Montag, 31. Mai 2021

Die verdrängte Dekade, Teil 5: Eurosklerose, die zweite

 

Teil 0 mit einleitenden Bemerkungen, Teil 1 mit einer Betrachtung der außenpolitischen Rolle der USA, Teil 2 mit einer Analyse der Finanzkrise 2007/2008, Teil 3 mit einer Beschreibung der Rückkehr der Realpolitik und Teil 4 mit der Analyse der europäischen Politik gingen diesem Artikel voraus.

Im Sommer 2009 war die deutsche Position, wonach die Krise ein angelsächsisches Phänomen wäre und Deutschland im Speziellen und Europa im Allgemeinen nichts anginge, endgültig unhaltbar geworden. Es ist unklar, ob Merkel und Steinbrück das je wirklich geglaubt haben oder ob sie nur der Überzeugung war, es sei etwas, das sich politisch gut verkaufen lassen. Grundsätzlich spielt das auch keine Rolle. Die Wirkung der deutschen Ignoranz war dieselbe: Während das Ausland die Deutschen bestürmte, sie mögen doch ihre Verweigerungshaltung aufgeben, die Realitäten anerkennen und etwas gegen die drohende Implosion des europäischen Teils des transatlantischen Finanzsystems unternehmen, steckte sich Berlin die Finger in die Ohren und tat nichts.

Dies ging so weit, dass der britische Premierminister Gordon Brown verzweifelt versuchte, Peer Steinbrück zu erreichen und sogar persönlich (!) im Willy-Brandt-Haus und im Ministerium anrief. Steinbrück ließ sich am Telefon verleugnen. Man könnte diese Episode als eine Groteske abtun, wenn sie nicht so emblematisch für das Geschehen einerseits und so konsequenzenreich andererseits wäre. Die deutsche Politik weigerte sich beharrlich, sich den Realitäten zu stellen, und sie weigerte sich auch, irgendetwas gegen das drohende Debakel zu unternehmen.

Was die Lage änderte war die Pleite der Hypo, diverser Landesbanken und der KfW. Sie alle waren - selbstverständlich, möchte man hinzufügen - mit dem transatlantischen Bankensystem verknüpft und deswegen entgegen aller anderslautender Aussagen aus Kanzleramt und Finanzministerium sowohl Beteiligte als auch Opfer der weltweiten Verwerfungen. Diese Welle kam in Deutschland nur etwas später an als in vielen anderen Staaten (auch eine auffallende Parallele zur Corona-Pandemie, wo deutsche Selbstgefälligkeit die ersten Reaktionen regierte).

Das Duo Merkel-Steinbrück, das sich bislang jeglicher Aktion verweigert hatte, geriet nun in Panik. Ohne Absprache mit den europäischen Nachbarn, den Mitgliedern der Euro-Gruppe oder sonst irgendwem traten sie vor die Presse und verkündeten eine Garantie der deutschen Spareinlagen. Innenpolitisch war das ein durchaus sinnvoller Zug, um einen Bankrun zu verhindern. Außenpolitisch war das Signal verheerend. Denn Deutschland machte damit unmissverständlich klar, dass es keinerlei Verantwortung für den Euroraum als Ganzes sah und sich nicht mit anderen Ländern abzusprechen gedachte.

Dieses Stricken mit der heißen Nadel war allerdings nicht in der gesamten deutschen Politik verbreitet. Es war vielmehr ein typisches Feature des Merkel'schen Regierungsstils. Als 2009 die SPD krachend die Bundestagswahlen verlor und eine mit 14,9% ausgestattete FDP triumphal in die Regierung einzog, wurde Wolfgang Schäuble Finanzminister. Er sollte in dieser Rolle in den kommenden vier Jahren gewaltigen Einfluss haben, und anders als Angela Merkel hatte er einen sehr langfristigen Plan - einen Plan, der in bestimmten Teilen der bürgerlichen Intellektuellen schon seit Jahrzehnten gehegt wurde und für den Schäuble nun Morgenluft witterte.

Es ist faszinierend, dass Schäuble insofern mit Sarkozy und der traditionellen französischen Außenpolitik auf einer Linie lag, als dass er zur Lösung der Krise eine stärkere europäische Integration befürwortete. In der Ausgestaltung dieser verstärkten Integration unterschieden sich seine Vorstellungen wenig überraschend deutlich von den französischen Ideen, aber er hatte einen starken Präzedenzfall vor Augen: Schäuble war nicht nur Zeuge, sondern ein zentraler Akteur in den Maastricht-Verhandlungen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gewesen, in denen die Deutschen die Zustimmung zur gemeinsamen Währung gegen die Übernahme der Bundesbankpolitik in die neue EZB tauschten, wozu auch die stringenten Haushaltsrichtlinien - 60% Maximalverschuldung, 3% Neuverschuldung - gehörten, die in der Griechenlandkrise problematisch werden würden, wie wir bald sehen werden.

Ein alternatives Europa, in dem Deutschland entlang dieser Linien - einer Entmachtung der Politik zugunsten dem harschen Urteil der internationalen Finanzmärkte - eine tiefere europäische Integration durchsetzte ist mit Sicherheit eines, das in der Eurokrise eine lange Leidensphase der Austerität durchgemacht hätte, wesentlich härter, als es in der tatsächlichen Krise der Fall war. Aber Schäubles Vorschlag ging nirgendwohin.

Der Grund dafür lag in Angela Merkel. Sie zeigte hier ihre Grundlinie, von der sie die gesamte Eurokrise nicht abrücken würde und die letztlich einen Großteil ihrer Kanzlerschaft bestimmt hatte: nur keine großen Änderungen. Merkel hatte gerade erst den schwierigen Lissabon-Vertragsprozess zur Verabschiedung des Vertrags in allen 27 Mitgliedsstaaten zu Ende gebracht. Das letzte, was sie wollte, war, das komplexe Vertragswerk erneut aufzuschnüren und Revisionen des Vertrags zu verhandeln. Ihre Maßgabe war, dass die Krise im bestehenden System gelöst werden müsste. Es kam also nicht zur Verschärfung der Regeln, wie Schäuble sie wünschte, oder zur Änderung der Richtung, wie sie etwa Sarkozy forderte. Stattdessen schallte aus Berlin ein entschlossenes "Weiter so".

