Freitag, 21. Juli 2023

Rezension: Volker Ullrich - Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund (Teil 4)

 

Volker Ullrich - Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund (Hörbuch)

Ein dramatisches Ereignis jener Zeit war der Hitlerputsch. Unter den Rechtsradikalen in Bayern hatte die Stimmung ein fiebriges Allzeithoch erreicht. Hitler, der das Jahr 1923 noch als der "Trommler" der Bewegung auf der Suche nach dem lange angekündigten "Führer" begonnen hatte, gelangte im Verlauf des Jahres mehr und mehr zur Überzeugung, selbst dieser Mann zu sein, und instrumentalisierte seine Mitstreiter, allen voran Ludendorff, zu diesem Zweck.

Seine beständige Agitation mit seinem unbestreitbaren und in zahlreichen Quellen belegten Redetalent trieb ihm eine unglaublich große Anhängerschaft zu, setzte ihn aber zunehmend unter Zugzwang. Im November glaubte er nicht länger warten zu können und brach den Beginn des Putsches unvorbereitet überstürzt an. Den Unwillen des bayerischen Triumvirats, sich an einem solchen Putsch zu beteiligen, noch dazu unter Führung eines solchen Emporkömmlings wie Hitler, versuchte er eher durch Zwang zu überwinden, was genau so im Desaster endete wie der eigentliche Putschversuch.

Es war allerdings für Stresemann eine unangenehme Überraschung, dass das Scheitern dieses Putsches nichts an der Umsetzung der Befehle aus Berlin hing, sondern an jenem Unwillen des Triumvirats, daran teilzunehmen. Es waren bayerische Einheiten, die einen bayerischen Putschversuch stoppten, was erneut Schatten auf die Zukunft der Deutschen Republik warf. In der Folgezeit sollte sich Hitler im Hochverratsprozess als der alleinverantwortliche Märtyrer der deutschnationalen Sache hinstellen, eine Position, die ihm gegen Ende der 20er Jahre noch große Dienste leisten würde.

In Kapitel 7 wendet sich Ulrich dem Bruch der großen Koalition zu. Vor deren Ende gelang es der Koalition noch, endlich den Ruhrkampf abzubrechen. Dieses bereits seit Monaten unvermeidliche Ende hatte Stresemann noch einmal um 2 oder 3 Wochen hinausgezögert, in der illusorischen Hoffnung, doch noch Konzessionen von Frankreich erreichen zu können. Die Vorstellung, man könne damit in irgendeiner Art und Weise den rechten Entgegenkommen beziehungsweise die unvermeidliche Kritik abblocken, erwies sich wenig überraschend als unfundiert.

Der rechte Flügel der DVP hielt schließlich seinen Willen: Es gelang ihm, die SPD aus der Koalition zu drängen. Der Anlass war oft die Sozialpolitik. Genauso wie beim Bruch der großen Koalition 1930 stellte die DVP für die SPD unannehmbare Forderungen zum Beschneiden der Arbeitnehmerrechte, und wie 1930 sprang die SPD genau wie gewünscht darauf an, nahm den Fehdehandschuh auf und lud sich den Großteil der Schuld für den Bruch der Koalition auf.

Anders als 1930 gelang es dem rechten Flügel der DVP jedoch nicht, sein eigentliches Hauptziel durchzusetzen: die Errichtung einer autoritären Rechtskoalition unter Einbeziehung der DNVP. Es lag nicht an den Nationalliberalen. Es wurden Koalitionsangebote an die DNVP gerichtet, die jedoch derart überzogene Forderungen stellte, dass mit gutem Recht angenommen werden durfte, dass sie an einer Regierungsbeteiligung nachgerade nicht interessiert war und sich in der Opposition sehr wohl fühlte. Stresemann blieb so keine Wahl, als eine bürgerliche Minderheitenregierung zu bilden. Während seiner Kanzlerschaft verhinderte Stresemann eine Zerschlagung des sozialpolitischen Konsens noch weitgehend; sein Nachfolger Marx allerdings gab solche Zurückhaltung vollständig auf und sorgte so für einen deutlichen Rechtsruck in der Weimarer Republik und einen starken Macht- und Ansehensverlust auf Seiten der Gewerkschaften.

