibt letztlich ins britische Empire subsumiert. Das allerdings ist weniger einem Manko des Autors als vielmehr dem Gegenstand der Untersuchung geschuldet: Osterhammel untersucht das 19. Jahrhundert als ein Jahrhundert der Modernisierung, und es ist nun einmal eine Grundprämisse, dass diese sowohl regional als auch temporal stark versetzt stattfand und zumindest in ihren greifbaren Ausprägungen - moderne Technologien, leistungsfähigen Staaten, effizienten Ökonomien und schlagkräftigen Armeen - nicht überall zur selben Zeit oder überhaupt stattfand.
Osterhammel legt großen Wert darauf, jegliche Wertung darüber zu vermeiden und keine Dichotomie von rückständig zu fortschrittlich aufzumachen. Gleichwohl liegt es in der Natur der Sache, dass das stark divergierende Machtniveau von Staaten im 19. Jahrhundert, eine Schere, die sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts langsam wieder zu schließen begann, mit Ausnahme Japans auf Europa und die USA beschränkt ist, die die Welt in diesem Jahrhundert den Stempel auf eine Art aufdrücken konnten, wie sie vorher nie gesehen worden war und vermutlich zumindest für lange Zeit nicht mehr gesehen werden wird.
Ich werde wohl noch eine lange Zeit damit beschäftigt sein, die vielen Informationen, Analysen und Einordnungen aus diesem Buch zu verarbeiten und mit meinem eigenen Wissensbestand zu verknüpfen. Die gewaltige Komplexität des Werks, das, das sei noch einmal gesagt, einen wahren Meilenstein der Geschichtswissenschaft darstellt und wohl ein absolutes Desiderat jeden Mitglied dieser Zunft darstellen dürfte, verbietet mir weitgehend jegliche eigene Rundumkritik. Ich habe mich daher in der Rezension weitestgehend auf eine Wiedergabe des Inhalts beschränkt und will erst gar nicht den Versuch machen, etwas so umfassendes Punkt für Punkt zu kommentieren. Ich fühlte mich dabei, als würde ich als Amateur die Gemälde eines großen Meisters oder die Partitur eines berühmten Komponisten kommentieren wollen. Manchmal kann man vor wahrer Größe nur beeindruckt stehen und hoffen, ihr selbst Genüge zu tun.
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