Mittwoch, 19. Juli 2023

Rezension: Volker Ullrich - Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund (Teil 3)

 

Volker Ullrich - Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund (Hörbuch)

In Kapitel 4 wendet Ulrich den Blick nach Bayern. Seit der Niederschlagung der Räterepublik im Frühjahr 1919 war das Land ein Hort des Rechtsextremismus. Als die Franzosen das Rheinland besetzten, eskalierte der latente Konflikt zwischen den Autoritäten in Bayern und der Reichsregierung vollständig. Die bayerischen Behörden verweigerten offen die Befehle aus Berlin, und die bayerischen Reichswehreinheiten unterstellten sich der bayerischen Landesregierung und verweigerten die Annahme von Befehlen der Reichsleitung und der Reichswehr. Jeder Anschein einer demokratischen Regierung in Bayern wurde fallengelassen, als ein Triumvirat gebildet wurde. Für die Rechtsextremisten war Bayern die Keimzelle einer neuen Regierungsform, ein Vorbild für den Rest Deutschlands, das sie ebenfalls autoritär umgestalten wollten.

Die SPD forderte eine Intervention in Bayern, da dort offen gegen die Reichsregierung rebelliert wurde und die dortigen Akteure objektiv Hochverrat begingen. Sowohl der Befehlshaber der Reichswehr, von Seeckt, als auch Stresemann lehnten eine solche Intervention jedoch ab. Stresemann aus Furcht vor den rechtsextremistischen Kräften in Deutschland und Seeckt, weil er nicht zu Unrecht davon ausging, für eine solche Operation nicht die Loyalität der Reichswehr zu besitzen. Für demokratisch gesinnte Kräfte wiederholte sich hier das Drama des Kapp-Putsches von 1920.

Diese Ereignisse standen, wie in Kapitel 5 dargelegt wird, in schroffem Gegensatz zu den Geschehnissen in Sachsen und in abgeschwächtem Ausmaß zu Thüringen. Beide Krisen standen in einem Wechselverhältnis zueinander und reagierten gleichsam aufeinander. Die unverhohlene Drohung aus Bayern, als Keimzelle eines neuen rechtsgerichteten autoritären Regimes zu dienen und von dort nach dem Vorbild Mussolinis 1922 einen Marsch auf Berlin anzuführen, beunruhigte sämtliche linksgerichteten Kräfte, ob demokratisch oder kommunistisch. Je mehr also in Bayern eine Ablösung von der Republik und ein offener Putsch gegen die demokratische Regierungsform stattfanden, desto mehr sahen die Linken in Mitteldeutschland eine Notwendigkeit für Gegenmaßnahmen - notfalls auch gegen Berlin.

Für mich ist auffällig, dass nur wenige der Beteiligten aus den Ereignissen von 1918 bis 1920 gelernt hatten. Weder hatten die bürgerlichen Kräfte erkannt, dass die rechtsextremistischen Revolutionäre nicht ihre besten Interessen im Kopf hatten und dass die Wiederherstellung einer Monarchie eine illusorische Vorstellung war, die von diesen nicht geteilt wurde (auch wenn Hitler, opportunistisch wie stets, gegenüber diesen Kräften gerne den Eindruck erweckte). Noch hatten die Linken begriffen, dass sie weder über den nötigen Massenrückhalt in der Gesellschaft verfügten, noch über die Mittel, um eine bewaffnete Auseinandersetzung mit den Rechten zu führen, die im Zweifel stets die Unterstützung der bewaffneten Organe genießen würden. So trieben die Rechtsbürgerlichen phlegmatisch und die Linksradikalen illusorisch in eine halbe Katastrophe hinein.

Sachsen wurde 1923 von der SPD regiert. Nach dem Bruch ihrer letzten Koalition mit dem Zentrum und der DdP, einer Art letztem Hurra der Weimarer Koalition, war sie eine Minderheitenregierung, die sich zunächst auf ihre alten Bündnispartner, aber zunehmend auf die KPD stützte. Dies wurde möglich, weil die KPD über internationale Anweisungen aus Moskau verfügte. Die neue Losung lautete, dass eine Zusammenarbeit mit der SPD in einer Koalition der beste Weg sei, um einen proletarischen Aufstand mit Mitteldeutschland als Keimzelle zu beginnen. Das Ziel war ein bewaffneter Aufstand zur Auslösung einer Revolution. Diese Strategie basierte auf einer krassen Fehleinschätzung der Zustände in Deutschland seitens der KPD-Führung, die von den deutschen Kommunisten willfährig unterstützt und mit übertrieben rosigen Berichten aus Deutschland gestärkt wurde. Im Spätsommer 1923 trat daher eine SPD-KPD-Koalition in Sachsen auf den Plan.

