Montag, 10. Juli 2023

Rezension: Christopher Clark - Revolutionary Spring: Fighting for a New World 1848-1849 (Teil 6)

 

Teil 1 hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier, Teil 4 hier, Teil 5 hier.

Christopher Clark - Revolutionary Spring: Fighting for a New World 1848-1849 (Hörbuch) (Frühling der Revolution: Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt (Hörbuch))

Clark beschließt seine Abhandlung der Revolutionen mit einer Würding von "The Dead". Da wären einerseits die Märtyrer der Revolution, die es verstanden, ihren eigenen Tod in Szene zu setzen (mich erinnert diese Theatralik stark an das 18. Jahrhundert, als die gebildete Oberschicht es ebenfalls verstand, den eigenen Tod als Inszenierung zu gestalten). Memorabilia und romantisierte Erzählungen gab es noch und nöcher. Doch die meisten Menschen starben ohne großen Bekanntheitsgrad. Von Frauen sind, wenig überraschend, keine letzten Worte überliefert. Sie starben stumm. Dasselbe gilt für die unteren Klassen oder die Soldaten der Gegenrevolution. Und sie starben in großer Zahl, schon allein, weil die Soldaten der Gegenrevolution die Cholera durch Europa schleppten und eine veritable kleine Pandemie mit zehntausenden von Toten auslösten.

Damit geht es in Kapitel 9, "After 1848 - The Present is a Foreign Country". Dessen erster Abschnitt, "Global 1848", befasst sich mit den globalen Wirkungen der Revolutionen. Die langsamen Kommunikationswege - noch war der Telegraph nicht verbreitet - bedeuteten eine asynchrone, gleichzeitig komprimierte Wahrnehmung der Revolution im Ausland (weil etwa Australien erst mit vier Monaten Verspätung von der Februarrevolution erfuhr, dafür aber gleich drei Wochen Zeitungen als Stapel erhielt).

Zudem sorgten Fluchtbewegungen einerseits und erzwungenes Exil andererseits für einen Export der Revolution und ihrer Ideen. Für Großbritannien war dies ein Mittel gewesen, den eigenen revolutionären Druck zulasten seiner Kolonien abzubauen, was Langzeitfolgen in deren Beziehungen zum Mutterland haben würde. Das Osmanische Reich gerierte sich als liberal und progressiv und nahm zahlreiche Flüchtlinge auf, die es auch gegenüber den Auslieferungsforderungen besonders der als reaktionär wahrgenommenen Preußen und Russland verteidigte. Die so gewonnen liberalen Meriten halfen dem Osmanischen Reich, im Krimkrieg eine Welle der Sympathie in Frankreich und Großbritannien zu gewinnen, die sicherlich zu deren Kriegseintritt auf seiner Seite beitrug.

Aus diesen Entwicklungen ergaben sich "New Constellations". Die Politiken und Ideologien von 1848 waren ungemein fluide. Zahlreiche Akteure, die sich im Frühjahr noch bei den Radikalen fanden und Forderungen nach mehr Rechten im Mund führten, wandelten sich zu moderaten Liberalen oder wechselten gar die Seiten ins reaktionäre Lager. Manche Monarchen, die vorher absolut regiert hatten (etwa der dänische König) ergaben sich in die Parlamentarisierung ihrer Herrschaft. Die Idee, dass die treibende Kraft hinter dem Staat in der Ausübung von Macht bestand, war 1789 noch eine des radikalen linken Flügels gewesen. Bismarck, Produkt der Revolution von 1848, war einer der vielen Konservativen, die sie für sich übernahmen und damit das Staats- und Politikverständnis komplett veränderten.

Er verweist auch darauf, dass das Zerrbild der Radikalen als "Kommunisten", wie es sowohl die wenigen Kommunisten aus Selbstüberhöhung als auch die Konservativen als Schreckensfratze zeichneten, völlig übertrieben ist; effektiv seien sie eine Frühform der Sozialdemokraten gewesen, und die meisten hätten sich ja dann letztlich auch integriert. Es war 1848, die das heute geläufige Schema von Mitte-Links und Mitte-Rechts überhaupt erst schuf; beides Richtungen, die vor 1848 überhaupt keinen Sinn gemacht hatten und für die nächsten fast 200 Jahre entscheidende Pole bilden sollten.

