Sonntag, 7. August 2011

Krieg im 19. und 20. Jahrhundert Teil 3/3

Von Stefan Sasse

UN-Generalversammlung
Die inflationäre Verwendung von Worten verwischt die Bedeutung des Begriffs. Das ist besonders bei der Differenzierung des genozidalen Kriegs wichtig, wo der Begriff über den „normalen“ Krieg hinausgehen muss. „Genozid“ bedeutet Völkermord, vom Polen Rafael Zeltkin im Zweiten Weltkrieg erstmals verwendet. Geächtet wurde dieser auf Völkermord zielende Krieg erstmals durch eine Resolution der UNO 1946; 1948 bekräftigte die Generalversammlung das noch einmal. Damit wird Völkermord im Internationalen Recht zum Verbrechen. Relevant ist dabei die Absicht des Völkermords; strafbar ist bereits der Aufruf, nicht nur die Tat. In der Folgezeit wurde versucht, den Begriff weiter auszudefinieren. Die verwendete UNO-Definition überlässt dabei die Opferdefinition dem Täter. 

Erst das 20. Jahrhundert sprach vom genozidalen Krieg, aber das Phänomen ist alt. Der Althistoriker Martin Zimmermann beschreibt zum Teil außerordentlich grausame Kriege der Griechen und Römer, die oftmals Massaker anrichteten. Führten sie also genozidale Kriege? Dafür spricht die Vernichtung. Dagegen spricht der häufige Fall der Integration besetzter Gemeinwesen; Vernichtung wurde nach Widerstand praktiziert, nicht aufgrund ideologischer Motive. Damit kann die UNO-Definition nicht angewendet werden. Der Vernichtungskrieg als genozidaler Krieg taucht aber erstmals im 20. Jahrhundert auf. Vergleiche sind möglich, Gleichsetzungen verbieten sich.

Beispielhaft belegt werden soll dies anhand der Kolonialkriege. Es ist weit verbreitet, den gesamten Kolonialismus als Genozid oder Ethnozid zu bezeichnen; das Wort vom kolonialen Holocaust macht die Runde; man kann von einem regelrechten Opferwettbewerb sprechen, der auch von den Wissenschaftlern als Aufmerksamkeitswettbewerb betrieben wird. Das Verdammungswürdigste erhält die meiste Aufmerksamkeit; so wurde die koloniale Besiedlung Lateinamerikas als größter Völkermord aller Zeiten bezeichnet. Die Zahlen scheinen dafür zu sprechen; die Einwohnerzahlen gingen teilweise um 86-90% oder sogar höher zurück. Dies war allerdings kein Genozid, wenn man mit der UNO die Absicht der Vernichtung miteinbezieht. Die Eroberer haben die indigene Bevölkerung zweifellos rücksichtslos behandelt. Es gab allerdings kein Ziel der Vernichtung; man wollte sie als entrechtete Arbeitskräfte. Die gewaltigen Bevölkerungsverluste waren kein Resultat von planmäßiger Vernichtung, sondern überwiegend Folge von Epidemien (Mikropathogene Invasion). Solche Epidemien infolge des Kontakts mit Europäern gab es auch ohne Eroberungsabsichten, wie Beispiele wie Grönland oder Sibirien zeigen. Diese Phänomene verschlimmerten sich, wenn die Kolonisten davon ausgingen, die Einheimischen nicht als Arbeitskräfte zu brauchen, wie in Neu-England. Man kann hier von einem Ethnozid sprechen, was eine erzwungene Aufgabe der traditionellen Lebensweise bedeutet. Bei Widerstand schlug das schnell in Vernichtung um. Somit finden sich in den Kolonialkriegen definitiv genozidale Elemente; sie als Genozidalkriege zu bezeichnen ginge dagegen zu weit, obwohl es bisweilen hart an der Grenze war. Betrachten wir das an zwei Beispielen.