Ihr großes Projekt waren die sogenannten proletarischen Hundertschaften. Diese freiwilligen Verbände sollten einen Gegenentwurf zu den bayerischen Freikorps darstellen und als bewaffnete Verbände einen rechtsgerichteten Putsch aufhalten. Die KPD sah sie gleichzeitig als Keimzelle einer neuen, revolutionären Armee. Die Entwicklung sollte im ebenfalls links regierten Thüringen eine Entsprechung finden. Auch diese Hoffnung erwies sich als illusorisch. In jedem Fall waren die proletarischen Hundertschaften weder die Keimzelle für eine zukünftige Armee - sie besaßen niemals die Massenverankerung in der Gesellschaft, die hierfür nötig gewesen wäre - noch besaßen sie auch nur annähernd die notwendige Ausstattung, um es auch nur mit den Freikorps, geschweige denn der Armee aufzunehmen.

An dieser Stelle wurde der unglaubliche Doppelstandard der Weimarer Republik gegenüber dem Linksradikalismus frappant deutlich: Bereits im Vorfeld der Koalitionsgespräche zwischen SPD und KPD mangelte es nicht an expliziten Warnungen aus der Reichsregierung, dass man nicht bereit sei, eine Regierungsbeteiligung der KPD zu tolerieren. Dabei handelte es sich um einen glatten Verfassungsbruch, da die Reichsregierung keinerlei Einfluss auf die Regierungsbildung der Länder nehmen durfte. Dies störte jedoch praktisch niemanden, auch nicht die SPD in Preußen oder Reichspräsident Ebert. Nachdem die Koalition gebildet worden war, forderte das Reich den Rücktritt des SPD-Ministerpräsidenten und die Auflösung der Koalition mit der KPD.

Als dies nicht geschah, verhängte die Regierung den Ausnahmezustand über Sachsen, setzte den Reichswehrminister Dreßler als Sonderbevollmächtigten ein und setzte die Regierung ihrerseits ab. Zu diesem Zeitpunkt war die sächsische SPD grundsätzlich bereit, die Koalition mit der KPD aufzukündigen, aber nicht zur Opferung ihres Vorsitzenden und zur Erfüllung sämtlicher Forderungen. Sie befürchtete einen Präzedenzfall, der es rechtsgerichteten Kräften im Reich später ermöglichen würde, auch gemäßigte SPD-regierte Länder wie Preußen mittels eines solchen Putsches unter autoritäre Kontrolle zu stellen. Im Hinblick auf die Ereignisse von 1932 (Preußenschlag) sollten sich diese Warnungen als prophetisch herausstellen. Ebert jedenfalls ließ sich von der frappanten Illegalität dieser Ereignisse nicht abhalten und gab dem Ganzen seinen reichspräsidialen Segen.

Zum Glück für sämtliche Beteiligten hieß der Reichskanzler in diesem Fall nicht von Papen, sondern Stresemann. Während Dreßler darauf und daran war, die komplette sächsische Landesregierung auseinanderzunehmen und das Land unter die Herrschaft der Reichswehr zu stellen, um eine vollständige Neuordnung unter Ausschluss auch linksdemokratischer Elemente durchzusetzen, zog Stresemann eine rote Linie. Trotz seiner grundsätzlich eher rechtsgerichteten Instinkte, wie sie sich in seinem Zögern gegenüber Bayern oder beim Abblasen des Ruhrkampfes zeigten, werden hier die grundsätzlichen Qualitäten der Person Stresemann einmal mehr deutlich, die den unschätzbaren Verlust seiner Person durch seinen frühzeitigen Tod 1929 deutlich machen und bis heute kontrafaktische Szenarien befeuern, was die weiteren Ereignisse am Ende der Republik angeht.

Während die SPD sich in das Unvermeidliche fügte, plante die KPD entsprechend ihren Befehlen aus Moskau den bewaffneten Aufstand mit Sachsen als Keimzelle. In einem seltenen Anfall von Rationalität mussten die Beteiligten jedoch erkennen, dass ihnen jeglicher Rückhalt in der Bevölkerung fehlte und das Projekt zum Scheitern verurteilt war. Entsprechend brachen die oberen Ränge der KPD den Aufstand kurz vor Zwölf ab. Einzig die KPD in Hamburg widersetzte sich diesen Anweisungen und begann den Aufstand aus eigener Initiative, der für einige Tage die Republik in Atem hielt, aber erwartungsgemäß von der Reichswehr niedergeschlagen wurde. Diese Ereignisse führten zu einer Machtverschiebung im Politbüro der KPdSU, wo es Stalin gelang, Trotzki die Schuld für das Debakel in die Schuhe zu schieben und so an Statur zu gewinnen und seine Machtübernahme im darauffolgenden Jahr vorzubereiten. Das Jahr 1923 in Deutschland hatte somit auch deutliche Konsequenzen für die internationale Politik.