Es zeigte sich hier ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der deutschen Krisenpolitik, die effektiv die europäische werden sollte, und der angelsächsischen. Wo es London und Washington darum ging, möglicht schnell die Krise abzufedern und zur Tagesordnung zurückzukehren - die Rezession v-förmig zu gestalten und einen raschen Aufschwung herzustellen - hatte die deutsche Politik einen wesentlich größeren Bezugsrahmen. Akteure wie Wolfgang Schäuble oder Jens Weidmann, die effektiv die Große Koalition zumindest im Finanzbereich im schwarz-gelben Kabinett fortführten, dachten im Horizont eines Jahrzehnts. Für sie war die Krise nicht ein kurzfristiger Einbruch ins business as usual, sondern ein Symptom tiefgreifender Ungleichgewichte in Europa, die es auszumerzen galt.

Die Analyse war im Endeffekt dieselbe, wie sie bereits die europäischen Regierungen zur Weltwirtschaftskrise umgetrieben hatte. Die europäischen Lohnstückkosten waren zu hoch, europäische Produkte auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. Im deutschen Narrativ hatte man selbst das Problem durch die Agenda2010 und die Hartz-Reformen überwunden. Dieselben Kürzungen musste Europa nun auf breiter Ebene durchführen; die gesamte EU sollte Deutschland nachmachen und auf Export in die restliche Weltwirtschaft setzen. Es war eine typisch deutsche Politik, und für Berlin bestand hier nicht nur die Chance, sondern auch die Pflicht, den Rest Europas am deutschen Wesen genesen zu lassen.

Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, diese Politik rein als Austerität zu beschreiben. Auch andere deutsche Kriseninstrumente wurden auf ganz Europa ausgerollt, am prominentesten das Kurzarbeitergeld. Dadurch sollten scharfe Anstiege der Arbeitslosenzahlen vermieden und die direkten Krisenfolgen so abgefedert werden, dass möglichst viele Menschen in Lohn und Arbeit blieben. Die Resultate waren insgesamt überzeugend; die Arbeitslosenzahlen erreichten nie die Höhe, wie sie sie etwa in Großbritannien und den USA erreichten. Viel Elend konnte auf diese Art vermieden werden. Der starke Sozialstaat, wie er besonders in Deutschland, aber eigentlich in ganz Westeuropa etabliert war, ist geradezu die Grundlage und Voraussetzung für die deutsche Strategie. Diese europaweite Fokussierung auf Kurzarbeitergeld als Krisenbewältigung trug merkliche Früchte in der Covid-Pandemie 2020/21.

Doch galt dies genauso für die Swap-Lines nicht für alle europäischen Staaten. Denn eine gemeinsame Finanzierung oder gemeinsame Haftung gab es explizit nicht. Stattdessen bestand Deutschland darauf, dass alle Euro-Staaten sich weiterhin an den Kapitalmärkten refinanzierten. Es war die Peitsche dieser Politik: Wer von den Finanzmärkten als zu schwach gesehen wurde, konnte sich nicht refinanzieren; als einziger Ausweg blieb Austerität. Griechenland sollte bald schmerzlich erfahren, was das bedeutete.

Die korrupte christdemokratische Regierung (ND) wurde 2009 von einer nicht minder korrupten sozialdemokratischen Regierung (Pasok) abgelöst, die 2012 wiederum von der ND ersetzt wurde. Keine der beiden Volksparteien war in der Lage, die traditionellen griechischen Klientelnetzwerke zu durchbrechen, die für eine Reform notwendig gewesen wären - egal in welche Richtung. Das führte 2012 zur Implosion der Pasok - eine Entwicklung praktisch aller sozialdemokratischer Parteien in der verdrängten Dekade. Stattdessen stieg die linkspopulistische Syriza auf, die 2015 schließlich an die Regierung gelangte. Ihre harsche Kritik der Europolitik versprach einen alternativen Weg, wie er vor allem durch den auffälligen Finanzminister Yannis Varoufakis verkörpert wurde.

Die Griechen rannten dabei jedoch beständig gegen die Mauern der europäischen Realpolitik. Denn Athen war isoliert. Obwohl Spanien, Italien, Irland und Portugal sehr ähnliche Probleme hatten und Frankreich, in dem seit 2012 der sozialdemokratische Francois Hollande regierte und einen wesentlich konfrontativeren Kurs gegenüber Berlin zu fahren versuchte, der Haltung Syrizas grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstand, war gegen die deutsche Blockadehaltung nichts zu machen.

Diese Blockadehaltung genoss in Deutschland umfassende Unterstützung. Keine der vier etablierten Parteien besaß irgendwelche Sympathien gegenüber Syriza; einzig die LINKE war glühender Fan, was sie jedoch außenpolitisch nur einmal mehr ins Abseits stellte. Doch abgesehen von der Überzeugung, dass es keine Vergemeinschaftung der europäischen Schulden oder gar Wirtschaftshilfen an Athen geben sollte, gab es wenig Einigkeit, weder im Bundestag im Allgemeinen noch in der Koalition im Speziellen.

Wolfgang Schäuble, der rechte Flügel der CDU und die FDP waren dafür, Griechenland pleitegehen zu lassen. Ihre gesamte Politik war darauf fokussiert, das Land aus dem Euro hinauszudrängen. Auf eine merkwürdige Art waren Schäuble und sein Intimfeind Varoufakis in dieser Beziehung wie siamesische Zwillinge, denn auch Varoufakis legte es auf den Austritt Griechenlands aus der Eurozone an (was dann ja auch zu seinem Ausscheiden aus der Syriza-Regierung führte, die zu diesem Schritt genauso wenig bereit war wie Angela Merkel). Wo sich die deutschen Konservativen und Ordoliberalen die Umsetzung ihres langfristigen Plans erhofften, glaubte Varoufakis an die Wiedergewinnung der griechischen Souveränität.