Der Sturz Stresemanns als Kanzler war letztlich auf eine parlamentarische Posse zurückzuführen. Es gelang ihm zwar, mit einer Kampfabstimmung in der Fraktion die eigene Partei zumindest nominell hinter sich zu versammeln, doch die KPD, DNVP und SPD kündigten alle Misstrauensvoten gegen ihn an. Stresemann versuchte, unter tatkräftiger Hilfe Eberts, das Misstrauensvotum der SPD zu verhindern und so seine Kanzlerschaft zu erhalten. Ebert versuchte, seine eigene Partei deutlich zu machen, dass ein erfolgreiches Misstrauensvotum für die SPD keinerlei strategische Vorteile haben würde – eine Ansicht, die durch die weiteren Ereignisse nur zu deutlich bestätigt wurde. Der Einfluss des linken Flügels allerdings war zu stark, und die SPD-Fraktion setzte ihren Plan durch, sodass Stresemann nicht zu halten war. Abgesehen vom erwähnten Rechtsruck änderte sich insgesamt recht wenig: Marx wurde Kanzler, Stresemann Außenminister, und 2 weitere Minister wurden ausgetauscht. Ansonsten blieb alles beim Alten.

In Kapitel 8 geht das Jahr 1923 dann langsam zu Ende. Noch unter Stresemann war die Umstellung auf die neue Währung, die sogenannte Rentenmark, erfolgt. Deren Bindung an das Gold, das ihr entgegengebracht Vertrauen sowie die Deckung durch die deutschen Vermögen und die Kürzungen im Sozialstaat und den Arbeitnehmerrechten erzeugten einen Austeritätszustand, der die Inflation effektiv beendete. Die Staatsfinanzen blieben zerrüttet, sodass einschneidende Reformen weiterhin notwendig waren. Angesichts der gewachsenen Macht des Unternehmerflügels konnte kein Zweifel daran bestehen, wen diese Reformen betreffen würden. Allerdings benötigte die Minderheitsregierung Marx hierfür ein neues Ermächtigungsgesetz. Ebert zwang seine Partei zur Annahme eines solchen, indem er mit liberalem Gebrauch des Artikels 48 drohte, sodass die SPD dieses Ansinnen mittrug. Ein weiteres Mal wurde so eine mangelndeparlamentarische Mehrheit durch exekutive Maßnahmen ausgehebelt. Es folgten erwartungsgemäß massive Einschnitte in die Sozialpolitik.

Zu den größten Inflationsverlierern gehörte die Beamtenschaft. Im Schnitt bekamen die Beamten nur noch 50% der vorkriegszeitlichen Bezüge bei um 150% gestiegenen Preisen (auf Stand Anfang 1924). Ihr ohnehin bestenfalls neutrales Verhältnis zur Weimarer Republik nahm dadurch massiven Schaden. Die Beamtenbezüge sollten sich bis zur Bundesrepublik nicht von diesem Schlag erholen.

Das Ende des Jahres 1923 brachte auch das Ende für die Separatisten des Rheinlands. Durch das Ende des Ruhrkampfs und das Ende der Ruhrbesetzung verloren sie ihre Beschützer in der französischen Armee, wurden schnell verhaftet oder anderweitig ausgeschaltet und als politischer Faktor beseitigt. Adenauer versuchte in Verhandlungen mit Stresemann sein Ziel eines Weststaates im Reichsverbund durchzusetzen, wurde aber von Stresemann kühl abgeblockt. Er erkannte pragmatisch die Zeichen der Zeit und gelobte, das Ziel künftig nicht weiter zu verfolgen.

In Kapitel 9 behandelt Ulrich einen Sektor, der in den Jahren 1919 bis 1923 anders als Gesellschaft, Politik und Wirtschaft tatsächlich einen Aufschwung erlebte: die Kultur. Die chaotische Zeit der frühen 20er Jahre und die allgegenwärtige Not beflügelten die Künstler und Künstlerinnen und sorgten für einen ungewöhnlich hohen Ausstoß an neuen und wagemutigen Produkten und schufen einen Markt, da eine deutlich erhöhte Nachfrage nach Zerstreuung bestand.

