Freitag, 24. Dezember 2010

Buchbesprechung: Harry Turtledove - Die Timeline-191-Romane

Von Stefan Sasse

Harry Turtledove 2005
Kontrafaktische Geschichte – auch virtuelle Geschichte genannt – übt seit jeher eine große Faszination aus. Die Frage des „Was wäre, wenn“ nimmt einen gefangen. Für Deutschland kann es eigentlich nur eine große Frage geben: was wäre, wenn Hitler nicht gelebt hätte? Wenn er keinen Erfolg gehabt hätte? Seine Eliminierung aus der Geschichte wäre wohl das erste Szenario, das man sich ausmalen würde. Für die Amerikaner ist das Ur-Thema ein anderes: hier ist die kontrafaktische Frage, was wohl geschehen wäre wenn das amerikanische Trauma des Bürgerkriegs ein anderes Ende gefunden hätte. Was wäre gewesen, wenn die Konföderierten Staaten von Amerika den Krieg siegreich beendet hätten? 


Dieser Frage geht der Vielschreiber Harry Turtledove in seinen Romanreihen „Great War“, „American Empire“ und „Settling Accounts“ nach, die je drei bzw. vier (Settling Accounts) Romane umfassen. Zusammen mit dem Prequel-Roman „How few remain“, der 1880 spielt, bilden diese Romane die „Timeline-191“-Reihe. Sie sind nur auf Englisch verfügbar, was angesichts der Konzentration des Autors auf den nordamerikanischen Kontinent nicht wunders nimmt. Zwar wird hin und wieder erwähnt, wie der Rest der Welt sich ändert, aber deren Zustand muss sich der Leser eher aus Randbemerkungen erschließen als dass er ihn präsentiert bekäme. 

Die „Timeline-191“ bricht mit der Realität vor der Schlacht von Antietam September 1862. Die Order 191 von General Lee, die in die Hände des Nordens fiel und es diesem ermöglichte, die Armee des Südens abzufangen, geht nicht verloren; der Süden bleibt siegreich und wird von Großbritannien und Frankreich anerkannt, die daraufhin ein Bündnis schließen. Abraham Lincoln muss daraufhin die Unabhängigkeit des Südens anerkennen, der auch Kentucky umfasst. Nach dem Krieg kaufen die CSA auch Kuba und siedeln die Indianer im Staat Sequoya an, dem heutigen Oklahoma, wo sie große eigene Autonomie genießen und in Folge zu loyalen Unterstützern der Konföderation werden. 

1881 kam es über den Kauf von Sonora durch die CSA von Mexiko zu einem zweiten Krieg zwischen den beiden amerikanischen Staaten, den die CSA trotz der überlegenen US-Militärmacht spielend gewinnen, da die US-Militärführung katastrophal desorganisiert ist. Erneut greifen Großbritannien und Frankreich ein; als Gegenleistung müssen die CSA allerdings die Sklaven freilassen. Trotz deren nomineller Befreiung bleiben sie Bürger zweiter Klasse mit wenig Rechten und arbeiten weiterhin auf den Plantagen in sklavenähnlichen Verhältnissen. Abraham Lincoln, der nie ermordet wurde, verlässt die Republican Party mit einem großen Teil deren Mitglieder und schließt sich den Sozialisten an, die zur zweiten großen Partei der USA werden, während die Republikaner in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. 

Die Ereignisse in Europa indessen haben den USA eigene Verbündete beschert: das Deutsche Reich und Österreich Ungarn schließen eine Allianz mit den USA, und die Vereinigten Staaten schließen sich eng an das Reich an. Der „Kaiser-Bill“-Schnauzer wird zur beherrschenden Mode, und eine raffinierte und stark regulierende Bürokratie nach deutschem Vorbild wird installiert, um das Erfolgsmodell zu kopieren und gegen die Gründe der zweimaligen Niederlage anzukämpfen. Als im Juli 1914 der österreichische Thronfolger ermordet wird und die Allianzsysteme greifen, existiert von Anfang an eine amerikanische Front zwischen den Vereinigten und den Konföderierten Staaten von Amerika. 

Die alternative Welt 1914; gelb Mittelmächte, grün Entente











Der Erste Weltkrieg zieht sich über drei Jahre hin, entgegen der Pläne der Beteiligten, schnelle und entscheidende Feldzüge durchzuführen. Ohne die amerikanische Unterstützung in Europa bricht die dortige Front im Jahr 1917, im gleichen Jahr in dem die USA mittels des massiven Einsatzes von Panzern (die „Barrels“ anstatt „Tanks“ genannt werden) die festgefahrenen Frontlinien durchbrechen. Die Entente-Mächte müssen starke Gebietsverluste hinnehmen. Diese Ereignisse werden in den drei „Great War“-Romanen beschrieben. 