In Sachsen musste Dreßler sich auf Anweisung aus Berlin zurückziehen, und die SPD bildete erneut eine Minderheitsregierung unter einem neuen Ministerpräsidenten. Der "rote Oktober" zeigt einmal mehr beunruhigende und für die Zukunft wenig vielversprechende Dynamiken der Weimarer Republik, die sich als unfähig erwies, die rechtsextremistische Gefahr genauso effektiv zu bekämpfen wie die linksextremistische. Gleichzeitig zeigte sich, dass es in der SPD starke Elemente gab, die den mangelnden Rückhalt bei demokratischen Wahlen nur allzu gerne durch revolutionäre Bestrebungen ausgleichen wollten und von der Einheit der Arbeiterklasse träumten.

Als hätte die Republik mit der Hyperinflation, der bayerischen Rechtsregierung, dem "roten Oktober" und dem Ruhrkampf nicht bereits genug Krisen zu bewältigen gehabt, brachten die Ereignisse auch noch separatistische Bestrebungen im Rheinland mit sich, auf die sich Ulrich im 6. Kapitel konzentriert. Das Rheinland, das größtenteils zu Preußen oder im Falle der Pfalz zu Bayern gehörte, fühlte sich beiden "Mutterländern" nicht besonders zugehörig. Stattdessen waren immer noch die alten republikanischen Ideale des napoleonischen Rheinbundes präsent, weshalb die Ruhrbesetzung für einige radikale Kräfte in der Region eine willkommene Gelegenheit zu sein schien, eine Neuordnung des Reichs vorzunehmen oder sogar eine Abspaltung durchzuführen.

Der prominenteste Vertreter einer Neuordnung war der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, der selbst schon als potenzieller Reichskanzler gehandelt worden war. Seine Vision war die Gründung eines westdeutschen Bundesstaates, der jedoch in die Reichsstruktur integriert sein sollte. Dies hätte eine Schwächung von Preußen und Bayern bedeutet, was ganz in seinem Interesse gelegen hätte, und seiner Heimatregion eine weitreichende Autonomie zugestanden, um ihre kulturellen und gesellschaftlichen Eigenheiten zu verteidigen. Wir werden später noch sehen, was aus diesen Plänen geworden ist.

Der extremistische Flügel dieser Bewegung waren die Separatisten selbst. Sie strebten eine Art Rheinbund 2.0 an, eine Neugründung eines anderen Staates, völlig unabhängig vom Deutschen Reich. Aus Sicht der Separatisten war dies die einzige Möglichkeit, eine Annexion durch Frankreich zu verhindern, während sie gleichzeitig die ungeliebte Oberherrschaft Preußens abschütteln wollten. Diese Separatisten hatten allenfalls geringen Rückhalt in der Bevölkerung, genossen jedoch die Unterstützung der Besatzungsmacht Frankreich, was ihre Bestrebungen unabhängig von ihrer personellen Stärke zu einer wesentlich größeren Gefahr machte, als es eigentlich gerechtfertigt gewesen wäre.

Die Putschversuche der Separatisten, die 1923 stattfanden, erwiesen sich jedoch schnell als Farce. In einer bemerkenswerten Parallele zum Kapp Putsch von 1920 scheiterten sie vor allem daran, dass sich die Beamten und andere Angestellte des öffentlichen Dienstes weigerten, den Anweisungen der Putschisten Folge zu leisten. Hätten die französischen Soldaten nicht die deutsche Polizei entwaffnet und so die Putschisten unterstützt, wäre der Aufstand noch schneller zusammengebrochen. So oder so war der Spuk innerhalb von Tagen vorbei. Dass die Putschisten nicht einmal in der Lage waren, ihre Aufstände zu koordinieren, trug zusätzlich zu ihrem Scheitern bei. In der Pfalz zeigte sich eine ähnliche Dynamik, jedoch spielte hier der lokale SPD-Chef Hofmann eine entscheidende Rolle. Er strebte keine Abspaltung der Pfalz vom Reich an, sondern von Bayern. Die Reichsregierung trat mit eiserner Entschlossenheit dagegen an, während sie andererseits die bayerischen Putschisten komplett unbehelligt ließ. Dabei bestand durchaus die Möglichkeit, gegen die Putschisten in der Pfalz vorzugehen, indem man die Pfalz von Bayern trennte. Am Ende erzwang das Reich, wenn auch anders als in Sachsen und ohne den Einsatz der Reichswehr, den Rücktritt Hofmanns und setzte einen weiteren Präzedenzfall für die Absetzung linksgerichteter Regierungen durch das Reich, während es gleichzeitig rechtsextremen Hochverrat in anderen Ländern tolerierte.

Weiter geht es in Teil 4.

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