Verstümmelte Kongolesen
Im Kongo war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein belgischer Kolonialbesitz entstanden, den der belgische König Leopold als Privatbesitz betrachtete. Die Afrikakonferenz in Berlin hatte das akzeptiert. Leopold hatte diese Gebiete über Mittelsmänner von den Häuptlingen kaufen lassen, die die Verträge falsch verstanden und auslegten. Darin enthalten war auch eine Klausel, auf der die Belgier einen Arbeitszwang herauslasen. Auf Grundlage internationaler Verträge und der Berlinkonferenz wandelte Leopold den Kongo in einen verfassten Freistaat um, der nominell dem König, nicht dem belgischen Staat gehörte. Mit Hilfe von lizenzierten Firmen wurde der Kongo in der Folgezeit ausgebaut. Die Firmen gingen extrem hart vor, enteigneten und zwangen. Dieses Vorgehen löste in Europa Proteste aus. Man spricht bald von den „Kongo-Gräueln“. 1910 wird die Zwangsarbeit nominell abgeschafft; man schätzt, dass die Bevölkerung in den letzten 40 Jahren um etwa die Hälfte reduziert worden ist. War das ein Genozid? Adam Hochschild schreibt, dass streng genommen kein Genozid vorliegt, da die Absicht fehlt. Wenn die Einheimischen die Arbeitsziele nicht erreichten, kamen häufig Massentötungen durch bewaffnete Hilfsorgane der Firmen vor, die gerne auch abgehackte Hände und Köpfe als Beweise anführten. In diesem belgischen Kolonialstaat wurden die Einheimischen also grausam und hart zur Arbeit getrieben; es entstand ein kolonialer Zwangsstaat, in dem das Leben der Einheimischen nichts wert war, wenngleich man sie brauchte: dadurch entstand ein Mangel an Arbeitskräften. 1924 ordnete man eine Bevölkerungszählung aus dieser Sorge heraus an. Es handelt sich also um einen Ethnozid, aber keinen Genozid. Diesen hätten weder die belgische noch die europäische Öffentlichkeit hingenommen; auch die Verwaltung des Kongo wollte keinen. Sie praktizierte eine Politik, die Massensterben und Massentötung einbezog. Es gibt auch andere Einschätzungen in der Geschichtswissenschaft. Michael Brombig (?) ist der Meinung, dass es sich um einen Genozid, wenn nicht gar Holocaust gehandelt habe.

Die Herero und Lama gaben ihre Kooperation auf, als die Deutschen von ihnen die Aufgabe der traditionellen Lebensweise verlangten – ein Ethnozid. Als die Herero und Lama daraufhin mit Krieg antworteten, kämpften die Deutschen einen Genozidalkrieg. Von Throta kämpfte rassisch motiviert um die Vernichtung willen, so dass der Begriff gerechtfertigt ist. Das gilt allerdings nur für von Throta; das Deutsche Reich war anderer Meinung; der Kaiser hob den Vernichtungsbefehl auf. Das schloss auch die Zielsetzung der deutschen Kolonialpolitik aus; sie schloss zwar die Entrechtung und den Zwang der Einheimischen ein, aber das zielte nicht auf einen Genozid.

KZ Auschwitz-Birkenau
Es ist schwierig, im kolonialen Umfeld zwischen Ethnozid und Modernisierung zu unterscheiden. Verwaltung, Öffentlichkeit und Kirchen waren sich darin einig, dass die Weißen die Moderne nach Afrika zu bringen und das Land zu zivilisieren hätten. Man kann sich leicht darüber entrüsten; schwieriger ist es, diesen Willen mit dem generellen Modernisierungsprozess in Kontext zu setzen; wir blicken auf die dunkle Seite der von Nordamerika und Europa ausgehenden Modernisierung. Sie zielt auf Fortschritt, wie man ihn in der eigenen Gesellschaft wahrzunehmen glaubte. Niemand kam auf die Idee, ihn als etwas Schlechtes zu sehen: man stritt über den „richtigen“ Fortschritt; ihn vorantreiben wollten jedoch alle. Was die Zeitgenossen als Kultivierung der Arbeiterschaft betrachteten, gehörte zu den zentralen Zielen gerade auch der sozialistischen Arbeiterbewegung. Ihr Fortschrittsglaube war ihre stärkste Waffe; sie sahen ihn als ihren Verbündeten. Notfalls sollte mit Zwang die Gesellschaft geändert, reformiert, modernisiert werden. Man kann sagen, dass, je überzeugter eine Gesellschaft vom Fortschritt war, desto gewaltbereiter sie sich zeigte. Das europäisch-amerikanische Fortschrittsmodell trat auch gegenüber der eigenen Gesellschaft mit dem Willen zu Zwang und Disziplinierung auf, um die alten und unmodernen Lebensformen aufzugeben. Ganz Europa verlangte dies zum Beispiel im 19. Jahrhundert von den Juden. Dieses Gefühl, verbunden mit dem der Rassenüberlegenheit, machte diesen Effekt natürlich in den Kolonien deutlich stärker. Im 19. Jahrhundert wäre man niemals auf die Idee gekommen, so krass gegen die eigene Bevölkerung zu gehen – im 20. Jahrhundert fiel auch diese Schranke.