Die „American-Empire“-Trilogie befasst sich mit der Zwischenkriegszeit. Während die CSA eine Hyperinflation erleben, müssen die USA die hohen Kosten der Besetzung Kanadas tragen und erleben eine Wirtschaftskrise, die erstmals die Sozialisten an die Macht bringt. Die 20er Jahre werden zu einem ökonomisch boomenden Jahrzehnt für die USA, während in den CSA die „Freedom Party“ immer stärker wird, die unter dem Kriegsveteran Jake Featherston radikal Front gegen die Schwarzen macht (die im Krieg einen sozialistischen Aufstand versuchten, der aber niedergeschlagen wurde). Den endgültigen Durchbruch erlebt die Freedom Party nach 1929, als die Weltwirtschaftskrise erneut großes Elend über die Menschen bringt. Bei den Präsidentschaftswahlen 1933 siegt Featherston über den Kandidaten der Whigs und baut die CSA folgend zu einer Diktatur um, inklusive Konzentrationslagern für Schwarze und politische Gefangene.
Am 22. Juni 1941 greift Featherson dann ohne Kriegserklärung die USA an. In Europa, wo Großbritannien und Frankreich ebenfalls an rechtsradikale Regierungen gefallen sind, beginnt der Krieg gegen die Mittelmächte erneut. Nach drei Jahren verlustreicher und wechselhafter Kämpfe und dem Einsatz mehrerer Atombomben sowie dem Genozid an den Schwarzen in den CSA endet der Krieg mit der totalen Niederlage der CSA und ihrer europäischen Verbündeten. Die CSA werden aufgelöst und das Gebiet von den USA „auf unbegrenzte Zeit“ besetzt. Mit diesen Ereignissen endet die Tetralogie „Settling Accounts“. 

Die alternative Welt 1941











Nun ist diese Version der historischen Ereignisse sicherlich eine interessante. Das große Problem, das man mit kontrafaktischer Geschichte immer hat ist, dass man zwar sehr leicht einen Bruchpunkt zur realen Geschichte feststellen und die unmittelbaren Ereignisse abändern kann, danach jedoch vor einem Problem steht: entweder man nimmt eine ungebrochene Kontinuität von diesem Zeitpunkt aus an – die zwar noch halbwegs historisch begründbar, aber sehr unwahrscheinlich ist, oder man erfindet Ereignisse. Die aktuell historischen finden ja sicherlich nicht statt. Beim Erfinden von Ereignissen ist man jedoch stark in Versuchung geführt zu „spiegeln“. 

Das ist genau das, was Turtledove in seinen Romanen tut, wie jedem halbwegs historisch gebildeten Leser sicherlich aufgefallen ist: die Entwicklung der CSA ist ein nur leicht an amerikanische Verhältnisse angepasster Aufstieg der NSDAP in Deutschland. Selbst das Datum 22. Juni 1941 als Kriegsbeginn – der Zeitpunkt des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion – weist deutlich auf diese Parallele hin. Natürlich fällt dies vor allem dem deutschen Leser auf; Turtledove schreibt für ein amerikanisches Publikum, das mit der deutschen Geschichte lange nicht so vertraut ist und dem deswegen die Analogien weniger offenkundig sein dürften.
Man kann sich über die Wahrscheinlichkeit der von Turtledove dargestellten Ereignisse sicher streiten. Seine Version des Ersten Weltkriegs ist noch recht glaubhaft, doch das Problem der Kontinuität und Spiegelung stellt sich in der Zwischenkriegszeit und dem „Zweiten Weltkrieg“ mehr und mehr. Die Ereignisse können hier nicht mehr wirklich überraschen und interessieren den Leser auch nicht mehr so sehr wie die unmittelbare Weltkriegsentwicklung. 