Hierfür gab es mehrere verschiedene Ansätze.Varoufakis versuchte zuerst, Unterstützung in den USA zu gewinnen. Diese wünschten nichts sehnlicher, als dass die EU eine Art Marshallplan für Griechenland auflegte, aber das Weiße Haus gab unmissverständlich zu verstehen, dass man sich in dieser Sache nicht gegen den Verbündeten Deutschland stellen würde. Hier war keine Hilfe zu erwarten. Varoufakis versuchte es dann an anderer Stelle. Mit Tsipras' Rückendeckung versuchte er, Kredite in Russland und China zu bekommen und die Drohkulisse eines sich in die Nähe dieser Länder orientierenden Griechenlands aufzubauen. Überraschend erhielt er auch hier Abfuhren: Beijing und Moskau erklärten den Syriza-Politikern, dass sie Griechenland als in der deutschen Interessenssphäre liegend betrachteten und sich nicht einzumischen gedachten.

Für Griechenland musste diese Nachricht als ein Schock gekommen sein. Sie waren Berlin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es gab nur noch eine Möglichkeit, und Varoufakis drängte Tsipras, sie zu nutzen: sich die Waffe an den Kopf zu halten und zu drohen, abzudrücken. Die Idee war, dass die Troika nicht in der Lage sein würde, einen unilateralen Schuldenschnitt durch die griechische Regierung und unkontrollierten Austritt aus dem Euroraum zuzulassen und verhandeln müsse (eine Illusion, der sich nur ein Jahr später auch die Briten hingeben sollten). Doch gerade die Troika hatte dafür gesorgt, dass diese Drohung ein stumpfes Schwert war.

Die USA hatten Griechenland nicht vollständig aufgegeben. Die Obama-Regierung erzwang nämlich im Verbund mit Frankreich und anderen Gegnern der deutschen Politik eine Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IMF), der ein Drittel der berühmt-berüchtigten Troika bildete. Es war das erste Mal, dass der IMF in Europa aktiv wurde. Bislang hatte die Institution die Zuständigkeit gehabt, Entwicklungsländer auf den Washington Consensus zu pressen und für westliche Kapitalgeber attraktiv zu machen (mit, sagen wir, gemischtem Erfolg). Nun  wurde er benutzt, um die deutsche Politik zu konterkarieren und eine Pleite Griechenlands zu verhindern. Man sollte das nicht auf irgendeine aufgeklärte Haltung jenseits des Atlantiks schieben wollen. Das letzte, was die Obama-Regierung wollte, war eine von Europa ausgehende Welle von Bankenpleiten, die die gerade erst stabilisierten US-Banken mit sich riss - eine Haltung, die den Deutschen herzlich egal war.

Doch die Troika-Politik hatte zumindest einen Effekt gehabt: über die Jahre der christdemokratischen ND-Regierung waren tranchenweise, Notkredit für Notkredit, die griechischen Schulden aus dem privaten in den staatlichen Sektor gewandert. Als Syriza 2015 an die Macht kam, waren die toxischen griechischen Papiere weitgehend nicht mehr in den Bilanzen der großen Player wie der Deutschen Bank, die sich hier verzockt hatten, sondern in den Bilanzen der EZB. Das öffnete zwar theoretisch die Tür zu einer politischen Lösung; praktisch aber hielt die deutsche Blockadehaltung diese geschlossen. Tsipras weigerte sich, Varoufakis' Vabanquespiel zu unterstützen und akzeptierte stattdessen das Ultimatum der EU. Seither leidet Griechenland zwar weiter und ist von einer Gesundung immer noch weit entfernt - eine Krisengefahr geht von dem Land nicht mehr aus, an dem ein Exempel statuiert wurde.

Doch auch Schäuble und die FDP konnten ihre Ziele nicht umsetzen. Ihr Plan war gewesen, das Exempel Griechenlands als Brechstange zu benutzen, um den neoliberalen Traum der Entkopplung von Politik und (Finanz-)Wirtschaft umzusetzen. Doch weder war Merkel bereit gewesen, die europäische Krisenpolitik zugunsten einer größeren Einheit der Wirtschaftspolitik zu ändern, noch war sie bereit, die radikalen Wünsche der CDU-Konservativen und FDP mitzutragen.

Dies führte zu der merkwürdigen innenpolitischen Situation, dass Merkel für ihre Krisenpolitik ab 2012 im Bundestag keine eigene Mehrheit besaß. Konnte sie 2010/2011 mit nationalistischen Tönen (besonders ekelhaft im Wahlkampf Nordrhein-Westfalen, der wie kaum etwas anderes die Linien ihrer Griechenlandpolitik bestimmte) und Appellen zur Einheit noch eine "Kanzlermehrheit" erzwingen, brauchte sie im späteren Teil des Kabinetts die Stimmen der eigentlich oppositionellen SPD, um überhaupt noch Außenpolitik betreiben zu können. Da die SPD hierzu bereit war - ebenso wie weite Teile der schwarz-gelben Koalition - war es möglich, eine große Kontinuität der bisherigen deutschen Krisenpolitik zu wahren. Für die FDP wirkte sich das fatal aus. Sie musste als Regierungspartei eine ungeliebte Politik mittragen, was sie - wie wir im nächsten Teil ausführlicher betrachten werden - 2013 aus dem Bundestag fegte.