Ethnozid zielt darauf, als unmodern geltende Lebensgrundlagen zu zerstören und durch modern geltende zu ersetzen, der Genozid hat diesen Fortschrittswillen nicht und zielt auf Vernichtung. Im Krieg war die Gefahr besonders groß, die Grenzen zu verwischen.
Besichtigung Kolonial-Libyens durch den ital. König
Marokko war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht dem Einfluss einer europäischen Macht unterworfen, alle erhoben Ansprüche, auch Deutschland. Der Konflikt wurde aber nicht ausgespielt, sondern gab nach. Marokko konnte jedoch nie zur Gänze durchdrungen werden. 1920/21 wurden die spanischen Truppen angegriffen und geschlagen. Spanien empfand das als nationale Gegenbewegung und versuchte es zu korrigieren, doch die Einheimischen stellten sich nicht zur Schlacht, sondern kämpften einen Guerillakrieg. Sie waren sowohl militärisch als auch politisch erfolgreich; sie schlossen sich zusammen und riefen sogar eine islamische Republik aus. Gegen den durchgehenden Misserfolg setzten die spanischen Truppen ab 1924 Giftgas ein. Das geschah, wie auch die Vorbereitung, streng geheim, auch und vor allem gegenüber der eigenen Nation. Man hatte sich Hilfe von ausländischen Experten besorgt, England wie auch Deutschland. Das war keine Besonderheit, auch die Briten setzten Giftgas ein, so im Irak und in Afghanistan, Italien in Lybien (allein hier über 100.000 Opfer). Dem konnten die Einheimischen nichts entgegensetzen. Sie konnten ihre Zivilbevölkerung nicht schützen, das Land wurde teilweise unbrauchbar. 1927/28 gaben die Stämme nach und nach auf. Die spanischen Strafmaßnahmen waren drakonisch, Dörfer wurden niedergebrannt, Massenerschießungen durchgeführt. Führten die Spanier einen Genodizalkrieg? Nach UNO-Definition nicht, aber es gab genozidale Elemente, und spanische Äußerungen zielten auch darauf. Es war aber nicht das Ziel der Spanier, einen Genozidalkrieg zu führen. Die Stämme waren traditionell nicht bereit, zentralistische Gewalt zu akzeptieren. Ein Guerillakrieg aus der Bevölkerung heraus, wie er durchgeführt wurde, neigt stets dazu, die gesamte Bevölkerung in den Krieg hineinzuziehen. Niemand zögerte dabei, auch Giftgase und andere Kampfstoffe einzusetzen. Zum ersten Mal wurde diese Waffe gegen Zivilisten im Kolonialkrieg eingesetzt; man kann darin Rassismus erkennen, aber ein wichtiger Punkt ist ebenfalls der Guerillakrieg und die dadurch erfolgte Einbindung der Bevölkerung in das Kriegsgeschehen. Deswegen wird der Begriff Genozid überdehnt, wenn man ihn hier anwendet.