Diese Faktoren fielen mit der Ausbreitung eines neuen Mediums zusammen: dem Kino. Obwohl bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts grundsätzlich verbreitet, galt es bisher als ein Medium der Unterschicht. Erst nach dem Ersten Weltkrieg nivellierte sich das, und auch die höheren Schichten gingen ins Kino. Es half, dass ernsthafte Künstler und Künstlerinnen sich nun auch im Kino verwirklichten. Filme wie "Das Kabinett des Dr. Caligari" überzeugten selbst Menschen wie Victor Klemperer oder Kurt Tucholsky vom Potential des Lichtfilms. Nicht dass sämtliche Kinofilme oder auch nur ein Großteil dieses kulturellen Niveaus erreicht hätten – damals wie heute waren die meisten Kinoproduktionen billige Schnellschüsse für die breite Masse. Dazu kamen Propagandawerke deutschnationaler Gesinnung wie das vierteilige Epos "Fridericus Rex", das zu einem veritablen Kulturkampf führte.

Auch im Theater gab es einen Aufschwung an neuen Literaturen. Der Expressionismus fand seinen Weg auf die Bühne, politische Werke aller Farbschattierungen wurden produziert und aufgeführt, und auch reine Unterhaltungsware kam nicht zu kurz. Gemäß dem stets wiederholten Schlagwort "Je schlechter die Zeiten, umso besser die Witze" nahm auch das Kabarett, am prominentesten in Gestalt Karl Valentins, einen Aufschwung.

Auch das Theater erlebte einen wahren Aufschwung in der frühen Weimarer Republik. Neue Dramatiker wie Bertolt Brecht traten auf den Plan und stellten revolutionäre Konzepte für Theaterstücke vor (episches Theater). Dieser Aufschwung des Theaters stand in direkter Korrelation zur Bedeutung der Theaterkritik. Der unbestrittene König dieser Disziplinen war der Theaterjournalist Kaiser, aber auch in anderen Publikationen bildete die Theaterkritik das Kernstück des Feuilletons und den Höhepunkt des Ansehens. Karrieren wurden im Feuilleton und in der Theaterkritik gemacht und zerstört.

Auch literarisch tat sich in dieser Zeit einiges. Heinrich und Thomas Mann sowie Franz Kafka traten direkt in den frühen Jahren der Weimarer Republik auf und legten den Grundstein für späteren Nachruhm. Die wohl berühmteste Kunstrichtung ist der Dadaismus, der sich in seinem permanenten Provokationsstreben allerdings bald selbst überholte. Das Bauhaus war eine weitere sehr berühmte neue Strömung, aus der dann auch die Neue Sachlichkeit hervorging.

Auffällig ist die Gegenreaktion, die diese modernen Kunstströmungen auf sich zogen. Rechte Mobs versuchten Ausstellungen zu sabotieren, Veröffentlichungen zu verhindern und auf dem Gesetzesweg diese Kunst zu unterdrücken. Sie störten massiv Theateraufführungen und Kinovorführungen. Heute würde man vermutlich von "canceln" sprechen, wenn es nicht linke Künstler*innen getroffen hätte.