Es sei in diesem Zusammenhang übrigens erwähnt, dass ausgerechnet die britische Regierung eine dritte Reformoption für die EU - neben der französischen und Schäuble'schen - auf den Tisch legte, als Premier David Cameron 2015 einen umfassenden Reformkatalog vorschlug, der die EU deutlich in eine Richtung Freihandelszone geschoben hätte. Es war ein schlecht vorbereiteter und wenig durchdachter Versuch Camerons, innenpolitischen Rückenwind zu gewinnen, der zudem gegen Merkels Abneigung einer Grundsatzreform ohnehin keine Chance hatte. Wie Schäubles eigene Vorstellungen gehört es aber zu den faszinierenden "Was wäre wenn" der Eurokrise, sich eine Reformbewegung unter britischer Führung vorzustellen.

Die von Berlin ausgehende Stasis, die eine Neuauflage der "Eurosklerose"-Krise der 1970er und 1980er Jahre brachte, als bereits einmal die Entscheidungsmechanismen der Union gelähmt waren und erst ein deutsch-französisches Rapprochement den Durchbruch brachte (und der Zusammenbruch des Ostblocks), erstreckte sich nicht nur auf die Europolitik. Die bis heute anhaltende Handlungsunfähigkeit der Union zeigte sich auch in anderen Bereichen.

Einer davon war Libyen, das wir bereits in anderem Zusammenhang gesehen haben. Es ist augenfällig für die Schwäche der europäischen Außenpolitik, dass es hier nicht einmal den Versuch gab, eine gemeinsame Lösung zu finden. Stattdessen entschied sich Deutschland aus innenpolitischen Motiven zu der taktlosen Enthaltung im Sicherheitsrat und fiel seinen Verbündeten Großbritannien und Frankreich (und den USA) in den Rücken, ohne dass klar war, welche Strategie hier eigentlich verfolgt werden sollte - wohl, weil es keine gab.

Doch nicht nur Libyen zeigte eine Konfusion und Ziellosigkeit der europäischen Außenpolitik. Mangelnde Globalpolitik zeigt sich überall, besonders aber in Afrika und Osteuropa. So entschloss sich Deutschland zur Teilnahme an einer Mission in Mali, die keinerlei sinnvoll erreichbare strategischen Ziele besaß. Im Resultat sitzen Bundeswehrsoldaten heute noch in Mali in ihren Camps, während um sie herum mittlerweile zwei Putsche stattgefunden haben und die eigentliche raison d'etre der Ausbildung der malischen Streitkräfte seit mittlerweile fast zwei Jahren ausgesetzt ist.

Ein noch viel größerer Sumpf stellt das Engagement in Afghanistan dar, wo die Missionsparameter 2004 - direkt zu Beginn der  verdrängten Dekade - von der Bekämpfung der Taliban aufs Nation Building verschoben wurden, ohne klare Ziele oder auch nur annähernd angemessene Mittel. Die EU-Mächte begaben sich ziellos in unendliche Konflikte, die irgendwelchen äußeren Einflüssen entsprangen - Attacken auf transatlantische Verbündete hier, politische Interessenverteidigung in Frankreichs ehemaligen Kolonien dort.

Am augenscheinlichsten aber war das Versagen der EU in der Ukraine. In ihrer Selbstwahrnehmung und Außendarstellung betont die EU gerne, dass sie keine Geopolitik betreibe. Das ist allerdings nicht korrekt. Ihre Geopolitik ist nur furchtbar unkoordiniert und undurchdacht. Nirgendwo wurde das so deutlich wie in dem halsstarrigen Bestreben, die Ukraine in ein Assoziierungsabkommen zu bewegen.

Es war von Anfang an völlig klar, dass das Land keine Aufnahmeperspektive besaß. Die proklamierte Unvereinbarkeit mit der Mitgliedschaft in Russlands "Eurasischer Wirtschaftsunion" hatte so nicht wirklich eine realpolitische Grundlage. Andererseits hatte aber anscheinend auch niemand in Brüssel - oder einer der anderen Hauptstädte - einen Gedanken darüber verschwendet, was geschehen würde, wenn man diese Entscheidung erzwang.

Man sieht diese strategische Ziellosigkeit bereits in der geradezu grausamen Unbedarftheit, mit der die Ukraine behandelt wurde. In der Finanzkrise war das Land, abgeschnitten von Finanzströmen und nicht unbedingt ob seiner krisen- und weltmarktstauglichen Wirtschaft gerühmt, bereits schwer gebeutelt worden. In den 2010er Jahren warben nun Russland und die EU um die Ukraine, die sich schließlich nach dem Euromaidan für die EU entschied.

Doch ähnlich wie in Griechenland sollte es ein rüdes Erwachen geben. Bis heute weigern sich die EU-Länder, die Ukraine mit Waffen zu beliefern (man darf sicher sein, dass Russland gegenüber der Unterstützung der Separatisten keine solchen Skrupel hat). Aber auch im weniger der öffentlichen Debatte unterworfenen Finanzbereich zeigte sich die EU knausrig. Das Versprechen von Hilfen und ökonomischer Integration, dass die ukrainischen Führungspersönlichkeiten ihrem Volk gemacht hatten und auf das man illusionäre Hoffnungen gelegt hatte, zerstieb mit dem ersten konkreten Hilfsplan der EU.

Die angebotenen Kredite für die Ukraine bewegten sich im niedrigen einstelligen Milliardenbereich und umfassten nicht einmal ein Zehntel der Summe, die das Land brauchte. Es war zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel, und es kam wie üblich mit einer Reihe drakonischer Reformforderungen - Forderungen, die die kleptokratische Elite des Landes nicht berührten - die ihre Milliarden längst außer Landes geschafft hatte, in sichere Finanzhäfen in der EU - aber dafür die Bevölkerung, die nun offiziell von der EU geforderte Einschnitte in ihren ohnehin geringen Lebensstandard ertragen sollte und sich dazu das den Griechen bestens vertraute Lied anhören durfte, dass sie über ihre Verhältnisse gelebt hätten und wettbewerbsfähig werden müssten. Was in Griechenland zumindest noch debattierfähig war, war angesichts des Zustands der Ukraine geradezu lächerlich.