Die Debatte um den Völkermord an den Armeniern offenbart politische Dimensionen in der heutigen Zeit, wenn selbst demokratische Staaten sich an juristischen Geschichtsnormierungen versuchen, so Frankreich oder die Schweiz. In den Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Großmächten und dem Osmanischen Reich kam es bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu Pogromen an den Armeniern, die auf einen eigenen Staat zielten. Mit den Jungtürken keimte die Hoffnung auf Reformen auf, die jedoch bald enttäuscht wurde, da die Jungtürken das Osmanische Reich als Ganzes zu stabilisierten trachteten. Mit dem Ersten Weltkrieg verschärften die Jungtürken die Politik gegenüber den Armeniern und ihren Nationalbestrebungen. Mit den Niederlagen der Türken wurde die Politik radikalisiert, die Armenier als Sündenböcke hergenommen. Es fingen Massendeportationen in den Tod an; die Deportierten wurden unterwegs ermordet und ausgeraubt, es gab nirgendwo Aufnahmemöglichkeiten: man deportierte sie ins Nirgendwo. Auch nach Kriegsende ging das Leiden der Armenier weiter, denn die erfolgreich gegen die drastische Verkleinerung des Osmanischen Reichs kämpfende türkische Armee zerschlug auch das 1918 entstandene Armenien im Jahr 1920. Die Deportation der Armenier ist mit dem nationalsozialistischen Holocaust verglichen worden: ein ideologisch motivierter Genozid unter Kriegsbedingungen, wenn auch mit anderen Mitteln. Allerdings lässt die Haltung der Türkei nicht zu, dass die Entscheidungsprozesse der Türkei in dieser Zeit genauer untersucht werden, so dass eine Präzisierung nur bedingt möglich ist.

Die Bezeichnung „Neuer Krieg“ wird auch in der Wissenschaft verwendet, wo aber gleichzeitig seine schärfsten Kritiker zu finden sind. Er ist aber auch in der Politik und in den Medien zum Allgemeinplatz geworden, wird beständig verwendet.
Der Politikwissenschaftler Münkler hat den Begriff in Deutschland salonfähig gemacht. Er vergleicht mit dem zwischenstaatlichen Krieg; die Kolonialkriege oder Kriege außerhalb Europas betrachtet er nicht. Sein Erfahrungsraum ist Europa, deswegen auch die Dramatik seiner Gegenüberstellung. Er bestimmt drei Entwicklungen als neu:
1)      Entstaatlichung bzw. Privatisierung der Kriegsgewalt
2)      Asymmetrie der Kriegsgewalt
3)      Verselbstständigung der Kriegsgewalt
Die neuen Kriege finden laut Münkler statt, wo eine stabile Staatsgründung nicht gelang; sie seien Staatszerfall-, nicht Staatsgründungskriege. Das allerdings war früher auch nicht anders. Eine Verflechtung mit der Weltwirtschaft will er als Schattenglobalisierung ausgemacht haben. Diese Darstellung reizte seinen Kollegen Cajaki (?) zu einem sarkastischen Kommentar von „anekdotischen Einzelfallbetrachtungen“.
Es gibt allerdings Beobachtungen, die dieser These zugrunde liegen:
1)        Entscheidungsschlachten sind nicht möglich, egal welcher Präsident „Mission accomplished“ verkündet. Das ist allerdings nicht neu; Gueriallkriege waren schon immer so. Mao Tsetung sprach vom „verlängerten Krieg“, wenn die Guerilla Rückhalt in der Bevölkerung habe, in der sie sich „wie Fische im Wasser“ bewege.
2)        Der neue Krieg werde zur Lebensform; Krieg und Alltag seien nicht mehr zu trennen. Man kämpft um Wasser. Das allerdings fand sich in den Kolonialkriegen; der Krieg als Lebensform nicht, aber Münkler führt auch nicht aus, was das sein solle.
3)        Entdisziplinierung sein ebenfalls ein Merkmal; diese fand sich allerdings nicht nur in den Kolonialkriegen, sondern auch im Zweiten Weltkrieg in großem Maßstab.