Im 10. Kapitel schließlich beendet Ullrich seine Darstellung mit einem Ausblick auf das Jahr 1924. Die Währung stabilisierte sich überraschend gut und schnell, während gleichzeitig in Großbritannien und Frankreich neue, linkere Regierungen an die Macht kamen, die wesentlich weniger unbeugsam und unflexibel im Umgang mit Deutschland waren. Zudem traten endlich die Amerikaner auf den Plan: Sie erzwangen Verhandlungen über neue Reparationsregelungen, für die Charles Dawes die Verantwortung übernahm. Diese Entwicklungen waren gut für Deutschland. 1924 trafen sich Repräsentanten der Amerikaner, Franzosen und Briten in London und verhandelten direkt über neue Reparationsmöglichkeiten. Später in diesem Prozess sollten auch die Deutschen eingeladen werden. Der Eingang der Ereignisse wurde beinahe durch den rechten Flügel der CVP torpediert, die regierende Koalition brach, um eine Mitregierung der DNVP zu erzwingen. Diese Entwicklung führte zu Neuwahlen, aus denen eine starke Mehrheit für die radikalen Ränder (KPD, DNVP und die völkische Rechte) hervorging, mit starken Verlusten für die SPD und die Liberalen. Bei den zweiten Wahlen 1924 relativierten sich diese Verluste zwar, die DNVP war jedoch damit deutlich gestärkt.

Das Ziel der Einbindung der Rechtsextremen in eine "Bürgerkoalition" konnte endlich erreicht werden, wenngleich die Rechtsextremisten wenig überraschend unsichere Kantonisten waren und die Regierung bald platzte, um dem altgewohnten bürgerlichen Minderheitskabinett Platz zu machen. Ulrich skizziert an dieser Stelle die politische Entwicklung der Weimarer Republik bis 1933, worauf er meiner Meinung nach besser verzichtet hätte. Aus solchen Ausblicken entsteht allzu schnell der Eindruck einer teleologischen Geschichtssicht, nach der alles unvermeidlich auf ein Ziel hinausläuft. Das Jahr 1923 sollte daher nicht als Ausgangspunkt einer letztlich unvermeidlichen Entwicklung gesehen werden. Das ist natürlich nicht Ullrichs Absicht, es ist eher eine sich durch die Struktur aufdrängende Interpretation.

Zum Schluss noch einige allgemeine Kommentare. Ich würde mir wünschen, dass die Darstellung in der Weimarer Republik, besonders ihre Frühzeit, ein wenig weg von der übermäßigen Nutzung der Aufzeichnungen von Harry Graf Kessler und Victor Klemperer kommen würde. So großartig diese auch sind und so intellektuell stimulierend ihre Einblicke sind, erwecken solche Darstellungen gerne den Eindruck, sie seien repräsentativ für das politische Klima jener Jahre. Gerade Kessler eignet sich hervorragend als Projektionsfläche für moderne Lesende, aber genau darin besteht eine große Gefahr. Dasselbe gilt für Victor Klemperer, der ebenfalls ein ungewöhnlich aufmerksamer und sensibler Beobachter seiner Zeit war. Oftmals wäre es besser, auf ein breiteres Quellenspektrum zurückzugreifen, egal wie geschliffen Kessler und Klemperer formulieren mögen.

Ein rein ästhetischer Fimmel meinerseits ist die Nutzung des Stilmittels der Inversion (z. B. "besonders betroffen von der Inflation war das Ruhrgebiet"). Ich bevorzuge schlichtweg die Positionierung von Verben an den "normalen" Stellen. Das soll nicht von der Qualität ablenken, die Ullrichs Darstellung offenkundig hat. Es ist lediglich ein kleiner Wermutstropfen. Etwas mehr stört mich dagegen, dass das Gewicht deutlich auf der Darstellung liegt. Zwar analysiert Ulrich auch viel und ordnet ein, aber an einigen Stellen hätte ich mir eine klarere Positionierung des Autors und eine weitergehende Analyse der Ereignisse, Lösungen und eingeschlagenen Pfade gewünscht. Auch Alternativen kommen in meinen Augen ein wenig zu kurz und tragen so zum teleologischen Gesamtbild bei.

Insgesamt allerdings kann ich das Werk trotz dieser kleinen Mängel sehr empfehlen. Es liest sich sehr angenehm (von den Inversionen abgesehen) und hatte für mich diverse neue Dinge zu bieten. Die Darstellung des Jahres 1923 gelingt sehr gut und vermittelt einen ganzheitlichen Eindruck, der den Hitler-Putsch und die Hyperinflation nicht übermäßig betont, sondern durch zahlreiche andere Ereignisse in einen Kontext stellt.

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