All diese Änderungen waren dadurch möglich, dass man sich in "The Age of Circulation" befand. 1848 sah einen Umsatz an Ideen und Menschen, der erstmals nicht primär durch marschierende Armeen herbeigerufen wurde, sondern unkontrollierbar aus den geänderten Lebensumständen entstand. Die stark gesunkenen Kosten für Printprodukte sorgten dafür, dass Zeitungen bald zum beherrschenden Kommunikationsmittel wurden. Hunderte von Produkten hatten vier- oder fünfstellige Auflagen.

Einer der großen Verteilerknoten für dieses neue Produkt waren die Bahnhöfe, an denen es die Zeitungen nun zu kaufen gab. Bahnhöfe schossen nach 1848 wie Pilze aus dem Boden, denn wie wir gleich sehen werden veränderte 1848 das Finanzverhalten von Staaten fundamental. Die Möglichkeit, quer durch das ganze Land (und Europa) zu reisen, ermöglichte eine Verteilung von Akteuren wie Ideen. Exilanten brachten die Ideen von 1848 mit in die Länder, in die sie auswanderten, während Aktivisten aller Couleur sich erstmals in größerem Umfang vernetzen konnten.

Das alles wurde durch den "Material Progress" möglich, den ein fundamental geändertes Staatsverständnis mit sich brachte. Die preußische Krise 1847 war maßgeblich durch die Unmöglichkeit hervorgerufen worden, große Kredite aufzunehmen, die den Ausbau der Eisenbahn hätten erlauben können. Quer durch Europa war die herrschende Meinung gewesen, dass der Privatsektor dies zu besorgen hatte - eine angesichts der Investitionsumfänge hanebüchene Idee. Es war 1848, das die Gewissheit, dass der Staat nicht nur dafür sorgen musste, dass solcherlei Investitionen getätigt wurden, sondern auch, dass er die Legitimation und Möglichkeit besaß, in allen politischen Richtungen verankerte.

Gerade in Preußen machte die Verfassung, die eine liberale bis linksliberale Mehrheit ins Abgeordnetenhaus brachte, dies exemplarisch deutlich. Der damit einhergehende Machtverlust der traditionellen Konservativen beseitigte die Hindernisse, die bisher für die Investitionen bestanden hatten. Der König konnte so eine inoffizielle, eigentümliche Verbindung (new constellations, indeed) mit den Liberalen eingehen, die fundamental erklärten, jede noch so große Summe für den Infrastrukturausbau im Parlament freizugeben. Als Folge wuchs das preußische Schienennetz rapide an und stimulierte einen wirtschaftlichen Aufschwung, der jede vorherige Investition verzwergte.

All diese Entwicklungen fielen mit einer Revolution der Technik und der Arbeitsmethoden zusammen. Für Clark steht fest, dass ohne 1848 der wirtschaftliche Aufschwung in Europa wesentlich länger hätte auf sich warten lassen, weil der konservative Adel seine blockierende Position viel länger hätte aufrechterhalten können. Sieht man sich den Gewinn an industrieller Leistungskraft wie Lebensstandssteigerung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, fällt es schwer, diesem Urteil zu widersprechen.

Die deutlichsten Auswirkungen dieses Mentalitätswandels sieht man in "The Post-Revolutionary City". In den Städten wurden die Infrastrukturprojekte besonders massiv vorangetrieben. Nach 1848 wurden etwa in praktisch allen Städten die alten Stadtmauern geschleift (wenngleich oft gegen erbitterten Widerstand der Konservativen, die sich von ihnen eine Schutzfunktion gegenüber Aufständen von Arbeitern erhofften und durch Mauern die sozialen Grenzen quasi betoniert sehen wollten) und durch breite Straßen mit modernen Repräsentativ- und Wohnbauten ersetzt; paradigmatisch steht hier die Ringstraße in Wien.