Natürlich gibt es keine Verpflichtung der EU, Stützkredite - die ohnehin nie zurückbezahlt werden, was allen Beteiligten klar ist - an ein Land zu vergeben, das von einer kleptokratischen Elite heruntergewirtschaftet und in einem Bürgerkrieg mit starker russischer Beteiligung gefangen ist. Nur sollte man solche Entscheidungen vielleicht treffen, bevor man aggressiv mit exakt solchen Krediten wirbt und versucht, die von Russland als seinen Hinterhof betrachtete osteuropäische Peripherie in die EU zu locken.

Es ist diese strategische Ziellosigkeit, gepaart mit den starken Beharrungskräften, die die EU in der verdrängten Dekade auszeichnet. Am Ende waren sie alle unzufrieden. Die Konservativen und Liberalen beklagten die Reformen wie den ESM, die Deutschland widerstrebend durch Sachzwänge aufoktroyiert worden waren, während für die solcherart beglückten Empfängernationen das ganze liberale europäische System als blanker Hohn erscheinen musste. Die Folge war eine Entwicklung, die zu Beginn der verdrängten Dekade wohl noch niemand auf dem Radar hatte. Anstatt einer Bedrohung durch die lang befürchtete Revolution von links kam der Aufstand von rechts.

Dienstag, 11. Mai 2021

Die verdrängte Dekade, Teil 4: Die vielen Gesichter der europäischen Krise

 

Teil 0 mit einleitenden Bemerkungen, Teil 1 mit einer Betrachtung der außenpolitischen Rolle der USA, Teil 2 mit einer Analyse der Finanzkrise 2007/2008 und Teil 3 mit einer Beschreibung der Rückkehr der Realpolitik gingen diesem Artikel voraus.

In den Jahren 2004/2005 war die Europäische Union auf einem Höhepunkt ihrer Euphorie auf einem rapiden Weg zur "immer engeren Union". 2002 war erfolgreich die Umstellung auf den Euro als gemeinsame Währung von (mittlerweile) 19 Mitgliedsstaaten vollzogen worden. 2004 erfolgte dann, parallel zur NATO-Osterweitung, auch die EU-Osterweiterung. Zehn neue Mitgliedsstaaten vergrößerten die Union von 15 auf 25 Mitglieder, mit zwei weiteren mit vorgesehenem Beitrittsdatum 2007. Es war offensichtlich, dass die Strukturen, die einmal für eine EWG von sechs Ländern geschaffen und seither mehrfach grundreformiert worden waren, einer weiteren Änderung bedurften.

Dieses Fakt stand für alle Beteiligten außer Frage. Die EU tat sich bereits mit 15 Mitgliedern schwer, die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder unter einen Hut zu bringen. Die Übernahme zahlreicher weiterer Kompetenzen, nicht zuletzt des Euro (der, mit Ausnahme Großbritanniens und Dänemarks, perspektivisch ja alle EU-Staaten umfassen sollte), erforderte Umsetzungsinstrumente, die schlicht nicht gegeben waren.

Viel problematischer aber war die Bandbreite an unterschiedlichen Systemen und Lebensverhältnissen, die durch die Osterweiterung bedingt war. Die Aufnahme der drei Südländer Spanien, Portugal und Griechenland hatte die EU vor allem durch eine Ausweitung der Transferzahlungen abfedern können. Bereits damals war die Teilhabe am mit Abstand größten EU-Fördertopf, der Gemeinsamen Agrarpolitk (GAP), ein hoch problematischer Zankapfel gewesen; eine Aufnahme besonders des landwirtschaftlich starken Polens in dieses System war undenkbar. Ein erster Reformvorstoß mit dem Vertrag von Nizza war im Jahr 2000 mehr oder weniger deutlich gescheitert. Diese Ereignisse habe ich detailliert in Teil 4 und Teil 5 meiner Geschichte der Europäischen Union nachgezeichnet; sie sollen hier daher nicht weiter ausgeführt werden.

Relevanter für unsere Geschichte ist der Verfassungsvertrag, den sich die EU daraufhin geben wollte. 2004 arbeitete eine Kommission an einem gemeinsamen Vorschlag für eine Europäische Verfassung, geleitet vom über alle Zweifel erhabenen konservativen Über-Europäer Giscard d'Estaigne. Der entstehende Vertrag würde die EU zwar nicht in einen Bundesstaat verwandeln, aber deutlich über die supranationale Organisation hinausführen, die sie zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon war. Der Verfassungsvertrag jedenfalls war dem allgemeinen Verständnis nach eine Vorstufe auf die "Vereinigten Staaten von Europa" und sollte die EU handlungsfähiger machen.

Doch 2005 folgte der Schock. Nach Ratifizierungen in den meisten EU-Ländern lehnten die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande das Vertragswerk ab; weitere Abstimmungen wurden nicht mehr abgehalten. Wie bereits 1954 war es ausgerechnet Frankreich, das eine im Kern französische Initiative abwürgte. Das europäische Einigungsprojekt kam zu einem quietschenden Halt.

Bereits vorher hatte es deutliche Risse in der Fassade neuer europäischer Einigkeit gegeben. 2003 hatten Frankreich und Deutschland in der EU die Machtfrage gestellt und die Mitglieder zum Offenbarungseid gezwungen, als sie sich offen gegen die USA stellten und den Irakkrieg rundherum ablehnten. Die Bush-Regierung hatte gehofft, ein Lippenbekenntnis zu bekommen und damit eine scheinbar geeinte Front präsentieren zu können. Umgekehrt hofften Deutschland und Frankreich darauf, eine außer Großbritannien geeinte EU gegen die USA präsentieren zu können und forderten Gefolgschaft ein.