Das liegt, man muss es leider sagen, auch an Turtledove selbst. Es ist mit ihm und seiner „Timeline-191“ wie mit einem Koch, der zwar alle Zutaten und ein gutes Rezept hat, aber nicht kochen kann. Turtledove hat einen ganzen Haufen von Hauptcharakteren, aus deren Perspektive er abwechselnd erzählt und so die Ereignisse über die Jahre verfolgt; von einer Hausfrau in Boston zu General Custer (der nie gegen Indianer kämpfte) im Norden und von einem Haussklaven auf einer Plantage des Südens bis hin zu dem Artilleriesoldaten Jake Featherston. Die reine Menge des Personals kann es mit George R. R. Martins „Lied von Eis und Feuer“ aufnehmen, und auch die Erzählung aus der Perspektive des jeweiligen Charakters erinnert an die grandiose Saga. Leider ist Turtledove nicht in der Lage, etwas aus den Zutaten zu machen, die er vor sich hat.
Zum Einen sind die einzelnen Kapitel zu kurz. Meist verweilt man nur drei bis vier Seiten bei einer Person, ehe die Handlung wieder zu einer anderen springt. Die Cliffhanger am Ende der jeweiligen Personenkapitel wirken deswegen oft etwas bemüht. Zum Anderen bleiben die Personen, obwohl Turtledove zehn Bücher hat um sie zu entwickeln doch seltsam flach. Wirklich glaubhafte oder interessante Entwicklungen machen die wenigsten durch. Die Soldaten philosophieren zwar hin und wieder pflichtschuldig in einer Art Vulgär-Remarque-Version über die Schrecken des Krieges, bleiben aber letztlich Militaristen mit Stolz auf Armee und Vaterland. Dabei sind die Anlagen der Charaktere gut, man hätte tiefgreifende Geschichten mit ihnen erzählen können. Turtledove aber bleibt einfach auf dem Anfangsniveau stecken und täuscht darüber hinweg.
Diese Täuschung aber funktioniert nicht. Spätestens in der „American Empire“-Trilogie beginnt man genervt ganze Absätze zu überlesen, weil sich Turtledove beinahe wortgleich wiederholt. Anstatt den Leser Schlüsse über die mentale Disposition der Charaktere ziehen zu lassen, wie das bei Martin der Fall ist, prügelt er die Moral von der Geschichte mit dem Holzhammer auf den Leser ein. Wenn ein arbeitsloser Charakter etwa über die faulen Neger schimpft, die alle keinen Job haben, kann er den naheliegenden Schluss, dass dieser Charakter etwas scheinheilig ist, nicht dem Leser überlassen – er muss es ausdrücklich noch einmal darlegen. Diese Moralisierung aber zerstört gerade das Gefühl, das Turtledove schaffen will. 

Natürlich ist nicht alles schlecht an den Büchern, sonst hätte ich kaum so viele Romane tatsächlich gelesen (auch wenn die Qualität rapide abnimmt). Die kontrafaktischen Ereignisse sind trotz der besonders in den späteren Romanen deutlichen Spiegelung interessant. Wo Turtledove allerdings wirklich Können beweist ist in den Details, mit denen er die Zeit zum Leben erweckt. Der Alltag in den 1920er Jahren und während des Krieges, die langsame Einführung technischer Innovationen wie Autos, Kühlschränke und Telefone, die Moral und Einstellung der damaligen Menschen – all das stellt Turtledove sehr gut dar. Er verfällt hier auch nicht der Versuchung vieler Autoren, Hauptcharaktere zur einfachen Sympathisierung mit dem Leser mit heutigen Werten auszustatten, also etwa starke, feministisch geprägte Frauencharaktere zu schaffen oder überall die Demokratie-Keule zu schwingen, wo sie nicht hingehört. Stimmungsmäßig erweckt Turtledove diese Zeit wieder zum Leben. 

Für den historisch interessierten Leser, der die englische Sprache gut genug beherrscht, sind zumindest die ersten Bücher – also die Great-War-Trilogie – einen Blick wert. Aufgrund des geringen Preises englischsprachiger Bücher fällt die Anschaffung auch nicht so sehr ins Gewicht.

Bücherlinks: 

Bildnachweise: 
Turtledove - Szymon Sokola (GNU 1.2)
Welt 1914 - Clam15 (gemeinfrei)

4 Kommentare:

  1. Kennen Sie "Der große Süden" von Ward Moore ("The Great Jubilee" im Original)? Gilt offenbar als Klassiker dieser Art von Literatur und ist nur ein Buch im Gegensatz zur oben genannten Serie. Es steckt voller Andeutungen auf reale Ereignisse und Personen, die in der alternativen Zeitlinie ganz anders gelaufen sind.

    Ich wollte das Buch demnächst in ein öffentliches Bücherregal stellen. Falls Sie es jedoch nicht kennen und lesen möchten, schicke ich es Ihnen gerne zu.

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  2. Das Buch ist heute mit der Post raus und sollte übermorgen ankommen. Viel Spaß beim Lesen!

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