Auch die Wasserversorgung wurde nach 1848 komplett neu aufgestellt und erlaubte überhaupt erst das massive Wachstum der Städte im 19. und 20. Jahrhundert. Dies wird exemplarisch an Madrid deutlich, wo die Liberalen in den Cortez dieses Projekt mit besonderer Aufmerksamkeit angingen (vom Gewinn für die Volksgesundheit einmal ganz abgesehen). Die Rolle der Eisenbahnen wurde ja bereits erwähnt, deren große Knotenpunkte ebenfalls in den Städten lagen (und für die bedenkenlos die Armenquartiere vernichtet und die Menschen vertrieben wurden). Das Bekenntnis zur Großstadt, zusammen mit dem sich schon länger ankündigenden Trend zur Urbanisierung, war ein klares Merkmal der Moderne des 19. Jahrhunderts. Dazu gehörte auch moderne Stadtplanung, und das wiederum setzte, genauso wie die großen nationalstaatlichen Infrastrukturprojekte, leistungsfähige Verwaltung voraus. All diese Entwicklungen erhielten quasi durch 1848 einen Schub.

Der Umgang der Politik mit der Öffentlichkeit wurde durch 1848 ebenfalls nachhaltig geändert. In "From Censorship to Public Relations" beschreibt Clark, dass die frühere Abschottung der Politik von jeglichem äußeren Einfluss nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Es gab nun eine breite politisch interessierte Bevölkerungsschicht, die einen Bedarf sowohl nach öffentlicher Debatte als auch nach den entsprechenden medialen Produkten besaß. Die früheren Zensurregime aber hatten sich als unzureichend erwiesen, um unerwünschte Ansichten blockieren zu können. Zu viele Regierungsbehörden, die sich gegenseitig blockierten und von den reaktionären Grundhaltungen der Amtsinhaber abhängig waren, waren dafür nötig, einmal abgesehen davon, dass die Zensur nur blockieren konnte, was bereits geschrieben war.

Deswegen schwenkten die Staaten auf aktive Pressearbeit um. Nach einer kurzen reaktionären Phase des Verbots fast aller Zeitungen und Magazine stieg die Zahl an Publikationen sprunghaft an und begann den medialen Massenmarkt zu schaffen, den wir heute kennen. Anstatt ihn komplett als Opposition zu begreifen, die zu unterdrücken war, begannen die Regierungen, eigenes Fachpersonal einzustellen, das als Spindoktoren, Stichwortgeber und Propagandisten fungierte. Teils brachten die Regierungen eigene Organe heraus; der Papst war dabei etwa ein Vorläufer, der eine Zeitung für "loyale" Katholiken in Italien schuf. Auch das rechtliche Verhältnis von Presse und Staat wurde immer mehr geregelt und den Konflikten so die Schärfe genommen.

Die Ausnahme war, wie in so vielem, Russland, das eine wahre Terrorherrschaft errichtete, die selbst Loblieder auf den Zaren unterdrückte. Eine ständige Aura der Furcht war das beherrschende Merkmal der 1850er und 1860er Jahre im Zarenreich. Wenig überraschend war das Land bald die rückständigste der europäischen Großmächte.

Unter "Conclusions" fasst Clark dann all diese Stränge noch einmal zusammen. 1848 war ein Motor der Modernisierung, weswegen die Frage nach dem Scheitern aus seiner Sicht falsch gestellt ist. Wer scheiterte mit was? Die radikalen Revolutionäre erreichten ihre Ziele nicht, aber die Konservativen fühlten sich oftmals auch nicht wie Gewinner, und sieht man den Bogen der Veränderungen nach 1848 an, so kann man sich des Eindrucks kaum verwehren, als wären die Revolutionen Taktgeber und Initialzündung für unsere heutige Welt gewesen.

Das Fazit, verwirrenderweise ebenfalls mit "Conclusions" überschrieben, versucht dann den Bogen zur Gegenwart zu ziehen. Auch heute sieht Clark die Ideologien im Fluss wie schon lange nicht mehr. Die Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Geographie, die 1848 produzierte, ist zunehmend wirkungslos. Neue Medien und Technologien erlauben die Zirkulation neuer Ideen, das Bestehende wird herausgefordert. Ich muss zugeben, dieses Kapitel als das am wenigsten ergiebige empfunden zu haben, weswegen ich meine Zusammenfassung hier auch stark abkürze. Es scheint mehr eine Pflichtübung gewesen zu sein, weil eine ordentliche Monographie ebenso zu enden hat. Besonders belastbar waren die Punkte jedenfalls nicht, dazu waren sie zu wenig entwickelt.