Sie erhielten sie nicht. Spanien etwa warf sich mit derselben Verve hinter die USA wie Großbritannien. Wesentlich dramatischer aus Sicht der Deutschen und Franzosen aber dürfte die Reaktion in Osteuropa gewesen sein. Die Beitrittskandidaten unterstützten praktisch durch die Bank die USA, der Irakkrieg spaltete den Kontinent in zwei Hälften.

Dabei machten die neuen Beitrittskandidaten ebenso wie etwa Spanien eine strategische Grundkalkulation: sie gingen davon aus, dass die Freundschaft zu den USA für ihre Sicherheit und weitere Prosperität wichtiger sein würden als die EU. Dass dies in Berlin und Paris nicht gesehen worden war - vor allem in Bezug auf Osteuropa - ist frappant und erscheint im Rückblick als Vorbote der Ukrainekrise 2014, über die wir im letzten Teil gesprochen haben. Länder wie Polen konnten keinerlei Vertrauen in die Fähigkeiten - und Bereitschaft! - Deutschlands und Frankreichs haben, ihre Sicherheit gegenüber einem zunehmend aggressiveren Russland zu garantieren. Dieses Dilemma bildet noch heute das Fundament der Zerrissenheit der europäischen Sicherheitspolitik.

Gleichzeitig aber würde sich die Anbindung an die USA für einige der EU-Länder noch als Problem herausstellen, denn die USA würden sich zwar bereit zeigen, ihre Sicherheit gegenüber Russland durch substanzielle Engagements zu garantieren (etwa den hochumstrittenen Raketenabwehrschirm, den die Bush-Regierung in Polen einzurichten gedachte). Sie waren aber ganz und gar nicht bereit dazu, diesen Ländern in einem Konflikt mit Deutschland beizuspringen. Dies sollte sich, wie wir sehen werden, für diese noch fatal auswirken.

Doch vorerst musste die EU sich von dem Desaster der gescheiterten Verfassung erholen. Statt die Einheit mit größeren Schritten voranzubringen, entschied man sich für eine deutlich weniger ambitionierte Version, die das Wort "Verfassung" vermied und dafür ohne Volksabstimmungen durch die nationalen Parlamente ratifiziert werden konnte. Der resultierende Lissabonner Vertrag war denn auch genau das, ein Kompromiss und um Ambitionen und größere Entwicklungen stark gekürzter Rumpfvertrag. Seine Verabschiedung drohte dennoch zu scheitern, weil eine Volksabstimmung in Irland ihn ablehnte; ein weiteres Referendum kurz darauf fand bereits unter der massiven Drohung statt, Irland angesichts seiner schwerwiegenden Probleme in der Finanzkrise im Regen stehen zu lassen. Wie Griechenland in einer vergleichbaren Situation fast ein Jahrzehnt später beugte man sich den Realitäten. Der Vertrag wurde angenommen.

Lissabon war das erste große europapolitische Projekt der Regierung Merkel. Der Verfassungsvertrag stammte noch aus einer vorherigen Epoche, wurde unter Schröders Kanzlerschaft mitverhandelt. Die schwierige Konsensfindung für Lissabon fiel in die deutsche Ratspräsidentschaft 2007 und beanspruchte alle europapolitische Energie der neuen Administration. Das hatte schwere Folgen, denn 2007 begann einerseits auch die internationale Finanzkrise, für die entsprechend weniger Aufmerksamkeit zur Verfügung stand, doch andererseits fiel die Fertigstellung 2009 gerade in den Beginn des eigentlich europäischen Teils der Finanzkrise. Just in dem Moment, als nach einer Dekade nervenzerfetzender Verhandlungen endlich ein neues Vertragswerk stand, das die nächsten ein, zwei oder gar drei Dekaden Bestand haben sollte und man sich dem schwierigen Alltagsgeschäft hinwenden wollte, war alles Makulatur, und die EU erforderte neue, tiefgreifende Reformen, über die sich niemand einigen konnte. Es war der perfekte Sturm.

Als die Finanzkrise 2008/2009 auf Deutschland durchschlug, war die regierende Koalition Segen und Fluch für das Land zugleich. Segen, weil es keine schwarz-gelbe Koalition unter Merkel und Westerwelle war, wie sie das "richtige" Ergebnis von 2005 gewesen wäre. Diese hätte mit Sicherheit Flurschäden angerichtet. Fluch, weil das deutsche Handeln in der Finanzkrise nicht nur den Regierungs- und Entscheidungsstil von Angela Merkel in all seinen Schwächen offenlegte, sondern auch den der SPD, die wie im Stockholm-Syndrom die furchtbarsten Instinkte Merkels verstärkten. Letztlich zeigt die deutsche Reaktion in der Finanzkrise dieselben Dynamiken wie die deutsche Reaktion auf die Covid-Krise, nur dass seinerzeit andere den Preis bezahlen mussten.

Was ist damit gemeint? Die Doppelspitze von Merkel und Steinbrück erklärte von Beginn der Krise an quasi hauptamtlich, dass es sich um eine amerikanische Krise handelte, die mit Europa nichts zu tun hatte. Allenfalls war man das unschuldige Opfer, das durch windige amerikanische Geschäftspraktiken in den Strudel gezogen wurde, aber selbst dieses Szenario galt wegen der angeblichen europäischen Tugenden - die, wie sich bald zeigte, deutsche Tugenden sein sollten, die man hier noch gegen den Nationalismusvorwurf europäisch verbrämte, eine bewährte deutsche Kommunikationsstrategie - als unwahrscheinlich. Wir haben in Teil 2 gesehen, wie falsch diese Ansicht war. Das Finanzsystem war ein atlantisches Finanzsystem, in dem schon das Konzept von "amerikanisch" oder "europäisch" albern war.

Entsprechend musste eine Antwort auf die Krise auch gesamtatlantisch erfolgen. Während in der Downing Street und Pennsylvania Avenue längst erkannt worden war, was sich da zusammenbraute, und die Fed zusammen mit der britischen Notenbank fieberhaft an Lösungen arbeitete, schlief man in Berlin den Schlaf des Gerechten und wies erst die Angebote, dann die flehenden Bitten der Angelsachsen um eine koordinierte Antwort hochmütig ab. Um fair zu bleiben kann man das nicht nur Merkel und Steinbrück anlasten; die EZB selbst war von der gleichen Betriebsblindheit geschlagen und unfähig, über ihren ideologischen Tellerrand hinauszublicken.

Als die Krise dann 2009 tatsächlich, wenngleich mit Verspätung, auf Deutschland und Europa überschlug, war es zu spät. Irland, dessen neoliberales Wirtschaftswunder der vergangenen Jahre sich nun als Albtraum entpuppte, war de facto bankrott. Mit der Weigerung der Eurogruppe zu irgendeiner Zusammenarbeit hatte die irische Regierung ihrerseits dazu auch wenig Veranlassung gesehen und in einem geradezu atemberaubenden Hasardeursspiel die Schulden der irischen Banken garantierten, die zu diesem Zeitpunkt praktisch das irische Nationaleinkommen überstiegen. Anders ausgedrückt: Irland war bankrott, es war nur noch nicht offiziell.

Nun könnte man Irland als Land der grünen Hügel und Bauernhöfe abtun, nur hatte es sich im 21. Jahrhundert in eine gewaltige Steueroase verwandelt. Im liberalen Konsens war diese Entwicklung viel beklatscht und bewundert worden und hatte zu großen Wachstumsgewinnen geführt, zumindest auf dem Papier. Jetzt floh das scheue Reh des Kapitals, und es zeigte sich, dass von Bankenbilanzen noch niemand satt geworden ist. Die irischen Banken waren überschuldet und das Land praktisch unfähig, sie im Alleingang zu retten. Too big to fail mochte ein Schlagwort der Finanzkrise sein, aber für Irland galt es ganz emphatisch nicht.

Es war nur ein Symptom, ein Vorbeben dessen, was kommen sollte. In Spanien war der Boom der vergangenen Jahre des liberalen Konsens' hauptsächlich durch die Immobilienbranche verursacht worden. Dieser Boom entpuppte sich nun als Blase; zig Hotels standen effektiv leer, die Naturverwüstung der Strände war auch wirtschaftlich verheerend gewesen.

Noch wesentlich ärger aber wirkte sich die Finanzkrise auf Osteuropa aus, wo der Aufschwung seit 1990 auf zwei Faktoren beruhte: einer radikalen Reformpolitik im Sinne des liberalen Konsens', der den betroffenen Staaten viel Lob der Ökonomenzunft und einschlägigen Meinungsmachenden wie dem Economist oder dem Davos-Jetset eingebracht hatte, und Investitions- und Kreditlinien in die Wallstreet und City of London. Beide trockneten innerhalb von Tagen praktisch völlig aus.

Wie der Rest des atlantischen Finanzsystems waren all diese Staaten auf Devisen angewiesen. Denn der große Boom der Ära des liberalen Konsens war, wie jeder Boom, mit Krediten finanziert worden. Nur beliefen sich diese Kredite nicht auf Zloty oder Forint, sondern Dollar, Euro, Pfund und Schweizer Franken. Auch die Euro-Länder brauchten aufgrund der in Teil 2 beschriebenen Dynamiken ständigen Nachschub an Pfund und Dollar, nur um das System am Laufen zu halten - geschweige denn, neue Investitionen zu tätigen.

Nun bekam eine ganze Reihe starker Volkswirtschaften durch die "Swap Lines" direkten Zugang zur Fed und konnte sich mit Dollar versorgen, und auch die britische Notenbank finanzierte bereitwillig die jeweiligen nationalen Notenbanken. Allein, die "Swap Lines" liefen nicht über die EZB; sie liefen über die nationalen Notenbanken jener ausgewählten Volkswirtschaften, die an ihnen teilhaben durften, und die die Dollarkredite direkt an ihre jeweiligen nationalen Großbanken weiterreichten. Dazu gehörte natürlich Deutschland. Dazu gehörten emphatisch weder Polen noch Ungarn.

An dieser Stelle war die EU handlungsunfähig. Die deutsche Krisenpolitik war eine, deren Schema allzuschnell vertraut sein sollte: sie wollte die betroffenen Volkswirtschaften zur Anpassung zwingen. Für die deutsche Politik wie für die deutsche Ökonomik - und die von ihr stark beeinflusste EZB unter ihrem damaligen Vorsitzenden Trichet - war die Ursache für die Probleme nicht die Finanzkrise per se, sondern strukturelle Unwuchten, sprich: Teile der Wirtschaft waren nicht wettbewerbsfähig. Die deutsche Krisenpolitik verfolgte einen langfristigen Ansatz struktureller Reformen, ein Ansatz, der immer wieder durch die Notwendigkeiten einer extrem kurzfristigen Krise konterkariert wurde, in seinem Kern aber stets erhalten blieb. Damit setzte sie auf ein völlig anderes Konzept als Großbritannien und die USA, die die Finanzkrise als exakt das sahen: eine Krise, der schnell und mit maximalem Einsatz begegnet werden musste, damit man zum Status Quo zurückkehren konnte. Diese Politik verfolgten London und Washington, und sie taten es mit Erfolg. Demgegenüber versuchte Berlin die Krise als Chance zu begreifen, einige ungeliebte Elemente der Konstruktion der EU nach den eigenen Vorstellungen zu verändern.

Mit dieser Absicht waren die Deutschen keineswegs allein; auch Frankreich hoffte, die Krise nutzen zu können, um die EU umzugestalten, und selbst die Briten sprangen - wenngleich, wie wir noch sehen werden, erst sehr spät - auf diesen Veränderungszug auf. Insgesamt gab es vier große Richtungen, in die die EU gezerrt wurde:

1) Die USA, die vor allem eine neue Welle von Bankenpleiten verhindern wollten, die dann wiederum auf sie selbst überschwappen würde. Diese Angst war, wie wir gesehen haben, wegen der engen Verflechtung der transatlantischen Finanzsysteme sehr real. Eine Implosion des europäischen Bankensystems würde auch die mit viel Mühe geretteten amerikanischen Banken (die zu der Zeit gerade unter dem "Stresstest-"Regime krisensicher gemacht werden sollten) sofort mit sich in den Abgrund reißen. Es waren keine Reserven mehr verfügbar, um eine solche weitere schwere Krisenwelle aufzufangen, und, für die Obama-Regierung noch entscheidender, das politische Kapital war aufgebracht. Zwischen Tea Party und Occupy Wallstreet gab es in den USA keine Aussicht, irgendwelche weiteren Mittel für Bankenrettungen zu mobilisieren (die TARP-Fonds waren praktisch ausgeschöpft). Käme eine weitere Bankenkrise, würde die US-Regierung ihnen nicht mehr helfen können. Es war daher blankes, kurzfristiges Selbstinteresse der USA, für eine schnelle wirtschaftliche Erholung in Europa und eine Rettung des europäischen Bankensystems zu sorgen.

2) Frankreich, das sich seit jeher eine engere Verzahnung der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik wünschte. Das französische Interesse lag - und liegt - klar darin, die Europäische Union in einen eigenständigen und unabhängigen Wirtschaftsraum zu verwandeln. Gerade die starke Verflechtung mit dem angelsächsichen Finanzsystem war den traditionell eher nationalistisch denkenderen Franzosen ein Dorn im Auge, die die EU von Beginn an auch als Gegengewicht zu den USA konzipiert hatten, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Die Krise bot für Paris die Chance, Integrationsschritte auf diesem Weg voranzubringen.

3) Deutschland, das einen starken Exportfokus verfolgte und diesen auf die gesamte EU zu übertragen gedachte. Die deutsche Analyse war, dass die Kostensenkungen durch die Steuerreformen, Deregulierungen und Agenda-Reformen (die zu sinkenden Reallöhnen, einem großen Niedriglohnsektor und wachsenden Unternehmensgewinnen geführt hatten) zu einer Gesundung der Wirtschaft beigetragen hatten. In dieser Lesart gab es weltweit eine große Nachfrage an europäischen Produkten, die leicht durch eine europaweite Reduzierung des Preisniveaus zu stimulieren war und für ganz Europa den Ausweg aus der Krise bot. Die deutsche Austeritätsvision war daher nicht so sehr eine des Wettbewerbs der EU-Staaten untereinander - obwohl das natürlich auch eine Rolle spielte - sondern eher der EU als gemeinsamem Exportblock in den Rest der Welt. Um das zu erreichen, sollte der Einfluss der Staaten auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik so weit wie möglich zurückgestutzt werden. Der liberale Konsens erlebte hier einen letzten Höhepunkt, mit dem wir uns gleich noch detaillierter beschäftigen werden.

4) Die weniger entwickelten EU-Staaten, die vorrangig an der Süd- und Ostflanke der EU positioniert waren, sahen sich der Krise schutzlos ausgeliefert. Ihre Bankensysteme hatten keine Chance, die Wucht einer weltweiten Finanzkrise aus eigener Kraft abzufangen. Exemplarisch konnte man dies an Irland beobachten, aber dieselbe Krise stand auch den anderen Staaten ins Haus. Ihr Interesse war auf ein Offenhalten der Kapitalflüsse gerichtet, also auf irgendeine Form von gemeinsamer finanzpolitischer Abwehr der Krise. Dies setzte eine aktivere Rolle der EZB voraus, die in die Lage versetzt werden musste, ähnlich der Fed oder der Bank of England als "lender of last ressort" zu dienen und so das Schreckgespenst eines Staatsbankrotts zu bannen.

Es ist offenkundig, dass diese divergierenden Interessen kaum unter einen Hut zu bringen waren. Zu Beginn der europäischen Krise - Griechenland spielte immer noch keine Rolle - arbeiteten Sarkozy und Merkel Hand in Hand. Die Interessen beider Länder überlappten sich dergestalt, dass die beiden Staats- und Regierungschefs als "Merkozy" bezeichnet wurden. Der Grund für diese Gemeinsamkeit ist trotz der scheinbaren Unvereinbarkeit der strategischen Visionen leicht ersichtlich. Frankreich war, aller antiamerikanischen Rhetorik zum Trotz, tief in die Bankenkrise verwickelt. Seine Großbanken hatten faule Kredite in gigantischer Höhe in ihren Bilanzen liegen. Gleichzeitig versuchte die deutsche Politik mit aller Kraft zu vermeiden, dass eine finanzpolitische Intervention wie in den USA durchgeführt werden würde, die man als ersten Schritt in die unbedingt zu vermeidende Finanzunion der EU sah. Die Gemeinsamkeit beider Staaten lag darin, dass sie eine gesamteuropäische Antwort suchten, und nur eine europäische, ohne Beteiligung der USA und am besten auch ohne Beteiligung Großbritanniens.

Donnerstag, 6. Mai 2021

Die verdrängte Dekade, Teil 3: Rückkehr der Realpolitik

 

Im Jahr 2004 befand sich nicht nur das amerikanische Selbstbewusstsein und das der Finanzindustrie auf einem absoluten Höhepunkt. Auch im außenpolitischen Bereich schien es, als ob der Liberalismus unaufhaltsam auf dem Vormarsch wäre. Die herrschende Ansicht war, dass das System von Institutionen und Rechtsordnungen, das vor allem in der WTO, der GATT, TRIPS, der Weltbank und dem IWF etc. niedergelegt war, die ganze Welt zu einer Adoption dieses liberalen Konsens im wirtschaftlichen Bereich zwingen würde, und dass einer wirtschaftlichen Liberalisierung unweigerlich auch die gesellschaftliche Liberalisierung folgen würde.