Der zentrale Schwachpunkt des Deutungsmusters „Neue Kriege“: sie ereignen sich außerhalb Europas, werden aber von den Verfechtern der These an der Phase gehegter Kriege in Europa gemessen; die aber ein temporärer Sonderweg Europas zwischen Dreißigjährigen Krieg und Erstem Weltkrieg war. Damit verlieren die „neuen Kriege“ viel von ihrer Neuheit. Diese Dramaturgie dient wohl auch der moralischen Abgrenzung des Westens von anderen. Gleichwohl: die Kriege der Gegenwart, wie immer wir sie benennen wollen, sie unterscheiden sich von den Kriegen, an denen unsere Erfahrung geschult ist. Deswegen wurde der Begriff so gerne aufgenommen. Sie brechen mit unserer Kriegserfahrung, die an den völkerrechtlich gehegten Staatenkriegen geschult ist, mit dem Zweiten Weltkrieg als Sündenfall, der sich nicht wiederholen soll. Die Wahrnehmung des Neuen als Bruch mit dem Alten schafft eine eigene Realität, nach der sich Gesellschaft und Politik ausrichten.
Was ist also neu an den Neuen Kriegen? Zuerst zu den vier Kerntypen der kriegerischen Gewalt:



1
Zwischenstaatlich
Zwischen mindestens zwei souveränen Staaten
2
Extrastaatlich
Zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren jenseits bestehender Staatsgrenzen
3
Innerstaatlich
Zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in bestehenden Grenzen
4
Substaatlich
Zwischen nichtstaatlichen Gewaltakteuren innerhalb oder jenseits formaler Staatsgrenzen

Nur Kriege von Typ 1 können überhaupt gehegte Kriege werden; sie sind es nicht per se. Bestes Beispiel ist der Zweite Weltkrieg; seither mühen sich die Staaten, ihn wieder zu hegen. Die Zahl der Kriege nahm zu, die der Kriege von Typ 1 ab.
Die Kriege des Typs 2 umfassen besonders Kolonial- und Dekolonisierungskriege.

Typ
Anzahl begonnener Kriege 1946-2003
Durchschnittliche Dauer (in Jahren)
1
24
2,0
2
17
8,5
3
109
7,2
4
16
6,6
alle
166
6,1

Aus dem 18. Jahrhundert stammt der Begriff des „Kleinen Kriegs“. Er meint die zunehmende Irregularisierung des Krieges. Es ist also klar zu erkennen, dass es viele Klassifikationen der Neuen Kriege gibt, die ohne die Bezeichnung „neu“ auskommen und das Phänomen treffend umschreiben.
Dabei ist die Trennung zwischen den Neuen Kriegen, oder wie man sie auch immer nennen will, und den europäischen Kriegen so oder so Unfug: auch die Europäer haben Kriege geführt, die den heutigen „Neuen Kriegen“ gleichkommen. Dazu kommt, dass der „neue“ Krieg den „alten“ keineswegs verdrängt hat. Warum also wird diese Kriegsart überhaupt als neu wahrgenommen?

Flüchtlingscamp in Zaire
Die Dramatik, mit der die neuen Kriege beschworen werden, ist eine Folge der Globalisierung von Beobachtungs- und Handlungsräume. Gleich wo heute Kriege stattfinden, die Meiden berichten darüber, insbesondere über Kriege voller Menschenrechtsverletzungen. Generell werden wir über das Kriegsgeschehen informiert, über die Folgen des Krieges ebenso. Diese Allgegenwart des Kriegs bedeutet mediale Allgegenwart des ungehegten Kriegs, jener Kriege also, die keine Kriege zwischen Staaten sind, was seit der Mitte des 20. Jahrhundertes rund 85% aller Kriege weltweit sind. Diese Dimension des ungehegten Krieges waren in früheren Zeiten wohl nicht anders. Die gehegten Kriege waren auf Europa beschränkt. Damals gab es allerdings den globalen Wahrnehmungsraum nicht. Sie nahmen am ehesten die Kolonialkriege wahr, aber die andere Kriegführung galt als selbstverständlich.

Das ist heute anders. Die globale Allgegenwart führt uns ein ebenso globales Kriegsgeschehen vor Augen, das wir als neu wahrnehmen, obwohl es das nicht ist. Neu ist das Wissen darüber und dass sich das Wissen einen eigenen Handlungsraum schafft. Dazu kommt die Beteiligung der UNO, die Kriege zur Sache aller UNO-Staaten machen, die sich bisweilen auch daran beteiligen. Diese zielt auf Beseitigung von Notlagen, Stabilisierung von Demokratie und Beseitigung von Gewaltherrschaft. Dazu gehört die Einschränkung von Souveränität von Staaten; dazu gibt es weitere Organisationen, die auf bestimmte Räume beschränkt intervenieren. Dazu gehören die Afrikanische Union ebenso wie die OSZE, die EU oder die Nato. Deren Interventionen, egal wie sie aussehen, tragen zur Globalisierung unseres Wahrnehmungsraums dar.

US-Panzer in Bagdad 2003
Dazu kommt die Universalisierung der Menschenrechte. Sie erzwingt, Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt gleich zu bewerten und zu verurteilen. Das ist neu; früher wurde der Krieg, den Europa außerhalb Europas führte anders bewertet als innerhalb des Kontinents. Trotz ständiger Verstöße sind sie weltweit gültig und formulieren einen Wertemaßstab. Kriege, die dagegen massiv verstoßen, gelten als völkerrechtswidrig. Zum ersten Mal wurden die Menschenrechte von Wilson zur Legitimation des Ersten Weltkriegs benutzt; heute ist es oft umgekehrt, als dass die Verletzung von Menschenrechten ein Eingreifen von außen erzwingt, auch wegen der Globalisierung des Beobachtungsraums. Seither wird der gute gegen den schlechten Krieg gesetzt.

In diese Kategorie gehört der „gerechte Krieg“. Diese Idee ist mit dem frühneuzeitlichen Völkerrecht verschwunden, die durch die Idee der Staatssouveränität ersetzt wird, die auch ein Recht zum Krieg einbindet. Carl von Clausewitz: „Eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit anderen Mitteln. Ein politischer Akt.“ So blieb es bis zum Ersten Weltkrieg. Der Briand-Kellogg-Pakt schloss den Krieg prinzipiell als Mittel der Konfliktlösung aus. Das funktionierte nicht. Die UNO-Satzung schließt sogar die Androhung von Krieg aus, was sicherlich nicht zu den Erfolgsgeschichten der UNO zählt. Allerdings kann die UNO selbst aktiv werden. Die UNO hat keine Möglichkeit, die Mitgliedstaaten zur Einhaltung zu zwingen, kann jedoch einen „gerechten“ Krieg (humanitäre Intervention) bei allzu krassen Verstößen führen. Die Idee ist also, in säkularer Gestalt, zurückgekehrt.

„Nie wieder“ hieß nun nicht mehr, nie wieder Krieg, sondern nie wieder Terror gegen Bevölkerungsgruppen zuzulassen. Die Zeit des „gerechten Kriegs“ ist also zurückgekehrt. Der Frankfurter Soziologe Hondrich spricht sich stark dagegen aus und bezeichnet humanitäre Kriege als Hegemonialkriege. Für ihn besteht ein elementarer Widerspruch: Krieg fordert das Töten von Menschen; selbst ein „gerechter“ Krieg verlangt Vernichtung.

Die Idee, mit dem Krieg Fortschritt zu erzielen, ist aus dem 19. Jahrhundert in der Gestalt des „gerechten“ Kriegs zurückgekehrt. Habermas beispielsweise hoffte, dass dies die Grundlage einer Weltbürgergemeinschaft werden könnte, bei der weltweit Bürgerrechte durchgesetzt würden.
Es gilt zu überlegen, ob nicht eine Kontinuität im westlichen Denken und Dominanzstreben weiterentwickelt wird, die durch die beiden Weltkriege und die Dekolonisierung unterbrochen schien.

Bildnachweise: 
UNO - Patrick Gruban (CC-BY-SA 2.0)
Kongolesen - unbekannt (gemeinfrei)
Auschwitz - Stanislaw Mucha (CC-BY-SA 3.0)
Libyen - Private archive of Dini Family (gemeinfrei)
Flüchtlingscamp - Centers for Disease Control and Prevention (gemeinfrei)
Panzer - TSGT JOHN L. HOUGHTON JR., USAF (gemeinfrei)

Dieser Text beruht auf der gleichnamigen Vorlesung von Prof. Dr. Langewiesche.


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