Aber das ist alles auch gar nicht notwendig. Das Buch lebt letztlich davon, dass die Lesenden ihre eigenen Schlüsse bereits bei der Lektüre ziehen können. Für mich waren mehrere Kontinuitätslinien augenfällig, die tatsächlich Strahlkraft in unsere Gegenwart haben.

Da wäre einerseits das Unvermögen von Radikalen und Liberalen, Mehrheiten außerhalb ihrer Ursprungsschichten, vor allem aber bei der Landbevölkerung zu organisieren. Frappant war für mich vor allem, wie schnell besonders die Radikalen immer bereit waren, ihre Lobesarien auf die Volkssouveränität über Bord zu werfen, wenn die gewünschen Wahlergebnisse nicht kamen. Stets war das die Schuld der von bösartigen Mächten belogenen einfachen Leute, denen (noch!) nicht zu trauen war, ein Zustand, der nur durch eine revolutionäre Regierung (natürlich nur für einen Übergang) beizukommen war. Es ist nicht schwer, hier den Schatten Lenins dräuen zu sehen.

Ebenso auffällig war für mich die völlige Ignoranz der Liberalen gegenüber den Lebensumständen der 99%. Wenn sie ihre Ziele von Verfassung und rechtlichen Privilegien für ihre Klasse erreicht hatten, erklärten sie mission accomplished und wurden zu unnachgiebigen Bewahrern des Status Quo. Keine Überraschung, dass hier später unheilige Bündnisse mit dem rechten Spektrum entstehen würden, wann immer dieser Status Quo durch Forderungen der Zukurzgekommen in Gefahr zu geraten schien; die Liberalen imaginierten hier die Gefahr eines radikalen Umsturzes, wo eher sozialdemokratische Reformer am Werk waren, routinemäßig zu hoch.

Aber auch die Konservativen neigten dazu, sich in die Tasche zu lügen. Clark betont gerne, dass zwar Liberale und Radikale die Landbevölkerung nicht gewinnen konnten, dass aber die Konservativen in ihrer Idee, es bestünde eine genuine Liebe zum Thron in der Masse der Armen - dass also die Könige quasi Repräsentanten einer schweigenden Mehrheit seien - völlig falsch lagen. Es war ihren Gegnern nur nicht gelungen, die Unzufriedenheit der Landbevölkerung richtig zu addressieren. Das bedeutete nicht, dass diese nicht unzufrieden waren. Die Vorstellung, die Mehrheit sei konservativ und auf der eigenen Seite, ist ein bis heute fortgesetzter Irrtum in diesem Spektrum.

So sehr ich das Buch auch mochte, so sehr würde ich mir manchmal wünschen, dass der starke Fokus auf Anekdoten in der angelsächsischen Geschichtsschreibung zurückgefahren werden könnte. Diese Geschichtenerzählerei macht es immer schwer, Trends von netten Ereignissen zu unterscheiden, und man muss komplett auf die Historiker*innen vertrauen, dass sie nur repräsentative Anekdoten wählen. Zudem würde es die Bücher wesentlich konziser und kürzer machen.

Als letzte Bemerkung - dies ist aber keine Schwäche Clarks - hat sich bei mir im letzten Kapitel der Appetit nach mehr eingestellt. Ich habe das Gefühl, dass eine Geschichte der ökonomischen Transformation, wie Clark sie hier eigentlich nur anreißen kann, ein echtes Thema für Adam Tooze wäre. Das wäre ein Klasse companion piece, das ich sofort verschlingen würde und das eine ohnehin unterbeleuchtete Dimension dieser Geschichte offenlegen würde.

Damit bleibt mir nichts, als zum Abschied eine unbedingte Empfehlung für das Buch auszusprechen. Für alle einschlägig Interessierten absolut großartig.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen