Sucht man nach den Kriegsursachen von 1939, stößt man bei Netzrecherchen fast unweigerlich über einen Vortrag von Generalmajor a.D. Gerd Schulze Rohnhof über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs bei Faket News, der mittlerweile rund 62.000 Aufrufe hat. In diesem Video redet der Generalmajor rund eine Stunde lang auf Grundlage seines Buchs (Rezension der FAZ) über die Geschichte, die die deutschen Geschichtsbücher über den Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht erzählen. Und diese Geschichte findet sich in den Geschichtsbüchern tatsächlich nicht. Die Frage ist daher: zu Recht?
Dienstag, 28. August 2018
Mittwoch, 8. August 2018
Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 6: Die Zwickmühle
Dies ist der fünfte Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier. Teil 4 befindet sich hier. Teil 5 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.
Wie bereits zuvor unter den New Dealern ging die Sozialdemokratie nach dem Tod des Dritten Wegs auch am eigenen Erfolg zugrunde. Alle ihre politischen Siege - Minderheitenrechte, Umwelt- und Klimaschutz, Arbeitsmarktreform, etc. - gingen in den Mainstream über und wurden von ihren konservativen Rivalen übernommen, so wie die Sozialdemokraten ab 1992 den rechten Konsens übernommen hatten - und die Rechten ab 1952 den sozialdemokratischen. Nirgendwo ist das deutlicher zu sehen als in Deutschland, wo Angela Merkel 2005 den Fehler beging, diese Erfolge offen anzugreifen und dafür beinahe die sicher geglaubte Kanzlerschaft verlor. Das würde ihr nie wieder passieren. Stattdessen überließ sie diese Aufgabe bei der nächsten Gelegenheit 2009 dem Unglücksraben Westerwelle, der auch prompt über zwei Drittel seiner Wählerschaft verlor. Merkel hingegen warf die Rolle als toughe Reformerin ab, entmachtete politisch unbequeme Weggefährten wie Friedrich Merz und legte sich jene Aura der mütterlichen Zuverlässigkeit zu, die sie seither noch über jede Wahl gebracht hat. Wechselnd inszenierte sie sich als Wegbereiterin eines größeren Sozialstaats (Elterngeld), Klimakanzlerin (lang, lang ist's her), Hüterin Europas (lang, lang ist's her) und Flüchtlingsretterin (auch nicht mehr en vogue).
Wie bereits zuvor unter den New Dealern ging die Sozialdemokratie nach dem Tod des Dritten Wegs auch am eigenen Erfolg zugrunde. Alle ihre politischen Siege - Minderheitenrechte, Umwelt- und Klimaschutz, Arbeitsmarktreform, etc. - gingen in den Mainstream über und wurden von ihren konservativen Rivalen übernommen, so wie die Sozialdemokraten ab 1992 den rechten Konsens übernommen hatten - und die Rechten ab 1952 den sozialdemokratischen. Nirgendwo ist das deutlicher zu sehen als in Deutschland, wo Angela Merkel 2005 den Fehler beging, diese Erfolge offen anzugreifen und dafür beinahe die sicher geglaubte Kanzlerschaft verlor. Das würde ihr nie wieder passieren. Stattdessen überließ sie diese Aufgabe bei der nächsten Gelegenheit 2009 dem Unglücksraben Westerwelle, der auch prompt über zwei Drittel seiner Wählerschaft verlor. Merkel hingegen warf die Rolle als toughe Reformerin ab, entmachtete politisch unbequeme Weggefährten wie Friedrich Merz und legte sich jene Aura der mütterlichen Zuverlässigkeit zu, die sie seither noch über jede Wahl gebracht hat. Wechselnd inszenierte sie sich als Wegbereiterin eines größeren Sozialstaats (Elterngeld), Klimakanzlerin (lang, lang ist's her), Hüterin Europas (lang, lang ist's her) und Flüchtlingsretterin (auch nicht mehr en vogue).
Donnerstag, 2. August 2018
Buchbesprechung: Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik
Kürzlich beendete ich die Lektüre des neu erschienenen "Die Totengräber: Der letzte Winter der Weimarer Republik" von Rüdiger Barth und Hauke Friederichs. Das Buch beschreibt die Ereignisse von der Regierungsübernahme Kurt von Schleichers im November 1932 bis zur "Machtergreifung" Hitlers am 30. Januar 1933. Um diese Periode zu veranschaulichen, bedient sich das Werk der für historische Betrachtungen eher ungewöhnlichen Darstellung, die Ereignisse chronologisch und Tag für Tag aus der Sicht der jeweilig handelnden Personen aufzuzeigen. Jeder Tag der Kanzlerschaft Kurt von Schleichers, der so etwas wie der Hauptcharakter dieser Schilderung ist, ergibt so ein Kapitel, und jedes dieser Kapitel wird von zwei Schlagzeilen eingeleitet, die in einer der großen Zeitungen dieser Epoche tonangebend waren, meistens die Vossische Allgemeine, der Völkische Beobachter, der Vorwärts und die Rote Fahne (Abonnenten des Zeitungszeugen-Projekts dürften zumindest einige dieser Organe durchaus bekannt sein). Das so entstehende Produkt liest sich komplett anders als praktisch jede andere Historiographie zur Epoche. Ob der Ansatz gewinnbringend ist, soll die folgende Rezension zeigen.
Sonntag, 29. Juli 2018
Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 5: Der Dritte Weg
Dies ist der fünfte Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier. Teil 4 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.
Mittwoch, 25. Juli 2018
Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 4: Backlash
Dies ist der vierte Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.
Während der Wirkungszeit des New Deal hatte sich das Einkommen der Unterschicht, zu der die Arbeiter früher gehört hatten, mehr als verdreifacht. Die Einkommen der Angestellten der Mittelschicht waren ebenfalls zwischen 50% und 100% gestiegen. Aber der New Deal fußte auf der Funktionsweise des Kollektivs. Die weiße, männliche Arbeiter- und Angestelltenschicht war ihr zentraler Träger, ihr Profiteur. Die Regeln des New Deal waren für sie gemacht worden. Der Wagner-Act mit seiner Stärkung der Gewerkschaften stärkte eine kollektive Institution, die Rechte zugesprochen bekam, die sie vorher nicht besessen hatte. Der Housing Act gab einer bestimmten Klasse Zugang zu billigen Wohnungen oder Krediten, um Wohneigentum zu erwerben. Die GI Bill betraf (weiße, männliche) Kriegsveteranen.
Während der Wirkungszeit des New Deal hatte sich das Einkommen der Unterschicht, zu der die Arbeiter früher gehört hatten, mehr als verdreifacht. Die Einkommen der Angestellten der Mittelschicht waren ebenfalls zwischen 50% und 100% gestiegen. Aber der New Deal fußte auf der Funktionsweise des Kollektivs. Die weiße, männliche Arbeiter- und Angestelltenschicht war ihr zentraler Träger, ihr Profiteur. Die Regeln des New Deal waren für sie gemacht worden. Der Wagner-Act mit seiner Stärkung der Gewerkschaften stärkte eine kollektive Institution, die Rechte zugesprochen bekam, die sie vorher nicht besessen hatte. Der Housing Act gab einer bestimmten Klasse Zugang zu billigen Wohnungen oder Krediten, um Wohneigentum zu erwerben. Die GI Bill betraf (weiße, männliche) Kriegsveteranen.
Dienstag, 17. Juli 2018
Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 3: Das Goldene Zeitalter
Dies ist der zweite Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.
Der New Deal war um 1937 herum eine Erfolgsgeschichte, aber keine, die das System grundsätzlich aus den Angeln hob. Die Gehälter stiegen langsam wegen der massiven Zunahme der Gewerkschaftsmacht, die Wirtschaft erholte sich - hätte das aber wahrscheinlich auch in einer dritten Amtszeit Hoover getan - und die Arbeitslosenrate sank langsam. Sie betrug 1937, nach drei Jahren des Second New Deal, 14,3% - ein Tief nach dem Hoch von 24,9% im Jahr 1933. Im gleichen Jahr jedoch entstand im Kongress ein neues Bündnis. Die oppositionellen Republicans, denen die Idee der Staatseingreife ohnehin suspekt gewesen war, taten sich mit den konservativen Democrats aus dem Süden zusammen, die durch den Erfolg der aufstrebenden New Dealers verunsichert waren und in weiteren Reformschritten die bisher erfolgreich blockierte Grundrechtsgesetzgebung auf sich zukommen sahen (civil rights), die Schwarzen mehr Rechte und einen Anteil am beginnenden Wirtschaftsaufschwung zusprechen könnte. Diese neue Koalition tat etwas, das uns heute schmerzlich bekannt vorkommt: sie verabschiedeten einen Bundeshaushalt, der starke Einschnitte vorsah - vor allem bei den gerade erst angelaufenen New-Deal-Programmen. Wenig überraschend sprang die Arbeitslosenrate daraufhin wieder nach oben: 1938 betrug sie 19%, 1939 sank sie wieder auf 17,2%. Sechs Jahre nach Beginn des New Deal jedoch war diese eine enttäuschende Entwicklung. Die Progressiven im Kongress waren von dem legislativen Wirbelsturm, den sie seit 1934/35 entfacht hatten, erschöpft. Ihr politisches Kapital war aufgebraucht.
Wir müssen uns an dieser Stelle auch noch einmal klar machen, wie entscheidend in diesem Kontext der Zweite Weltkrieg sein wird. Nutzen wir einen sich aufdrängenden Vergleich von Franklin Delano Roosevelt vs. Barrack Hussein Obama - beide waren Progressive, kamen am Höhepunkt einer Wirtschaftskrise an die Macht und versuchten mit einer Super-Mehrheit tiefgreifende Reformen - so befinden wir uns jetzt im Jahr 2014. Das war das Jahr, in dem Obama müde schien, in dem seine Beliebtheitswerte im Keller waren und in dem die Republicans den Senat eroberten - und das, obwohl die US-Wirtschaft seit 2009 konsistente Wachstumsraten verzeichnet hatte und die Arbeitslosenrate bei gerade einmal 7,2% lag! Ich mache diesen Vergleich hier deswegen, weil Obamas Leistungen im linken Lager gerne kleingeredet werden, vor allem gegen das leuchtende Idol Roosevelts und des New Deal. Aber Roosevelt hatte 1939 weniger konkrete Ergebnisse vorzuzeigen als Obama 2014. Woher kam der Umschwung?
Die Antwort nach der geheimen Zutat, die stets gefehlt hatte, gab bereits Oskar Schindler: Krieg.
Im September 1939 entfesselte Deutschland mit einem Überraschungsangriff auf Polen einen Konflikt, der später als "Zweiter Weltkrieg" bekannt werden sollte. Damals war es ein lokaler Konflikt - zwar erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg, was ihre gesamten Kolonialreiche und Dominions mit in den Konflikt einband, aber bis 1941 blieb der Konflikt trotzdem klar europäisch definiert. Zudem vergisst die eurozentrische Perspektive gerne, dass Japan seit 1937 einen Aggressionskrieg gegen China führte, der die USA wesentlich mehr beschäftigte als das beginnende Nazi-Imperium. Was der Kriegsbeginn in Europa allerdings leistete war ein sprunghafter Anstieg des Bedarfs nach amerikanischen Waren, und damit ein fast zwangsläufiges Ende des protektionistischen Experiments. Zwar versuchten die Isolationisten im Kongress, die mehrheitlich, aber bei weitem nicht ausschließlich in der GOP organisiert waren, eine Anbindung der USA an die Geschickte der Weltpolitik und des internationalen Warenhandels so gut als möglich zu verhindern, was ihnen besonders auf dem Gebiet der Waffenexporte bedauerlich lange gelang. Aber Roosevelt erwies sich als wesentlich findiger im Umgehen der legislativen Hürden, die seine Gegner im Kongress ihm aufbauten, als diese es im Errichten derselben waren, und der Druck der Wirtschaft, die gerne gute Geschäfte mit Großbritannien machen wollte, tat ihr Übriges.
Doch auch interne Faktoren nahmen 1939 Druck von der andauernden Wirtschaftskrise: die Dürre, die besonders den Mittleren Westen mehrere Jahre in ihrem Würgegriff gehalten und zehntausende kleiner Farmer arbeits- und wohnungslos gemacht hatte, endete. Genau in dem Moment, in dem der Weltmarkt plötzlich einen vielfachen Bedarf an Agrarprodukten hatte, konnten amerikanische Anbieter - wo die großen Player die Reste der bankrotten Kleinfarmer aufgesogen hatten - nun liefern. Im Jahr 1940, als die Arbeitslosenquote auf 14,6% absackte, wurde angesichts des Zusammenbruchs Frankreichs und der gestiegenen japanischen Aggression die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, und der Staat begann, die Wirtschaft auf Krieg umzustellen. Das war eine Form der Staatsintervention, die keine Kongressmehrheit blockieren wollte. Das Jahr markierte auch sowohl den Höhepunkt als auch den Anfang vom Ende für die Isolationisten. Ihre Bewegungen schrumpften, ihre Abgeordneten verließen den Kongress, bis Pearl Harbor 1941 den Resten der Bewegung den Todesstoß versetzte.
Der am Horizont dräuende Krieg, dem sich Amerika würde auf Dauer nicht verschließen können, hatte daher für den New Deal drei wesentliche Effekte.
Der erste war, dass der Staat in einem nie gekannten Ausmaß ins Wirtschaftsleben einzugreifen begann. Da wir hier von den USA sprechen, waren die Eingriffe immer noch auf die Makro-Ebene beschränkt, überließ man so viel wie möglich dem freien Spiel der Kräfte. Roosevelt rekrutierte den verdienten General-Motors-CEO William Knudsen als Koordinator der Wehrwirtschaft. Dieser überzeugte Roosevelt, die Wirtschaft nicht auf einen Schlag, sondern Stück für Stück auf Kriegswirtschaft umzuschalten. Zuerst würden die USA die Kriegsgegner Deutschlands (ab 1941 auch zunehmend die Sowjetunion) mit allen möglichen Waren AUSSER Waffen beliefern. Stück für Stück würden die Firmen dann neue Kapazitäten aufbauen, PARALLEL zu der bisherigen restlichen Industrie.
Das war deswegen so bedeutend, weil im Gegensatz etwa zu den Nazis, die mit ihrer dirigistischeren und rücksichtsloseren Wirtschaftspolitik kurzfristig gewaltige Produktionssteigerungen zu entfesseln in der Lage waren, die amerikanische Aufrüstung nicht an die Substanz ging. Wo die Nazis ihre eigene Wirtschaft zugrunde richteten und die Franzosen und Briten (die Sowjets und Japaner sowieso) in geringerem Umfang dasselbe taten, beendeten die USA den Krieg mit einer gesunden Wirtschaft, die eine solide Basis für weitergehendere Vollbeschäftigung legte. Europa würde zwei Dekaden brauchen, um dasselbe Ziel zu erreichen.
Das zweite war, dass der plötzliche Bedarf an Arbeitskräften den Arbeitern ein ungeheures Druckmittel an die Hand gab. Die neu entstehenden Rüstungsfirmen wollten die best-qualifizierten Arbeiter, und sie bezahlten entsprechend. Das war für die Arbeiter kurzfristig natürlich gut, aber die hohe Fluktuation bereitete den Unternehmen massive Probleme - und gab dem Argument der Gegner des New Deal, die mächtigen Gewerkschaften zurechtzustutzen und die gerade erst gewonnenen Arbeitnehmerrechte wieder einzudampfen, großzügig Nahrung.
Das dritte war, dass Roosevelt angesichts der außenpolitischen Krise die schon lange gehaderte Frage, ob er für eine dritte Amtszeit antreten solle, mit einem "Ja" beantwortete. Dieser Antritt erlaubte eine wesentlich größere personelle und politische Kontinuität für den New Deal als es ein potenzieller anderer demokratischer Nachfolger Roosevelts hätte leisten können, von einem Sieg des republikanischen Herausforderers Wendell Wilkie ganz zu schweigen. Zwar hatte Roosevelt die Innenpolitik mehr oder weniger abgegeben - er konzentrierte sich überwiegend auf die Außenpolitik - aber seine Leute machten weiter.
Als die Japaner die USA dann mit ihrem Angriff auf Pearl Harbor in den Krieg zwangen, war das Land strukturell zwar immer noch nicht bereit - Roosevelt hätte gerne noch zwei oder drei Jahre als "arsenal of democracy" die kriegführenden Mächte unterstützt, ohne selbst Kriegspartei zu werden - aber die Grundlagen waren solide genug. 1942 verdreifachte der Kongress die Militärausgaben; die Arbeitslosigkeit war, unter anderem wegen dem Wehrdienst vieler junger Männer, auf 4,2% abgesunken und erreichte 1943 die Marke von 1,9%. Wer nicht im Krieg war, arbeitete - und arbeitete hart. In der offiziellen Erinnerung konzentriert sich alles auf die Soldaten, die Omaha Beach erstürmten, aber in der US-Kriegsindustrie starben zwischen 1941 und 1945 mehr Arbeiter an Unfällen als auf den Schlachtfeldern Europas.
Die US-Wirtschaft erreichte aus ihrer Talsohle in den 1930er Jahren heraus ein ungekanntes Niveau. Nicht nur führten die USA einen totalen Krieg auf zwei völlig verschiedenen Kriegsschauplätzen mit einem ungeheuren materiellen Niveau (den Leistungen der amerikanischen Logistiker kann man gar nicht genug Anerkennung zollen), der Lebensstandard der Zivilisten sank auch nicht drastisch ab und zudem versorgten die USA auch noch drei Verbündete und, ab 1943, die besetzten Länder Europas mit Nahrung, Gütern und Waffen. Die völlige Erschöpfung der europäischen Alliierten, die umfassenden Zerstörungen und die schlichte Tatsache, dass ein Teil Europas feindliches Gebiet war, das besetzt und versorgt werden musste, garantierten eine weitere Abhängigkeit Europas von den USA in einem Ausmaß, das Zeitgenossen von 1919 mehr als befremdlich vorkommen muss.
Nichts desto trotz war es das Gespenst von 1919, das den Progressiven die meisten Kopfzerbrechen bereitete. Damals war die Nation aus dem siegreich beendeten Krieg direkt in eine fürchterliche Depression gerutscht, als die demobilisierten Veteranen keine Arbeit fandne und die schlechte Wirtschaftslage in Europa keinen guten Absatzmarkt für US-Güter bot. Beide Faktoren mussten unbedingt verhindert werden, damit auf den Sieg in Europa und im Pazifik nicht der große Katzenjammer folgte. Hierfür verabschiedeten die New Dealers zwei zentrale Gesetzeswerke.
Das eine war das bekannte europäische Aufbauprogramm, das unter den Namen "Marshall-Plan" legendär werden würde. Mindestens ebenso bedeutend wie die propagandistisch überhöhten Direkthilfen war jedoch, dass die USA de facto darauf verzichteten, dass ihre Alliierten die Kredite aus dem Krieg in irgendeiner substanziellen Form zurückzahlten. Das war bereits seit 1941 klar gewesen, wurde nun aber konkrete amerikanische Politik. Kaum etwas hatte den Kreislauf von Reparationen, Inflation und schließlich deflationärer Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren so sehr angeheizt wie die harte amerikanische Politik, die auf Rückzahlung aller Kriegskredite bestand.
Das andere war für die USA und das beginnende sozialdemokratische Zeitalter die entscheidende Wegmarke: die GI Bill. Dieses Gesetzeswerk, für das noch einmal die ganze Größe der alten New-Deal-Koalition mobilisiert wurde, erlaubte es den zurückkehrenden GIs, sich kostenlos an Colleges, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen fortzubilden. Hunderttausende von Kindern aus der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse erhielten zum ersten Mal Zugang zu höherer Bildung. Zudem subventionierte der Staat in gewaltigem Ausmaß den Erwerb von Eigenheimen, was die Grundlage für den Aufstieg der Vororte ("Suburbia") mit ihren gleichförmigen, großzügigen Einfamilienhäusern war. Mit einem Schlag definierten sich die USA als Mittelschichtsgesellschaft neu.
Doch wie bereits in anderen New-Deal-Programmen wurde die Zustimmung der konservativen Südstaatler mit einer Exklusion der Schwarzen von den Segnungen dieses Programms ausgeschlossen, ebenso Frauen und viele andere Minderheiten. Der neue amerikanische Sozialstaat war ein Sozialstaat für verheiratete weiße Männer, und wer in dieses Ideal nicht passte, konnte am neuen Wohlstand nicht teilhaben.
Zudem führte, wie so häufig, Zufriedenheit über das Erreichte zu Nachlässigkeit. Die Gewerkschaften, ohnehin angeschlagen vom "Verrat" "ihres" Präsidenten, der ihre Rechte im Krieg beschnitten hatte, erlitten 1947 einen weiteren, schweren Schlag. Der Anführer der oppositionellen Republicans, Howard Taft, verabschiedete mit Erfolg (und erneut den Stimmen der konservativen Democrats des Südens) den Taft-Hartley-Act, der die Rechte der Gewerkschaften empfindlich beschnitt und ihnen einige ihrer mächtigsten Werkzeuge wie das Streiken für politische Zwecke, das Verhandeln für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder und das Verpflichtend-Machen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft ("closed shop") nahm. Eine große Rolle spielte hier der rasant zunehmende Anti-Kommunismus, mit dem der New Deal mehr und mehr als "un-amerikanisch" diffamiert wurde. Die anhaltende Vollbeschäftigung und hohen Löhne sorgten jedoch dafür, dass der Aufschrei überraschend gering ausfiel.
Zwar war die demokratische Mehrheit auf dem Papier immer noch so mächtig wie die Jahre zuvor. Doch die offene Feindschaft der konservativen Südstaaten-Democrats sorgte dafür, dass Trumans Spielraum in Wahrheit wesentlich kleiner war. Der Präsident forcierte das Thema: 1949 forderte er einen Fair Deal als Nachfolger zum New Deal. Der Fair Deal enthielt nicht nur weitere arbeitnehmerfreundliche Regeln, sondern, entscheidend, auch eine Bürgerrechtsplanke: ein Verbot von Lynching, eine Eingrenzung von Jim Crow und Zugang der Schwarzen zum Sozialstaat. Der Fair Deal wurde zu einer Pleite. Er führte nicht nur zur Spaltung der Partei - zahlreiche Rassisten verließen die Partei und formierten sich um Strom Thurmond in einer neuen Partei, ehe sie über die nächsten Jahrzehnte langsam in der republikanischen Partei aufgehen und diese bis 1968 in ihrem Wesenskern transformieren würden - sondern auch zur Wahlniederlage der Democrats 1952. Zum ersten Mal seit 20 Jahren zog ein Republican ins Weiße Haus ein.
Wir haben Dwight D. Eisenhowers Haltung zum New Deal bereits untersucht. Er war kein Fan, aber er machte sich auch nicht daran, das Projekt auseinanderzunehmen. Stattdessen waren die 1950er Jahre eine Phase konservativer Konsolidierung des New Deal, der das Programm für alle Seiten akzeptabel machte und die beiden Parteien so nahe zueinander brachte wie nie zuvor oder danach in ihrer Geschichte. Entscheidend hierfür war, dass alle Beteiligten die gleiche Mentalität besaßen: Es war ein Glaube daran, dass eine progressive Regierung (progressiv hier im Sinne von "auf die Zukunft ausgerichtet") in der Lage war, diese Zukunft zu planen und aktiv zu gestalten. Es war ein allgemeiner, technokratischer Machbarkeitsglaube, der all diesen Männern (und es waren alles Männer) zu eigen war.
In Europa vollzog sich zu dieser Zeit eine ähnliche Entwicklung. In der neugegründeten deutschen Bundesrepublik setzten sich die USA-orientierten Marktwirtschaftler wie Eucken und Erhardt durch, die versuchten, den konservativen Sozialstaat Bismarcks mit der freiheitlichen Marktwirtschaft der USA zu verbinden. Das Ergebnis war der Sozialstaat. Wie in den USA auch umfasste er einen großen Teil der deutschen Bürger, aber nicht alle: ein Fakt, das sich für die Bundesrepublik noch zu einem ernsten Problem ausweiten würde. Von seinen Segnungen ausgenommen waren sowohl Kinder beziehungsweise deren Eltern ("Kinder kriegen die Leute immer", sagte Adenauer berühmt-berüchtigt schnoddrig) als auch Frauen (wie in den USA profitierten sie implizit durch ihre Ehemänner; Singles waren auf sich allein gestellt (man verzeihe das Wortspiel) und, ab den 1960er Jahren, die Gastarbeiter.
Einen etwas anderen Weg ging Großbritannien, wo es stärkere Gewerkschaften und eine sozialistischer ausgerichtete Labour-Party gab, die den Ton angaben. Die Briten verließen sich mehr auf staatlich gesteuerte Wirtschaftselemente und einen vergleichsweise großzügigen Sozialstaat, doch dieses Projekt war die gesamten 1950er und 1960er Jahre hindurch dadurch behindert, dass die Briten mehr schlecht als recht ihr Kolonialreich abzuwickeln und dabei eine Weltmacht zu bleiben versuchten. Erst, als sie diese Aspirationen in den 1960er Jahren aufgaben (und damit auch die völlig überzogenen Militärbudgets) und alle Verantwortung an die USA abgaben, begann auch in Großbritannien derselbe sozialdemokratische Aufstieg, der in den USA, Frankreich und Deutschland passiert war.
Frankreich seinerseits hatte mit Großbritannien das Problem der außenpolitischen Abenteuer und des Versuchs, sich an den Kolonien festzukrallen, gemeinsam. Es hatte allerdings den entscheidenden Vorteil, zu seinen Bedingungen eine ökonomische Partnerschaft mit Deutschland eingehen zu können: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Keimzelle der späteren EU.
Alle europäische Länder, allen voran die BRD, profitierten jedoch maßgeblich von den neuen außenpolitischen Verwicklungen der USA, vor allem dem Koreakrieg, der die USA zwang, entweder ihre Rolle als Supermacht aufzugeben oder effektiv den Kriegshaushalt des Zweiten Weltkriegs auch im Frieden beizubehalten. Bekanntlich entschieden sie sich für zweiteres, was eine Öffnung ihres Binnenmarktes erzwang und den europäischen Ländern die Chance eröffnete, das Wirtschaftswunder der USA aus dem Krieg - die Versorgung anderweitig gebundener Volkswirtschaften - zu wiederholen.
Es sollte an dieser Stelle offenkundig geworden sein, dass er Erfolg des New Deal und sein Export nach Europa keine zwangsläufige Entwicklung, sondern eine Folge vieler Glücksfälle waren (so sehr man beim Zweiten Weltkrieg eben von einem Glücksfall sprechen kann). Stattdessen waren die ersten Maßnahmen weitgehend verpufft, und auch der Second New Deal war 1937 zwar mit durchschlagenden Reformen am Start, sah sich jedoch einer Reihe von Gegnern gegenüber, die drauf und dran waren, ihn zu sabotieren.
Was den New Deal rettete - und überhaupt erst zu einem durchschlagenden Erfolg statt einer langsamen, aber stetigen Erholung der Wirtschaft im Muster der Obama-Jahre machte - war eine massive Intervention des Staates, die die Bedinungen für die Arbeiter schuf, an einem selbst erzeugten Nachfrageboom teilzuhaben, und ein Weltmarkt, der genau zu diesem Zeitpunkt Bedarf für die so geschaffenen Kapazitäten und Waren aufwies. Dieser Glücksfall für das sozialdemokratische Projekt trat nicht nur einmal für die USA 1939-1945 auf, sondern auch noch einmal für Europa, beginnend ab 1950.
Die Folgen waren dieseits wie jenseits des Atlantiks durchgreifend. Ich habe bereits die Mentalitätsveränderung der Eliten angesprochen, die von Männern mittleren Alters dominiert waren, die über eine technische Ausbildung und eine technokratische Machermentalität verfügten. Sie hatten die vorherigen (im Schnitt älteren) Honoratioren abgelöst. Diese Entwicklung fand ihr Gegenstück in den Vorstandsetagen der großen Unternehmen und in den Gewerkschaften. Dadurch ergaben sich starke Anreize für kollektives Handeln, etwa in Streiks (seitens der Arbeiter) und Tarifverhandlungen. Die so entstehenden korporatistischen Strukturen gaben Zeit ihres Bestehens, gefördert von einem stetigen Wachstum bei annähernder Vollbeschäftigung, beiden Seiten genügend Anreize für Abschlüsse, die für jeden etwas dabei hatten. Ähnlich verfuhr auch der Staat bei seinen Reformwerken, soweit es möglich war: letzten Endes wurden politische Konflikte häufig durch großzügige "Reform"pakete übertüncht, besonders in föderalistischen Staaten wie Deutschland oder den USA, in denen so ineffektive und aufgeblasene Bürokratien entstanden, die in der kommenden Krise problematisch werden würden.
Aber auch in der breiten Gesellschaft ergaben sich dadurch Veränderungen. Wir haben zu Beginn über den Anstieg des Lebensstandards gesprochen. Es war in den 1950er und 1960er Jahren, dass die gesamten Segnungen des technischen Fortschritts in der breiten Bevölkerung ankamen. Kühlschrank, Eisschrank, Telefon, Elektrizität, Heizung, Flugreisen, Discounter, Einkaufszentren, Autos, Motorroller, industriell hergestellte und günstige Kleidung, Möbel, Nahrung und andere Waren des täglichen Bedarfs - hätte man die Steigerung des Lebensstandards zwischen 1870 und 1970 vorherzusagen versucht, es wäre albernste Utopie gewesen. Selbst die größten Sozialisten am Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich den kapitalistischen Lebensstandard im Goldenen Zeitaler der Sozialdemokratie nicht ausmalen.
Dieser Lebensstandard allerdings war uniform. Suburbia war zwar der Wunschtraum der breiten Bevölkerungsmehrheit, aber gleichzeitigt, wie die berühmte Folk-Sängerin Malvina Reynolds sang, "boxes made of ticky-tacky" ("Schachteln aus Kitsch"), die aneinander aufgereiht dastanden, wo Nachbarn eifersüchtig über die Größe der Rosenzäune wachten. Es gab zwar quantitativ viele Waren, mehr als man sich vorher je hatte erträumen lassen, aber eine große Auswahl an solchen gab es nicht. Um 1950 herum existiert eine ungeheure Einheitskultur. Ein oder zwei Radiosender spielten Klassiker und Schlager. Auf dem einen verfügbaren Fernsehkanal liefen Sendungen, die dem männlichen Hausherrn gefielen. Die Mode war dieselbe, ob der Träger 15, 35 oder 65 war. Autos kamen in verschiedenen Farben, aber kaum in verschiedenen Ausprägungen. Urlaubsorte waren voller Pauschal-Hotels und -Vergnügungen. Das Essen war tiefgefroren von einheitlichen Anbietern.
Das ist überzeichnet, gewiss. Aber nicht viel. Das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie war auch ein Zeitalter einer ungeheuren Einförmigkeit des Lebens, die auf nicht wenige Menschen - vor allem die junge Generation - erdrückend wirkte. Das waren Luxusprobleme. Auch früher hatten fast alle Menschen dieselben eingeschränkten Konsumoptionen gehabt, nur waren damals alle gleich arm gewesen. Jetzt war man Mittelschicht. Die Generation, die diese Gewinne zwischen 1933 und 1953 erkämpft hatte - erkämpft im wahrsten Sinne des Wortes - war damit zufrieden. Sie war konservativ und genoss, was sie hatte. Ihre Kinder dagegen sahen das anders.
Wie in allen diesen Entwicklungen stellten die USA einen Leuchtturm dar. Die Entwicklungen begannen dort, aber sie schwappten mit etwas Verspätung über den Atlantik. Das war keine Selbstverständlichkeit. Viele amerikanische Entwicklungen waren vor 1945 in Europa nicht angenommen, teils sogar heftig bekämpft worden. Anti-Amerikanismus war eine Dauererscheinung im politischen Spektrum Europas, hinter dem sich Links und Rechts vereinigen konnten (ich habe das hier beschrieben). Die beginnende amerikanische Konsumkultur etwa war in Kaiserreich wie Weimarer Republik (bei den Nazis sowieso) erbittert bekämpft worden.
Doch ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs ließ die Polarisierung zwischenden beiden Supermächten den Europäern auch gar keine andere Wahl mehr, als die Trends nachzuvollziehen, die von jenseits des Großen Teichs kamen. Großbritannien und Frankreich mussten beide in den 1950er Jahren schmerzlich erkennen, dass ihre Großmachtallüren ein Relikt waren, das sich nicht mehr aufrechterhalten ließ. Die ökonomischen und politischen Bindungen an die USA machten den Versuch, sich gegen den amerikanischen Kulturimperialismus zu stellen, aussichtslos, denn anders als der sowjetische Kulturimperialismus WOLLTE die Bevölkerung der jeweiligen Staaten ihn mehrheitlich. Besonders die Jugend war höchst angetan von der beginnenden Jugendkultur, die aus den USA herüber kam, und selbst der verstockteste Reaktionär wollte die Segnungen der Angebote des Wohlfahrtskapitalismus nicht missen.
Das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie war demzufolge ein Zeitalter der starken Gruppenidentitäten. Die Familie als Kern, darumherum die Belegschaft in der Fabrik, die Kirche, die Partei und die Gewerkschaft prägten das Zugehörigkeitsgefühl. Wer zu diesen Gruppen gehörte, hatte vollen Zugang zu den Segnungen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats. Auf beiden Seiten des Atlantiks waren dies vor allem verheiratete, vollzeiterwerbstätige weiße Männer, die in den 1960er Jahren langsam in den Herbst ihres Lebens gingen. Ihre Kinder wurden erwachsen und hatten kein Gefühl für den ungeheuren Fortschritt, den ihre Lebensleistung erbracht hatte.
Eine neue Generation besuchte die Universitäten und kam mit radikal neuen Ideen in Berührung. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gab es eine Jugendkultur, eine Mischung aus kulturellen und marktwirtschaftlichen Angeboten, die sich explizit an Jugendliche und junge Erwachsene richtete und die ältere Gesellschaft ausschloss. Die traditionelle Familie geriet durch ihre eigenen internen Widersprüche unter Druck. Frauen und ethnische Minderheiten wurden immer frustrierter über ihre anhaltende Exklusion aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Diese gärende Unzufriedenheit kochte in den 1960er Jahren an die Oberfläche - und stürzte die Sozialdemokratie in eine tiefe Krise.
Der New Deal war um 1937 herum eine Erfolgsgeschichte, aber keine, die das System grundsätzlich aus den Angeln hob. Die Gehälter stiegen langsam wegen der massiven Zunahme der Gewerkschaftsmacht, die Wirtschaft erholte sich - hätte das aber wahrscheinlich auch in einer dritten Amtszeit Hoover getan - und die Arbeitslosenrate sank langsam. Sie betrug 1937, nach drei Jahren des Second New Deal, 14,3% - ein Tief nach dem Hoch von 24,9% im Jahr 1933. Im gleichen Jahr jedoch entstand im Kongress ein neues Bündnis. Die oppositionellen Republicans, denen die Idee der Staatseingreife ohnehin suspekt gewesen war, taten sich mit den konservativen Democrats aus dem Süden zusammen, die durch den Erfolg der aufstrebenden New Dealers verunsichert waren und in weiteren Reformschritten die bisher erfolgreich blockierte Grundrechtsgesetzgebung auf sich zukommen sahen (civil rights), die Schwarzen mehr Rechte und einen Anteil am beginnenden Wirtschaftsaufschwung zusprechen könnte. Diese neue Koalition tat etwas, das uns heute schmerzlich bekannt vorkommt: sie verabschiedeten einen Bundeshaushalt, der starke Einschnitte vorsah - vor allem bei den gerade erst angelaufenen New-Deal-Programmen. Wenig überraschend sprang die Arbeitslosenrate daraufhin wieder nach oben: 1938 betrug sie 19%, 1939 sank sie wieder auf 17,2%. Sechs Jahre nach Beginn des New Deal jedoch war diese eine enttäuschende Entwicklung. Die Progressiven im Kongress waren von dem legislativen Wirbelsturm, den sie seit 1934/35 entfacht hatten, erschöpft. Ihr politisches Kapital war aufgebraucht.
Wir müssen uns an dieser Stelle auch noch einmal klar machen, wie entscheidend in diesem Kontext der Zweite Weltkrieg sein wird. Nutzen wir einen sich aufdrängenden Vergleich von Franklin Delano Roosevelt vs. Barrack Hussein Obama - beide waren Progressive, kamen am Höhepunkt einer Wirtschaftskrise an die Macht und versuchten mit einer Super-Mehrheit tiefgreifende Reformen - so befinden wir uns jetzt im Jahr 2014. Das war das Jahr, in dem Obama müde schien, in dem seine Beliebtheitswerte im Keller waren und in dem die Republicans den Senat eroberten - und das, obwohl die US-Wirtschaft seit 2009 konsistente Wachstumsraten verzeichnet hatte und die Arbeitslosenrate bei gerade einmal 7,2% lag! Ich mache diesen Vergleich hier deswegen, weil Obamas Leistungen im linken Lager gerne kleingeredet werden, vor allem gegen das leuchtende Idol Roosevelts und des New Deal. Aber Roosevelt hatte 1939 weniger konkrete Ergebnisse vorzuzeigen als Obama 2014. Woher kam der Umschwung?
Die Antwort nach der geheimen Zutat, die stets gefehlt hatte, gab bereits Oskar Schindler: Krieg.
Im September 1939 entfesselte Deutschland mit einem Überraschungsangriff auf Polen einen Konflikt, der später als "Zweiter Weltkrieg" bekannt werden sollte. Damals war es ein lokaler Konflikt - zwar erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg, was ihre gesamten Kolonialreiche und Dominions mit in den Konflikt einband, aber bis 1941 blieb der Konflikt trotzdem klar europäisch definiert. Zudem vergisst die eurozentrische Perspektive gerne, dass Japan seit 1937 einen Aggressionskrieg gegen China führte, der die USA wesentlich mehr beschäftigte als das beginnende Nazi-Imperium. Was der Kriegsbeginn in Europa allerdings leistete war ein sprunghafter Anstieg des Bedarfs nach amerikanischen Waren, und damit ein fast zwangsläufiges Ende des protektionistischen Experiments. Zwar versuchten die Isolationisten im Kongress, die mehrheitlich, aber bei weitem nicht ausschließlich in der GOP organisiert waren, eine Anbindung der USA an die Geschickte der Weltpolitik und des internationalen Warenhandels so gut als möglich zu verhindern, was ihnen besonders auf dem Gebiet der Waffenexporte bedauerlich lange gelang. Aber Roosevelt erwies sich als wesentlich findiger im Umgehen der legislativen Hürden, die seine Gegner im Kongress ihm aufbauten, als diese es im Errichten derselben waren, und der Druck der Wirtschaft, die gerne gute Geschäfte mit Großbritannien machen wollte, tat ihr Übriges.
Doch auch interne Faktoren nahmen 1939 Druck von der andauernden Wirtschaftskrise: die Dürre, die besonders den Mittleren Westen mehrere Jahre in ihrem Würgegriff gehalten und zehntausende kleiner Farmer arbeits- und wohnungslos gemacht hatte, endete. Genau in dem Moment, in dem der Weltmarkt plötzlich einen vielfachen Bedarf an Agrarprodukten hatte, konnten amerikanische Anbieter - wo die großen Player die Reste der bankrotten Kleinfarmer aufgesogen hatten - nun liefern. Im Jahr 1940, als die Arbeitslosenquote auf 14,6% absackte, wurde angesichts des Zusammenbruchs Frankreichs und der gestiegenen japanischen Aggression die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, und der Staat begann, die Wirtschaft auf Krieg umzustellen. Das war eine Form der Staatsintervention, die keine Kongressmehrheit blockieren wollte. Das Jahr markierte auch sowohl den Höhepunkt als auch den Anfang vom Ende für die Isolationisten. Ihre Bewegungen schrumpften, ihre Abgeordneten verließen den Kongress, bis Pearl Harbor 1941 den Resten der Bewegung den Todesstoß versetzte.
Der am Horizont dräuende Krieg, dem sich Amerika würde auf Dauer nicht verschließen können, hatte daher für den New Deal drei wesentliche Effekte.
Der erste war, dass der Staat in einem nie gekannten Ausmaß ins Wirtschaftsleben einzugreifen begann. Da wir hier von den USA sprechen, waren die Eingriffe immer noch auf die Makro-Ebene beschränkt, überließ man so viel wie möglich dem freien Spiel der Kräfte. Roosevelt rekrutierte den verdienten General-Motors-CEO William Knudsen als Koordinator der Wehrwirtschaft. Dieser überzeugte Roosevelt, die Wirtschaft nicht auf einen Schlag, sondern Stück für Stück auf Kriegswirtschaft umzuschalten. Zuerst würden die USA die Kriegsgegner Deutschlands (ab 1941 auch zunehmend die Sowjetunion) mit allen möglichen Waren AUSSER Waffen beliefern. Stück für Stück würden die Firmen dann neue Kapazitäten aufbauen, PARALLEL zu der bisherigen restlichen Industrie.
Das war deswegen so bedeutend, weil im Gegensatz etwa zu den Nazis, die mit ihrer dirigistischeren und rücksichtsloseren Wirtschaftspolitik kurzfristig gewaltige Produktionssteigerungen zu entfesseln in der Lage waren, die amerikanische Aufrüstung nicht an die Substanz ging. Wo die Nazis ihre eigene Wirtschaft zugrunde richteten und die Franzosen und Briten (die Sowjets und Japaner sowieso) in geringerem Umfang dasselbe taten, beendeten die USA den Krieg mit einer gesunden Wirtschaft, die eine solide Basis für weitergehendere Vollbeschäftigung legte. Europa würde zwei Dekaden brauchen, um dasselbe Ziel zu erreichen.
Das zweite war, dass der plötzliche Bedarf an Arbeitskräften den Arbeitern ein ungeheures Druckmittel an die Hand gab. Die neu entstehenden Rüstungsfirmen wollten die best-qualifizierten Arbeiter, und sie bezahlten entsprechend. Das war für die Arbeiter kurzfristig natürlich gut, aber die hohe Fluktuation bereitete den Unternehmen massive Probleme - und gab dem Argument der Gegner des New Deal, die mächtigen Gewerkschaften zurechtzustutzen und die gerade erst gewonnenen Arbeitnehmerrechte wieder einzudampfen, großzügig Nahrung.
Das dritte war, dass Roosevelt angesichts der außenpolitischen Krise die schon lange gehaderte Frage, ob er für eine dritte Amtszeit antreten solle, mit einem "Ja" beantwortete. Dieser Antritt erlaubte eine wesentlich größere personelle und politische Kontinuität für den New Deal als es ein potenzieller anderer demokratischer Nachfolger Roosevelts hätte leisten können, von einem Sieg des republikanischen Herausforderers Wendell Wilkie ganz zu schweigen. Zwar hatte Roosevelt die Innenpolitik mehr oder weniger abgegeben - er konzentrierte sich überwiegend auf die Außenpolitik - aber seine Leute machten weiter.
Als die Japaner die USA dann mit ihrem Angriff auf Pearl Harbor in den Krieg zwangen, war das Land strukturell zwar immer noch nicht bereit - Roosevelt hätte gerne noch zwei oder drei Jahre als "arsenal of democracy" die kriegführenden Mächte unterstützt, ohne selbst Kriegspartei zu werden - aber die Grundlagen waren solide genug. 1942 verdreifachte der Kongress die Militärausgaben; die Arbeitslosigkeit war, unter anderem wegen dem Wehrdienst vieler junger Männer, auf 4,2% abgesunken und erreichte 1943 die Marke von 1,9%. Wer nicht im Krieg war, arbeitete - und arbeitete hart. In der offiziellen Erinnerung konzentriert sich alles auf die Soldaten, die Omaha Beach erstürmten, aber in der US-Kriegsindustrie starben zwischen 1941 und 1945 mehr Arbeiter an Unfällen als auf den Schlachtfeldern Europas.
Die US-Wirtschaft erreichte aus ihrer Talsohle in den 1930er Jahren heraus ein ungekanntes Niveau. Nicht nur führten die USA einen totalen Krieg auf zwei völlig verschiedenen Kriegsschauplätzen mit einem ungeheuren materiellen Niveau (den Leistungen der amerikanischen Logistiker kann man gar nicht genug Anerkennung zollen), der Lebensstandard der Zivilisten sank auch nicht drastisch ab und zudem versorgten die USA auch noch drei Verbündete und, ab 1943, die besetzten Länder Europas mit Nahrung, Gütern und Waffen. Die völlige Erschöpfung der europäischen Alliierten, die umfassenden Zerstörungen und die schlichte Tatsache, dass ein Teil Europas feindliches Gebiet war, das besetzt und versorgt werden musste, garantierten eine weitere Abhängigkeit Europas von den USA in einem Ausmaß, das Zeitgenossen von 1919 mehr als befremdlich vorkommen muss.
Nichts desto trotz war es das Gespenst von 1919, das den Progressiven die meisten Kopfzerbrechen bereitete. Damals war die Nation aus dem siegreich beendeten Krieg direkt in eine fürchterliche Depression gerutscht, als die demobilisierten Veteranen keine Arbeit fandne und die schlechte Wirtschaftslage in Europa keinen guten Absatzmarkt für US-Güter bot. Beide Faktoren mussten unbedingt verhindert werden, damit auf den Sieg in Europa und im Pazifik nicht der große Katzenjammer folgte. Hierfür verabschiedeten die New Dealers zwei zentrale Gesetzeswerke.
Das eine war das bekannte europäische Aufbauprogramm, das unter den Namen "Marshall-Plan" legendär werden würde. Mindestens ebenso bedeutend wie die propagandistisch überhöhten Direkthilfen war jedoch, dass die USA de facto darauf verzichteten, dass ihre Alliierten die Kredite aus dem Krieg in irgendeiner substanziellen Form zurückzahlten. Das war bereits seit 1941 klar gewesen, wurde nun aber konkrete amerikanische Politik. Kaum etwas hatte den Kreislauf von Reparationen, Inflation und schließlich deflationärer Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren so sehr angeheizt wie die harte amerikanische Politik, die auf Rückzahlung aller Kriegskredite bestand.
Das andere war für die USA und das beginnende sozialdemokratische Zeitalter die entscheidende Wegmarke: die GI Bill. Dieses Gesetzeswerk, für das noch einmal die ganze Größe der alten New-Deal-Koalition mobilisiert wurde, erlaubte es den zurückkehrenden GIs, sich kostenlos an Colleges, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen fortzubilden. Hunderttausende von Kindern aus der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse erhielten zum ersten Mal Zugang zu höherer Bildung. Zudem subventionierte der Staat in gewaltigem Ausmaß den Erwerb von Eigenheimen, was die Grundlage für den Aufstieg der Vororte ("Suburbia") mit ihren gleichförmigen, großzügigen Einfamilienhäusern war. Mit einem Schlag definierten sich die USA als Mittelschichtsgesellschaft neu.
Doch wie bereits in anderen New-Deal-Programmen wurde die Zustimmung der konservativen Südstaatler mit einer Exklusion der Schwarzen von den Segnungen dieses Programms ausgeschlossen, ebenso Frauen und viele andere Minderheiten. Der neue amerikanische Sozialstaat war ein Sozialstaat für verheiratete weiße Männer, und wer in dieses Ideal nicht passte, konnte am neuen Wohlstand nicht teilhaben.
Zudem führte, wie so häufig, Zufriedenheit über das Erreichte zu Nachlässigkeit. Die Gewerkschaften, ohnehin angeschlagen vom "Verrat" "ihres" Präsidenten, der ihre Rechte im Krieg beschnitten hatte, erlitten 1947 einen weiteren, schweren Schlag. Der Anführer der oppositionellen Republicans, Howard Taft, verabschiedete mit Erfolg (und erneut den Stimmen der konservativen Democrats des Südens) den Taft-Hartley-Act, der die Rechte der Gewerkschaften empfindlich beschnitt und ihnen einige ihrer mächtigsten Werkzeuge wie das Streiken für politische Zwecke, das Verhandeln für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder und das Verpflichtend-Machen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft ("closed shop") nahm. Eine große Rolle spielte hier der rasant zunehmende Anti-Kommunismus, mit dem der New Deal mehr und mehr als "un-amerikanisch" diffamiert wurde. Die anhaltende Vollbeschäftigung und hohen Löhne sorgten jedoch dafür, dass der Aufschrei überraschend gering ausfiel.
Zwar war die demokratische Mehrheit auf dem Papier immer noch so mächtig wie die Jahre zuvor. Doch die offene Feindschaft der konservativen Südstaaten-Democrats sorgte dafür, dass Trumans Spielraum in Wahrheit wesentlich kleiner war. Der Präsident forcierte das Thema: 1949 forderte er einen Fair Deal als Nachfolger zum New Deal. Der Fair Deal enthielt nicht nur weitere arbeitnehmerfreundliche Regeln, sondern, entscheidend, auch eine Bürgerrechtsplanke: ein Verbot von Lynching, eine Eingrenzung von Jim Crow und Zugang der Schwarzen zum Sozialstaat. Der Fair Deal wurde zu einer Pleite. Er führte nicht nur zur Spaltung der Partei - zahlreiche Rassisten verließen die Partei und formierten sich um Strom Thurmond in einer neuen Partei, ehe sie über die nächsten Jahrzehnte langsam in der republikanischen Partei aufgehen und diese bis 1968 in ihrem Wesenskern transformieren würden - sondern auch zur Wahlniederlage der Democrats 1952. Zum ersten Mal seit 20 Jahren zog ein Republican ins Weiße Haus ein.
Wir haben Dwight D. Eisenhowers Haltung zum New Deal bereits untersucht. Er war kein Fan, aber er machte sich auch nicht daran, das Projekt auseinanderzunehmen. Stattdessen waren die 1950er Jahre eine Phase konservativer Konsolidierung des New Deal, der das Programm für alle Seiten akzeptabel machte und die beiden Parteien so nahe zueinander brachte wie nie zuvor oder danach in ihrer Geschichte. Entscheidend hierfür war, dass alle Beteiligten die gleiche Mentalität besaßen: Es war ein Glaube daran, dass eine progressive Regierung (progressiv hier im Sinne von "auf die Zukunft ausgerichtet") in der Lage war, diese Zukunft zu planen und aktiv zu gestalten. Es war ein allgemeiner, technokratischer Machbarkeitsglaube, der all diesen Männern (und es waren alles Männer) zu eigen war.
In Europa vollzog sich zu dieser Zeit eine ähnliche Entwicklung. In der neugegründeten deutschen Bundesrepublik setzten sich die USA-orientierten Marktwirtschaftler wie Eucken und Erhardt durch, die versuchten, den konservativen Sozialstaat Bismarcks mit der freiheitlichen Marktwirtschaft der USA zu verbinden. Das Ergebnis war der Sozialstaat. Wie in den USA auch umfasste er einen großen Teil der deutschen Bürger, aber nicht alle: ein Fakt, das sich für die Bundesrepublik noch zu einem ernsten Problem ausweiten würde. Von seinen Segnungen ausgenommen waren sowohl Kinder beziehungsweise deren Eltern ("Kinder kriegen die Leute immer", sagte Adenauer berühmt-berüchtigt schnoddrig) als auch Frauen (wie in den USA profitierten sie implizit durch ihre Ehemänner; Singles waren auf sich allein gestellt (man verzeihe das Wortspiel) und, ab den 1960er Jahren, die Gastarbeiter.
Einen etwas anderen Weg ging Großbritannien, wo es stärkere Gewerkschaften und eine sozialistischer ausgerichtete Labour-Party gab, die den Ton angaben. Die Briten verließen sich mehr auf staatlich gesteuerte Wirtschaftselemente und einen vergleichsweise großzügigen Sozialstaat, doch dieses Projekt war die gesamten 1950er und 1960er Jahre hindurch dadurch behindert, dass die Briten mehr schlecht als recht ihr Kolonialreich abzuwickeln und dabei eine Weltmacht zu bleiben versuchten. Erst, als sie diese Aspirationen in den 1960er Jahren aufgaben (und damit auch die völlig überzogenen Militärbudgets) und alle Verantwortung an die USA abgaben, begann auch in Großbritannien derselbe sozialdemokratische Aufstieg, der in den USA, Frankreich und Deutschland passiert war.
Frankreich seinerseits hatte mit Großbritannien das Problem der außenpolitischen Abenteuer und des Versuchs, sich an den Kolonien festzukrallen, gemeinsam. Es hatte allerdings den entscheidenden Vorteil, zu seinen Bedingungen eine ökonomische Partnerschaft mit Deutschland eingehen zu können: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Keimzelle der späteren EU.
Alle europäische Länder, allen voran die BRD, profitierten jedoch maßgeblich von den neuen außenpolitischen Verwicklungen der USA, vor allem dem Koreakrieg, der die USA zwang, entweder ihre Rolle als Supermacht aufzugeben oder effektiv den Kriegshaushalt des Zweiten Weltkriegs auch im Frieden beizubehalten. Bekanntlich entschieden sie sich für zweiteres, was eine Öffnung ihres Binnenmarktes erzwang und den europäischen Ländern die Chance eröffnete, das Wirtschaftswunder der USA aus dem Krieg - die Versorgung anderweitig gebundener Volkswirtschaften - zu wiederholen.
Es sollte an dieser Stelle offenkundig geworden sein, dass er Erfolg des New Deal und sein Export nach Europa keine zwangsläufige Entwicklung, sondern eine Folge vieler Glücksfälle waren (so sehr man beim Zweiten Weltkrieg eben von einem Glücksfall sprechen kann). Stattdessen waren die ersten Maßnahmen weitgehend verpufft, und auch der Second New Deal war 1937 zwar mit durchschlagenden Reformen am Start, sah sich jedoch einer Reihe von Gegnern gegenüber, die drauf und dran waren, ihn zu sabotieren.
Was den New Deal rettete - und überhaupt erst zu einem durchschlagenden Erfolg statt einer langsamen, aber stetigen Erholung der Wirtschaft im Muster der Obama-Jahre machte - war eine massive Intervention des Staates, die die Bedinungen für die Arbeiter schuf, an einem selbst erzeugten Nachfrageboom teilzuhaben, und ein Weltmarkt, der genau zu diesem Zeitpunkt Bedarf für die so geschaffenen Kapazitäten und Waren aufwies. Dieser Glücksfall für das sozialdemokratische Projekt trat nicht nur einmal für die USA 1939-1945 auf, sondern auch noch einmal für Europa, beginnend ab 1950.
Die Folgen waren dieseits wie jenseits des Atlantiks durchgreifend. Ich habe bereits die Mentalitätsveränderung der Eliten angesprochen, die von Männern mittleren Alters dominiert waren, die über eine technische Ausbildung und eine technokratische Machermentalität verfügten. Sie hatten die vorherigen (im Schnitt älteren) Honoratioren abgelöst. Diese Entwicklung fand ihr Gegenstück in den Vorstandsetagen der großen Unternehmen und in den Gewerkschaften. Dadurch ergaben sich starke Anreize für kollektives Handeln, etwa in Streiks (seitens der Arbeiter) und Tarifverhandlungen. Die so entstehenden korporatistischen Strukturen gaben Zeit ihres Bestehens, gefördert von einem stetigen Wachstum bei annähernder Vollbeschäftigung, beiden Seiten genügend Anreize für Abschlüsse, die für jeden etwas dabei hatten. Ähnlich verfuhr auch der Staat bei seinen Reformwerken, soweit es möglich war: letzten Endes wurden politische Konflikte häufig durch großzügige "Reform"pakete übertüncht, besonders in föderalistischen Staaten wie Deutschland oder den USA, in denen so ineffektive und aufgeblasene Bürokratien entstanden, die in der kommenden Krise problematisch werden würden.
Aber auch in der breiten Gesellschaft ergaben sich dadurch Veränderungen. Wir haben zu Beginn über den Anstieg des Lebensstandards gesprochen. Es war in den 1950er und 1960er Jahren, dass die gesamten Segnungen des technischen Fortschritts in der breiten Bevölkerung ankamen. Kühlschrank, Eisschrank, Telefon, Elektrizität, Heizung, Flugreisen, Discounter, Einkaufszentren, Autos, Motorroller, industriell hergestellte und günstige Kleidung, Möbel, Nahrung und andere Waren des täglichen Bedarfs - hätte man die Steigerung des Lebensstandards zwischen 1870 und 1970 vorherzusagen versucht, es wäre albernste Utopie gewesen. Selbst die größten Sozialisten am Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich den kapitalistischen Lebensstandard im Goldenen Zeitaler der Sozialdemokratie nicht ausmalen.
Dieser Lebensstandard allerdings war uniform. Suburbia war zwar der Wunschtraum der breiten Bevölkerungsmehrheit, aber gleichzeitigt, wie die berühmte Folk-Sängerin Malvina Reynolds sang, "boxes made of ticky-tacky" ("Schachteln aus Kitsch"), die aneinander aufgereiht dastanden, wo Nachbarn eifersüchtig über die Größe der Rosenzäune wachten. Es gab zwar quantitativ viele Waren, mehr als man sich vorher je hatte erträumen lassen, aber eine große Auswahl an solchen gab es nicht. Um 1950 herum existiert eine ungeheure Einheitskultur. Ein oder zwei Radiosender spielten Klassiker und Schlager. Auf dem einen verfügbaren Fernsehkanal liefen Sendungen, die dem männlichen Hausherrn gefielen. Die Mode war dieselbe, ob der Träger 15, 35 oder 65 war. Autos kamen in verschiedenen Farben, aber kaum in verschiedenen Ausprägungen. Urlaubsorte waren voller Pauschal-Hotels und -Vergnügungen. Das Essen war tiefgefroren von einheitlichen Anbietern.
Das ist überzeichnet, gewiss. Aber nicht viel. Das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie war auch ein Zeitalter einer ungeheuren Einförmigkeit des Lebens, die auf nicht wenige Menschen - vor allem die junge Generation - erdrückend wirkte. Das waren Luxusprobleme. Auch früher hatten fast alle Menschen dieselben eingeschränkten Konsumoptionen gehabt, nur waren damals alle gleich arm gewesen. Jetzt war man Mittelschicht. Die Generation, die diese Gewinne zwischen 1933 und 1953 erkämpft hatte - erkämpft im wahrsten Sinne des Wortes - war damit zufrieden. Sie war konservativ und genoss, was sie hatte. Ihre Kinder dagegen sahen das anders.
Wie in allen diesen Entwicklungen stellten die USA einen Leuchtturm dar. Die Entwicklungen begannen dort, aber sie schwappten mit etwas Verspätung über den Atlantik. Das war keine Selbstverständlichkeit. Viele amerikanische Entwicklungen waren vor 1945 in Europa nicht angenommen, teils sogar heftig bekämpft worden. Anti-Amerikanismus war eine Dauererscheinung im politischen Spektrum Europas, hinter dem sich Links und Rechts vereinigen konnten (ich habe das hier beschrieben). Die beginnende amerikanische Konsumkultur etwa war in Kaiserreich wie Weimarer Republik (bei den Nazis sowieso) erbittert bekämpft worden.
Doch ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs ließ die Polarisierung zwischenden beiden Supermächten den Europäern auch gar keine andere Wahl mehr, als die Trends nachzuvollziehen, die von jenseits des Großen Teichs kamen. Großbritannien und Frankreich mussten beide in den 1950er Jahren schmerzlich erkennen, dass ihre Großmachtallüren ein Relikt waren, das sich nicht mehr aufrechterhalten ließ. Die ökonomischen und politischen Bindungen an die USA machten den Versuch, sich gegen den amerikanischen Kulturimperialismus zu stellen, aussichtslos, denn anders als der sowjetische Kulturimperialismus WOLLTE die Bevölkerung der jeweiligen Staaten ihn mehrheitlich. Besonders die Jugend war höchst angetan von der beginnenden Jugendkultur, die aus den USA herüber kam, und selbst der verstockteste Reaktionär wollte die Segnungen der Angebote des Wohlfahrtskapitalismus nicht missen.
Das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie war demzufolge ein Zeitalter der starken Gruppenidentitäten. Die Familie als Kern, darumherum die Belegschaft in der Fabrik, die Kirche, die Partei und die Gewerkschaft prägten das Zugehörigkeitsgefühl. Wer zu diesen Gruppen gehörte, hatte vollen Zugang zu den Segnungen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats. Auf beiden Seiten des Atlantiks waren dies vor allem verheiratete, vollzeiterwerbstätige weiße Männer, die in den 1960er Jahren langsam in den Herbst ihres Lebens gingen. Ihre Kinder wurden erwachsen und hatten kein Gefühl für den ungeheuren Fortschritt, den ihre Lebensleistung erbracht hatte.
Eine neue Generation besuchte die Universitäten und kam mit radikal neuen Ideen in Berührung. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gab es eine Jugendkultur, eine Mischung aus kulturellen und marktwirtschaftlichen Angeboten, die sich explizit an Jugendliche und junge Erwachsene richtete und die ältere Gesellschaft ausschloss. Die traditionelle Familie geriet durch ihre eigenen internen Widersprüche unter Druck. Frauen und ethnische Minderheiten wurden immer frustrierter über ihre anhaltende Exklusion aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Diese gärende Unzufriedenheit kochte in den 1960er Jahren an die Oberfläche - und stürzte die Sozialdemokratie in eine tiefe Krise.
Samstag, 14. Juli 2018
Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 2: Aus der Krise
Dies ist der zweite Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.
Das Jahr 1933 war eine Wasserscheide für Amerika wie Europa. In beiden Ländern bricht die bisher bestehende politische Ordnung unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und den inadäquaten Antworten, die die traditionellen Eliten geben, zusammen. In Deutschland brachte das Chaos der Krise eine Reihe rechtsradikaler Präsidialkanzler an die Macht, in deren Windschatten sich das Land in atemberaubender Geschwindigkeit radikalisierte. 1932 fand das katholisch-bürgerliche Zentrum, das 13 Jahre zuvor die Republik mitbegründet hatte, wenig daran, offen ihre Abschaffung und Ersetzung durch eine Diktatur zu fordern. Ein Jahr später würde sein Vorsitzender, Prälat Kaas, die entscheidenden Stimmen seiner Fraktion zur Annahme des Ermächtigungsgesetzes beisteuern.
In allen Ländern Europas und Amerikas wurde die Wirtschaftskrise in den folgenden Jahren überwunden, mal schneller, mal langsamer, mal mit einem klaren Kurs für eine Erholung, gar Wachstum, in viel mehr Fällen jedoch auf dem nun niedrigeren Niveau stagnierend. Hitlers Ansatz war radikal: Eine Reihe von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schuf eine zwar wenig effiziente, aber öffentlichkeitswirksame Fiktion zielgerichteten staatlichen Handelns, während die eigentliche wirtschaftliche Aktivität sich in atemberaubenden Maße vom zivilen auf den Rüstungssektor verlagerte. Der deutsche Lebensstandard 1937 war niedriger als 1929, aber er war stabil. Die Gewerkschaften waren völlig entmachtet, und die Großkonzerne, die sich schnell mit den Nazis gutgestellt hatten, profitierten wenigstens auf dem Papier von der überhitzten Rüstungsindustrie. Finanziert wurde diese auf Pump, indem mit dem komplizierten Konstrukt der Mefo-Wechsel die Aufrüstungskosten externalisiert und verschleiert wurden. Die Instabilität dieses Konstrukts erforderten die Plünderung fremder Staatskassen, erst durch "Anschluss", dann durch Krieg. Die Performance der deutschen Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg zeigt denn auch überdeutlich, wie wenig nachhaltig und belastbar die Wirtschaftspolitik der Nazis war - auch wenn sie scheinbare Ähnlichkeiten zu einer keynesianischen Investitionspolitik aufweist, halten diese einer genaueren Betrachtung nicht stand. Wer an einer detaillierteren Sicht auf die Nazi-Kriegswirtschaft interessiert ist, dem empfehle ich meine Texte auf dem Geschichtsblog zum Thema (hier und hier) und Adam Toozes bahnbrechendes Werk "Die Ökonomie der Zerstörung".
Ein englisches Sprichwort fordert, niemals eine gute Krise zu verschwenden ("never let a good crisis go to waste"). Die Weltwirtschaftskrise öffnete ein kurzes Fenster für grundlegende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. In Deutschland ergriffen die Nazis es und nutzten es dazu, eine mörderische Diktatur zu etablieren und die Welt mit Krieg zu überziehen. Für unsere Betrachtung hier relevanter ist der Blick auf die Krisenstrategien der liberalen Demokratien.
Während Frankreich und Großbritannien lange, viel zu lange, an den gescheiterten Strategien der Neoklassiker festhielten (was sich vor allem in ihrem beharrlichen Festhalten am Goldstandard ausdrückte, der ihre Wirtschaften fesselte) und vor allem Frankreich später von innenpolitischen Konflikten (Querfront) und so teuren wie nutzlosen Rüstungsprogrammen (Maginot-Linie) gelähmt wurden, zog in den USA 1933 ein Präsident ins Weiße Haus ein, der so gar nicht dazu angetan schien, als Champion der unteren Klassen aufzutreten. Franklin Delano Roosevelt entsprang dem, was in den USA als Adelsschicht gelten darf. Seine Familie war wohlhabend, heiratete stets unter sich, gehörte zum Standardinventar der kultivierten Neu-Englischen Oberschicht und bewohnte große manors. Roosevelt selbst jedoch war, auf seine Art, ein Radikaler. Er hatte die Vision, die Macht des Staates zu nutzen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, denn er betrachtete die Weltwirtschaftskrise vorrangig als eine Krise der Zuversicht, also psychologisch, und nicht systemisch.
Das war natürlich Unsinn. Zwar spielte die Psychologie durchaus eine gewaltige Rolle - "We have nothing to fear but fear itself" erwies sich als wirkungsmächtiges Mantra - aber sie konnte kaum die gewaltige Ungleichheit angehen, die die amerikanische Wirtschaft, wie auch die Europas, in ihrem Würgegriff hielt. Roosevelt war zwar ein Radikaler - aber er war kein Revolutionär. Klassenkampf lag ihm fern, und er gedachte, durch eine Reihe von Sofortmaßnahmen (deren Fehlen er Herbert Hoover zurecht vorwarf) den stotternden Motor amerikanischen Wirtschaftswachstums wieder zum Laufen zu bringen. Er nannte diese Maßnahmen den "New Deal", eine Metapher, die aus dem Kartenspiel kommt und eine grundlegende Neuverteilung der Chancen suggeriert. Um diesen New Deal ranken sich Mythen, die mit dem realen Programm wenig zu tun haben. Besonders in linken Kreisen genießen Roosevelt und dieses Programm eine mythologisierte Verehrung, die wenig mit der historischen Realität zu tun hat.
Roosevelt fußte sein Programm auf einige mehr als wackelige Grundüberzeugungen.
Erstens: Die Privatwirtschaft lief unter ihrer Kapazität, weil der internationale Konkurrenzdruck und die hohen Staatsschulden eine dauernde Belastung darstellten.
Zweitens: Wird die Zuversicht der amerikanischen Konsumenten geweckt, wird ein sich selbst tragender Aufschwung entfacht.
Drittens: Das größte Problem vieler Amerikaner ist große Unsicherheit. Es benötigt daher ein staatliches Fürsorgesystem, das eine gewisse Grundsicherung ermöglicht. Diese wird über Steuererhöhungen finanziert und steht nur denen offen, die arbeiten.
Viertens: Die Wirtschaftsführer und Opposition sehen dies ähnlich wie er und werden kooperieren.
Fünftens: Die geplanten Maßnahmen sind allesamt juristisch unbedenklich.
Diese Grundannahmen führten dazu, dass Roosevelt im Wahlkampf 1932 seinen Konkurrenten Herbert Hoover von rechts attackierte: Er warf ihm vor, mit nutzlosen (weil schlecht durchgeführten, nicht weil grundsätzlich sinnlosen) Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Staatsschulden in die Höhe zu treiben und den Europäern gegenüber nicht hart genug aufzutreten, ja, einen Ausverkauf amerikanischer Interessen zu betreiben. Besonders ein Dorn im Auge waren ihm Hoovers Versuch, die USA in die Abrüstungskonferenz von Genf einzubinden (die von den Nazis permanent propagandistisch ausgeschlachtet wurde und das Potenzial hatte, der Militarisierung Deutschlands von Anfang an die Zähne zu ziehen, indem es in ein kollektives Sicherheitssystem eingebunen wurde) und seine Bereitschaft, die liberale Welthandelsordnung aufrecht zu erhalten.
Er forderte daher im Wahlkampf ein Kürzen des Bundeshaushalts, eine radikale Erhöhung der Außenzölle vor allem im Agrarbereich und einen Rückzug der USA aus der europäischen Politik, was eine Preisgabe der alten Kriegspartner Frankreich und Großbritanniens, aber auch der deutschen Transatlantiker, bedeutete. Zudem plädierte er für Steuererhöhungen und für die Schaffung eines grundsätzlichen Sicherheitsnetzes, dessen Natur unklar blieb. Es war, um es kurz zu machen, eine populistische Plattform, voller Inkonsistenzen und besonders im außenpolitischen Bereich bar jeder Sachkenntnis oder Interesses. Es war aber gleichzeitig ein Strauß von Themen, die bei den Wählern populär waren. Roosevelt gewann die Wahl, und bis dahin wäre es eine Geschichte der üblichen schmutzigen Wahlkampfstrategien, aber Roosevelt war von dem Unsinn tatsächlich überzeugt. Sein erster Haushalt 1933 kürzte die ohnehin schmalen Budgets Hoovers für Arbeitsbeschaffung und Ähnliches, die Genfer Abrüstungskonferenz hatte sich bereits im Lauf des Jahres 1932 politisch erledigt und hohe Zölle wurden verabschiedet.
Wie also sollte der New Deal dann funktionieren? Roosevelts Idee war, über das Instrument der frisch geschaffenen "National Recovery Agency" NRA (nicht zu verwechseln mit der heutigen National Rifle Association NRA) sämtliche staatlichen Gelder nur noch an Firmen zu vergeben, die ein bestimmtes Set an Auflagen erfüllten. Diese sollten sich mit dem neugeschaffenen NRA-Symbol des blauen Adlers schmücken dürfen. Die Hoffnung war, dass dieser Druck auf Arbeitsbedingungen und Löhne die Unternehmen dazu bewegen würde, freiwillig dem Reglement zu folgen. Gleichzeitig würde die durch die NRA entstehende Aufbruchstimmung auch Arbeiter und Konsumenten mitnehmen. Zur selben Zeit würden die notleidenden Farmer besonders des Mittleren Westens durch die hohen Zölle vor Konkurrenz geschützt und prosperueren. Es war effektiv ein "Mehr mit Weniger". Und es funktionierte in etwa so gut, wie es klingt.
Die größte Erfolgsgeschichte dieser Zeit war die Tennessee River Valley Authority. Diese neu geschaffene Behörde legte ein gewaltiges Infrastrukturprojekt in einer der wirtschaftlich schwächsten Regionen der USA, dem amerikanischen Süden, auf. Hier wurde ein Staudamm gebaut. Ähnliche Projekte, die Arbeit schaffen und, das war entscheidend, sich weitgehend selbst finanzieren sollten, gab es auch an anderen Orten, fast alle im Süden. Die dazu benötigten Gelder und Infrastruktur hatte bereits die Regierung Hoover zu verplanen begonnen; die konkrete Struktur und Vergabe der Gelder orientierte sich an den innerparteilichen Bedürfnissen der Democratic Party. Und bei diesen lohnt es sich, für einen Moment zu verweilen. Denn sie sind für den Fortgang unserer Geschichte von entscheidender Bedeutung.
Die Partei war damals mit einer breiten Koalition aufgestellt, mit einer Reihe verschiedener Flügel und Machtzentren, die miteinander wenig zu tun hatten und teils in direkter Konkurrenz standen.
Das jüngste Mitglied dieser Koalition waren die Schwarzen außerhalb der Südstaaten. Diese hatten mehrere Jahrzehnte verlässlich die Republicans gewählt, die als als Partei Lincolns historisch für ihre Rechte eingetreten waren. Durch den Ausverkauf ihrer Interessen am Ende der Reconstruction-Ära hatte jedoch ein langsamer Wandel zu den Democrats begonnen, die vor allem durch den Progressiven Theodore Roosevelt (einen entfernten Verwandten FDRs) zu der Partei gebracht wurden. 1933 wählten die Schwarzen erstmals in nennenswerten Größen die Partei.
Ein weiterer Eckstein der Koalition waren die Katholiken, etwa die Iren. Die Republicans waren eine ausgesprochen katholikenfeindliche Partei. Damit lagen sie im Mainstream, denn der Katholizismus wurde in weiten Teilen der protestantisch dominierten Gesellschaft als unamerikanisch empfunden, mit seinen autoritären Strukturen und einem Oberhaupt im europäischen Ausland. Mit Al Smith hatte die die Partei 1928 den ersten katholischen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt (und krachend verloren), aber viele Einwanderer, etwa die Iren, aber auch viele Osteuropäer, waren katholisch und wurden zu soliden Wählerblöcken der Democrats. Wie in Deutschland besaß die christlich-katholische Soziallehre eine gewisse Affinität zu sozialstaatlichen Programmen, die ein Bündnis mit sozialdemokratischen Ideen logisch erschienen ließen.
Eine dritte Säule der Partei war die konservative Landbevölkerung der Südstaaten, besonders die alten konföderierten Eliten. Sie wählten die Partei seit den 1830er Jahren und waren der verlässlichste Wählerblock. Strukturell waren sie in einer Art Honoratiorensystem organisiert: "Ehrbare Mitglieder der Gesellschaft", also sozial hochstehende und wohlhabende Männer, machten die Nominierungsprozesse überwiegend unter sich aus und nutzten die arkanen Mechanismen der caucuses und anderer obskurer politischer Rituale, um sich abzusichern. Sie profitierten massiv davon, dass große Teile der Bevölkerung de facto kein Wahlrecht besaßen (allen voran die Schwarzen, aber auch viele andere Gruppen) und schoben sich im Kongress gegenseitig staatliche Unterstützungsgelder für ihre Distrikte zu, um ihre Anhänger bei Laune zu halten.
Der vierte Block waren die Progressiven. Ihre Hochzeit war in den 1900er und 1910er Jahren gewesen, als ihre politische Heimat bei den Republicans war. Sie hatten gegen die Macht der Großkonzerne opponiert und mehr Rechte für amerikanische Arbeiter gefordert, doch bei den Präsidentschaftswahlen 1912 hatte der im parteiinternen Machtkampf unterlegene Theodore Roosevelt seine Anhänger in die unabhängige "Bull Moose Party" geführt, was direkt zum Sieg des rassistischen Südstaatlers Woodrow Wilson führte - und die Democrats zum ersten Mal seit 1861 wieder an die Macht brachte. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen die Republicans mit ihrer 1912 entwickelten, arbeitgebeberfreundlichen Plattform das Weiße Haus und dominierten es mit Harding, Coolidge und Hoover bis in die Weltwirtschaftskrise. In diesen Jahren wanderten große Teile dieser Progressiven ins Lager der Democrats.
Entsprechend disparate Hoffnungen wurden auf den neuen Präsidenten projiziert. Die Schwarzen erhofften sich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Gleichberechtigung. Die Einwanderer hofften ebenfalls auf Arbeitsplätze, ein Wohnungsbauprogramm und bessere Arbeitsbedingungen. Die konservativen Eliten des Südens wollten Bundesmittel in ihre Bezirke bringen, um den Süden wirtschaftlich zu stärken, und lehnten ansonsten Staatseingriffe rigoros ab. Die Progressiven dagegen hofften auf eine Stärkung der Gewerkschaften, einen robusten Sozialstaat und eine wirtschaftliche Interventionspolitik. Vereint wurden sie 1933 in ihrer Ansicht, dass die Krise kurzfristige, drastische Maßnahmen erforderte.
Annahme Nummer vier, dass die Opposition das ähnlich sehen würde, stimmte auch vorerst. Gerade die Arbeitsbeschaffungsprogramme wurden auch von den Republicans unterstützt, blieben jedoch in ihrem Umfang extrem begrenzt. Die Arbeiter wurden sehr schlecht bezahlt, damit der Privatwirtschaft keine Konkurrenz gemacht wurde, und alle Projekte sollten so wenig Kosten wie möglich verursachen. Die Konservativen in der Partei strukturierten sie zudem besonders im Süden so, dass nur weiße Arbeiter davon profitierten.
Herzstück des New Deal aber war die NRA. Die Arbeitsweise dieser Institution zeigt deutlich die Strategie, mit der die New Dealer um Roosevelt vorzugehen hofften. Anstatt mit Gesetzen die systemische Grundlage des Wirtschaftssystems anzugehen, etablierten sie einen losen Handlungskatalog - von Mindestlöhnen über Höchstarbeitszeiten zu anderen Standards - dem Unternehmen folgen sollten. Die Unternehmen, die sich freiwillig auf diese Linie verpflichteten, durften mit dem Symbol des blauen Adlers werben. Um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen, rief die Regierung mehr oder weniger offen zum Boykott von Firmen auf, die nicht mitmachten, und vergab Staatsaufträge nur an NRA-Firmen. Das Konstrukt funktionierte nie so, wie sich Roosevelt das erhofft hatte, und wurde 1935 vom Supreme Court für verfassungswidrig erklärt. Damit war das Herzstück des New Deal verloren.
Die Geschichte könnte damit zu Ende sein. Die ersten zwei Jahre der ersten Amtszeit Roosevelts waren vorüber. Viel Potenzial war verschwendet worden. Präsidenten bekommen selten eine Chance für so umfassende Reformen wie Roosevelt diese 1933 genoss, und wenn sie das Zeitfenster verpassen, kommt üblicherweise kein zweites. Präsidenten ist dies bewusst. Es ist kein Zufall, dass Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, Bill Clinton und Barrack Obama ihre großen Reformprogramme (Civil Rights Act/War on Poverty, Steuerreform, allgemeine Krankenversicherung, noch einmal allgemeine Krankenversicherung) alle in den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit unternahmen. Als der Wahlkampf für die Midterms 1934 alle Reformbestrebungen zu einem quietschenden Stopp brachte war das Ergebnis des New Deal sehr durchwachsen.
Zwar nehmen die hohen Zölle etwas Druck von den Landwirten, wie das intendiert war. Das half ihnen angesichts der Umweltkatastrophe der Dust Bowl, die ihre Höhfe zerstörte und eine gewaltige inneramerikanische Migrationswelle nach Westen erzwang, nicht allzu viel.
Ebenso hatten sie vermutlich leichte positive Auswirkungen auf die US-Industrie, deren Außenhandel zur damaligen Zeit vernachlässigbar war (ganz anders als heute, wo die Warenströme alle in hohem Maß internationalisiert sind). Das zurückrufen sämtlichen im Ausland gebundenen Kapitals brachte ebenfalls kurzfristig Geld ins Land. Der negative Effekt war eine Schwächung ebendieses Auslands, vor allem Frankreichs und Englands, die schwerwiegende Langzeiteffekte haben würde. Einerseits reagierten beide mit eigenen Zöllen und machten so eine Erholung des Welthandels vor 1941 unmöglich, was auch negative Auswirkungen für die Langzeitaussichten des US-Wachstums hatte. Und auf der anderen Seite schwächte es die liberale Welt gegenüber dem Aufstieg des Faschismus.
Die NRA selbst war ein Fehlschlag. Als die Organisation 1934 verboten wurde, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst und wäre vermutlich vom Kongress auch nicht mehr erneuert worden (sie hatte eine zweijährige Laufzeit). Mangels koordinierter Handlungen seitens der Bundespolitik hatten einige progressive Bundesstaaten wie New York versucht, eigene Wege zu gehen und Mindestlöhne und Mindest-Arbeitsbedingungen gesetzlich vorzuschreiben; diese Maßnahmen waren vom Supreme Court ebenfalls verboten worden. Das Herzstück einer möglichen sozialdemokratischen Reformagenda war damit praktisch völlig entkernt.
Eine Erfolgsgeschichte waren die Infrastrukturprojekte vom Tennessee-River-Valley-Staudamm bis zum New Yorker Flughafen La Guardia. Nur hatten sie ebenfalls keine systemischen Auswirkungen, denn deren Fehlen war ja gerade die Intention gewesen. Das Arbeitsbeschaffungsprogramm war nicht verstetigt, die Bezahlung und Arbeitsbedingungen bewusst schlecht, so dass sie auch keine Leuchtturmfunktion haben konnten. Damit eigneten auch sie sich nicht zur nachhaltigen Veränderung des eigentlichen Systems, das sich als so großes Problem erwiesen hatte.
Immerhin war die US-Wirtschaft wieder auf einem sehr langsamen Wachstumskurs. Die Talsohle war erreicht. Rund ein Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung war arbeitslos gewesen. Diese Zahl ging langsam, aber sicher zurück. Um 1939 herum würde aber immer noch ein Fünftel der US-Bevölkerung betroffen sein. Inwieweit diese generelle, langsame Erholung der US-Wirtschaft dem New Deal zuzuschreiben ist, bleibt dabei unklar. Geholfen hat er sicherlich, aber die Kritiker, die behaupten, dass dassselbe unter Hoover auch passiert wäre, ohne das Chaos der inkohärenten New-Deal-Maßnahmen, sind sicherlich nicht einfach abschmetterbar.
Bekanntlich aber endet die Geschichte hier nicht. Denn von allen Seiten, inklusive Roosevelt, etwas unerwartet gewannen die Democrats die Kongresswahlen 1934 durchschlagend. Und diese Wahlen veränderten alles.
Auf der einen Seite war da Roosevelt selbst. Zunehmend unzufrieden mit der Entwicklung seines New Deal und dem Widerstand der Konservativen in der eigenen Partei, der Opposition und vor allem in der Wirtschaft wurde er immer offener gegenüber progressiven Lösungen und immer schärfer im Ton. Seine beinahe schon klassenkämpferischen Allüren (als gewiefter Politiker gelang Roosevelt ein Seiltanz der Rhetorik, der ihn nie ganz ins eine oder andere Lager fallen ließ) passten zur Stimmung der Zeit. Denn die Unzufriedenheit mit dem bisherigen Verlauf des New Deal war besonders im Norden der USA groß, wo nun eine Reihe vorheriger republikanischer Amtsinhaber und konservativer Democrats ihre Sitze an eine neue Generation von progressiven Abgeordneten verlor. Das innerparteiliche Machtgleichgewicht veränderte sich dramatisch zugunsten der Progressiven. Anstatt - wie etwa im Falle Bill Clintons oder Barrack Obamas - die Tür für weitere Reformen zuzuschlagen, rissen die Midterms 1934 sie weit auf. Roosevelt und der New Deal erhielten eine zweite Chance.
Angesichts ihrer Erfahrungen 1933-1934 war klar, dass es große Maßnahmen brauchte, wenn sich etwas ändern sollte. Der Second New Deal brauchte etwas wie die NRA, nur funktionsfähig. Die unerwartete Natur des Siegs bei den Midterms und das unklare Machtgleichgewicht innerhalb der Democrats, die zwar eine deutliche Mehrheit der Sitze besaßen, aber keine innerparteilich einheitliche Linie fuhren, ließ die New Dealers ein wenig wie den Kaiser ohne Kleider dastehen. Die Berater rund um Roosevelt hatten viele Konzepte, und ein britischer Ökonom namens John Maynard Keynes bestürmte den Präsidenten bereits seit dessen Vorwahlkampf 1932, mit deficit spending die malade US-Wirtschaft anzukurbeln. Doch so weit ging Roosevelts Radikalismus nicht: die Staatsschulden durften nicht wesentlich steigen (sie blieben in der New-Deal-Reformära bei rund 3%, eine ungewöhnlich niedrige Zahl angesichts der Programmatik, die selbst Theo Waigels seal of approval bekommen hätte).
Wir müssen uns an dieser Stelle klar machen, dass die Präsidentschaft - und die Bundesverwaltung - damals noch nicht die herausragende Stellung im amerikanischen Verfassungsgefüge hatten, die sie heute genießen. Diese war ein Produkt des Zweiten Weltkriegs, wie wir bald sehen werden. Die wahre Macht lag immer noch im Kongress, wo die Old-Boys-Netzwerke gerade der konservativen Südstaaten-Democrats die Macht hatten. Roosevelts Versuche, Kompetenzen für die Bundesregierung zu beanspruchen, wurden denn auch zuverlässig vom Supreme Court niedergeschmettert, zu dem wir gleich noch mehr erfahren werden. Auch Versuche der Bundesstaaten, den Föderalismus für Experimente zu nutzen, wurden hier zunichte gemacht, was ungeheure Frustration seitens der Progressiven mit sich brachte und selbst bei den oppositionellen Republicans auf Kritik stieß.
Aber genau diese unklaren Verhältnisse, die die Schaffung eines konzertierten Plans bislang verhindert hatten, erlaubten es gut vernetzten und motivierten Abgeordneten, ihre eigenen Projekte zu starten. Die Person, die den Grundstein für das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie in den USA legte, war denn auch nicht Roosevelt, sondern der Senator Robert F. Wagner. Wagner war 1927 das erste Mal in den Senat eingezogen und zusammen mit Henry Stegall (der die berühmte Bankenregulierung verantwortete, die unter Bill Clinton unverantwortlicherweise niedergerissen und unter Obama wenigstens teilweise wieder errichtet wurde) einer der führenden Autoren der Gesetzgebung des Second New Deal. Er war ein wonk, ein Experte auf seinem Gebiet, und lebte für die Chance, tiefgreifende Reformen einzuführen. Als einer der wenigen hatte er für die Eventualität eines Sieges bei den Midterms 1934 geplant. Und so konnte er in das entstandene politische Vakuum, in dem die Progressiven zwar plötzlich viel Macht, aber kein klares Programm hatten, seinen eigenen Entwurf einbringen: den National Labor Relations Act.
Kaum ein Gesetzesvorhaben war so entscheidend wie dieses. Das kurz als Wagner-Act bekannte Werk ist in seinem Umfang mit Obamacare vergleichbar: umfassend, tiefgreifend und hoch komplex. Wagner nutzte eine parlamentarische Dynamik, die so alt ist wie die amerikanische Republik selbst: Er machte seine Ideen zur Diskussionsgrundlage. Der verabschiedete National Labor Relations Act war natürlich nicht identisch mit seinem Entwurf, aber nahe genug dran. Was erreichte dieses Gesetzeswerk?
Die Zielsetzung des Wagner-Act lohnt sich zitiert zu weren: "encouraging the practice and procedure of collective bargaining and by protecting the exercise by workers of full freedom of association, self-organization, and designation of representatives of their own choosing, for the purpose of negotiating the terms and conditions of their employment or other mutual aid or protection" ("die Praxis und Abläufe der Tarifverhandlungen zu fördern und die Arbeiter dabei zu beschützen ihre vollen Freiheiten des Zusammenschlusses, der Organisierung in Körperschaften und der Bestellung von Vertretern die sie selbst gewählt haben um die Bedingungen und Verhältnisse ihres Arbeitsverhältnisses zu verhandeln oder sich gegenseitig zu schützen und zu helfen") Kurz gesagt: Der Wagner-Act legalisierte Gewerkschaften und versprach ihnen die Hilfe des Staates bei der Durchsetzung ihrer Rechte.
Die Verabschiedung des Wagner-Acts 1935 führte zu einer Explosion der Gewerkschaftsmitgliedschaften. Millionen von Arbeitern traten den Gewerkschaften bei, die urplötzlich über riesige Mittel verfügten und die legale Handhabe besaßen, Tarifverhandlungen für die Arbeiter zu führen und Arbeitskämpfe als Durchsetzungsmittel zu verwenden. Unter dem Schlagwort "Boys, the president wants you to join a union" (Jungs, der Präsident will dass ihr einer Gewerkschaft beitretet") erreichten die Gewerkschaften bis 1937 monumentale Gewinne, wie sie nie zuvor (und nie danach) im amerikanischen Wirtschaftsleben möglich waren.
Wagner war außerdem federführend an zwei weiteren Gesetzeswerken beteiligt: dem Social Security Act von 1935, der den amerikanischen Sozialstaat mit einem staatlichen Renten- und Arbeitslosenversicherungssystems begründete, und dem Housing Act von 1937, der es der Bundesregierung ermöglichte, Sozialwohnungen für Arme zu bauen.
Natürlich war Wagner nicht allein. Auch andere Progressive und die Roosevelt-Administration selbst ergriffen die Gelegenheit, die sich ihnen bot, mit beiden Händen. Praktisch alle Programme, die klassischerweise unter "New Deal" gefasst werden, stammen aus der Periode 1935 bis 1937. Im Wahlkampf 1936 gewann Roosevelt überzeugend eine weitere Amtszeit, und noch mehr Progressive gelangten in den Kongress. Sowohl die Bundesregierung als auch die Legislative konnten nun ihre Vorhaben durchsetzen.
Dazu brauchte es jedoch die Stimmen der konservativen Südstaaten-Democrats. Trotz aller Gewinne der Progressiven konnten diese im Verbund mit den Republicans - Parteilinien überschreitendes Abstimmungsverhalten dieser Art war bis weit in die 1980er Jahre hinein die Norm und kam erst mit Newt Gingrichs "Revolution" von 1994 bei den Republicans aus der Mode - den New Deal blockieren. Die Abgeordneten des Tiefen Südens hatten ein grundlegendes Problem mit dem New Deal. Das war die Stärkung der Bundesgewalt, die sich historisch immer für die Gleichberechtigung der Schwarzen eingesetzt hatte, gegen die die konservativen Democrats seit jeher eine verlässliche Bastion waren.
Um eine Mehrheit für seine Reformpolitik zu gewinnen, schloss Roosevelt daher einen Faustischen Pakt mit dieser Fraktion. Die Südstaatler würden die Reformpolitik mittragen und sie nicht blockieren (viele der Gesetze betrafen ohnehin nur den industrialisierten Norden und nicht den weitgehend agrarisch geprägten, rückständigen Süden). Auf der anderen Seite würde die Gesetzgebung so konstruiert werden, dass sie Schwarze weitgehend ausschloss. Die NAACP bezeichnete etwa den Social Security Act als "sieve with holes just big enough for the majority of Negroes to fall through" ("wie ein Sieb mit Löchern gerade groß genug, damit die Mehrheit der Schwarzen hindurch fiel"). Die Segnungen des New Deal schlossen damit rund ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung aus, überwiegend in den ohnehin armen und unterentwickelten Südstaaten.
Dieser Pakt mit dem Teufel bereitete den Weg für einen Sozialstaat der Weißen. Das ist, man verzeihe das Wortspiel, die dunkle Seite des New Deal, seine Erbsünde. In den 1960er Jahren würde diese Erbsünde mit voller Wucht zurückkommen, die New-Deal-Koalition sprengen und den Weg für die konservative Restauration freimachen. Aber dazu werden wir später kommen.
Das größte Hindernis für den New Deal dagegen blieb der Supreme Court, besonders dessen ultra-konservativer Kern aus vier Richtern, die gemeinsam den Spitznamen "Four Horsemen of the Apocalypse" trugen (bei Liberalen, versteht sich). Diese Männer waren alle um die 70 Jahre alt und blockierten (mit wechselnden unterstützenden Mehrheiten bei den anderen, überwiegend ebenfalls konservativen Richtern) jegliche Versuche sowohl der Bundes- als auch der Staatenregierungen, aktive Wirtschaftspolitik zu betreiben.
Diese Totalopposition entsprang einem ideologischen Verständnis von der Beschränkung staatlicher Aufgaben allgemein, das noch aus der Gilded Age stammte, als die Großmonopolisten wie Rockefeller und Carnegie die Bühne bestimmten. Der Supreme Court befand sich mit dieser ideologisch extremen Linie jedoch weit außerhalb des amerikanischen Mainstream: selbst die oppositionelle republikanische Partei kritisierte die "Four Horsemen" für ihre rigide Rechtsprechung, mit der sie selbst einzelstaatliche Maßnahmen wie New Yorks Mindestlohngesetz zu Fall brachten (eine Seitenbemerkung: die "loyale Opposition" der Republicans bis 1964 ist ohnehin bemerkenswert, vor allem vor dem Spiegel der heutigen Zeit).
Dies führte dazu, dass die Kritik gegen die Blockadehaltung immer weiter anwuchs. In einer Entwicklung, über die die heutigen Republicans besser hart nachdenken sollten, unterstützten die "Four Horsemen" zudem den Umschwung zum progressiveren und wesentlich weitreichenderen Second New Deal: da die unverbindlichen und wenig ambitionierten Vorgaben der NRA als verfassungswidrig erklärt wurden, gab es für Progressive wenig Anreiz zum Kompromiss, so dass durchgreifendere Maßnahmen wie der Wagner-Act plötzlich mehrheitsfähig wurden. Die Verbindung zur republikanischen Sabotage von Obamacare und dem Umschwung bei den Democrats zur Single-Payer-Plattform ist offensichtlich.
Diese Entwicklung blieb auch den "Four Horsemen" nicht verborgen. Anstatt gegen den Mehrheitswillen der Amerikaner in Gesellschaft, Kongress und Weißem Haus anzukämpfen und sich zu einem Ersatzgesetzgeber zu entwickeln, die die Gewaltenteilung auseinanderriss - ein viel diskutiertes Problem dieser Zeit - entschlossen sie sich, nach einer Schamfrist, zum Rücktritt. Zwischen 1937 und 1941 traten nicht nur die "Four Horsemen" sondern auch drei weitere Verfassungsrichter zurück, so dass Roosevelt - mit einer komfortablen Kongressmehrheit - insgesamt sieben neue, progressive Richter bestellen konnte, die den Supreme Court bis weit in die 1970er Jahre zu einer Bastion progressiver Ideen machen sollten.
Auch dies ist eine Langzeitfolge des New Deal. Der komplette Umschwung des Supreme Court war für fast drei Dekaden kein Thema, weil die Republicans, erkennend dass der New Deal grundsätzlich beliebt war sich hinter ihn stellend, keine Grundsatzopposition betrieben. Eisenhower formulierte das in seiner eigenen Präsidentschaft so: “Should any party attempt to abolish social security and eliminate labor laws and farm programs, you would not hear of that party again in our political history. There is a tiny splinter group of course, that believes you can do these things … Their number is negligible and they are stupid.” („Sollte irgendeine Partei versuchen, die Sozialversicherung aufzugeben und das Arbeitsrecht und die Landwirtschaftsprogramme abzuschaffen, dann würde man von dieser Partei in unserer politischen Geschichte nie wieder etwas hören. Es gibt natürlich eine kleine Splittergruppe, die glaubt, man könne so etwas tun […] Ihre Anzahl ist jedoch vernachlässigbar und sie sind dumm.“)
Eisenhower fiel es natürlich leicht, dies zu sagen. Die Hochphase des Reformprogramms endete 1937, und von da an befand sich das gesamte Vertragswerk praktisch ausschließlich in der Defensive. Trotzdem nahmen die Republicans ab Ende der 1930er Jahre eine Position ein, die der der CDU in Deutschland nicht unähnlich war: grundsätzlich pro Sozialstaat, aber immer mit Maß und Ziel und möglichst unternehmerfreundlicher Politik. Niemals ähnelten die USA so sehr einer europäischen Sozialdemokratie wie in diesen Jahren. Doch bereits ab 1937 entstand ein Backlash, der, beginnend an der Peripherie des Gesetzwerks, schließlich die Grundfesten des gesamten Systems erschüttern sollte. Doch das war den Zeitgenossen noch nicht ersichtlich. Vorerst traten die USA, mit dem Paukenschlag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, in ein drei Dekaden dauerndes Goldenes Zeitalter der Sozialdemokratie ein.
Das Jahr 1933 war eine Wasserscheide für Amerika wie Europa. In beiden Ländern bricht die bisher bestehende politische Ordnung unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und den inadäquaten Antworten, die die traditionellen Eliten geben, zusammen. In Deutschland brachte das Chaos der Krise eine Reihe rechtsradikaler Präsidialkanzler an die Macht, in deren Windschatten sich das Land in atemberaubender Geschwindigkeit radikalisierte. 1932 fand das katholisch-bürgerliche Zentrum, das 13 Jahre zuvor die Republik mitbegründet hatte, wenig daran, offen ihre Abschaffung und Ersetzung durch eine Diktatur zu fordern. Ein Jahr später würde sein Vorsitzender, Prälat Kaas, die entscheidenden Stimmen seiner Fraktion zur Annahme des Ermächtigungsgesetzes beisteuern.
In allen Ländern Europas und Amerikas wurde die Wirtschaftskrise in den folgenden Jahren überwunden, mal schneller, mal langsamer, mal mit einem klaren Kurs für eine Erholung, gar Wachstum, in viel mehr Fällen jedoch auf dem nun niedrigeren Niveau stagnierend. Hitlers Ansatz war radikal: Eine Reihe von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schuf eine zwar wenig effiziente, aber öffentlichkeitswirksame Fiktion zielgerichteten staatlichen Handelns, während die eigentliche wirtschaftliche Aktivität sich in atemberaubenden Maße vom zivilen auf den Rüstungssektor verlagerte. Der deutsche Lebensstandard 1937 war niedriger als 1929, aber er war stabil. Die Gewerkschaften waren völlig entmachtet, und die Großkonzerne, die sich schnell mit den Nazis gutgestellt hatten, profitierten wenigstens auf dem Papier von der überhitzten Rüstungsindustrie. Finanziert wurde diese auf Pump, indem mit dem komplizierten Konstrukt der Mefo-Wechsel die Aufrüstungskosten externalisiert und verschleiert wurden. Die Instabilität dieses Konstrukts erforderten die Plünderung fremder Staatskassen, erst durch "Anschluss", dann durch Krieg. Die Performance der deutschen Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg zeigt denn auch überdeutlich, wie wenig nachhaltig und belastbar die Wirtschaftspolitik der Nazis war - auch wenn sie scheinbare Ähnlichkeiten zu einer keynesianischen Investitionspolitik aufweist, halten diese einer genaueren Betrachtung nicht stand. Wer an einer detaillierteren Sicht auf die Nazi-Kriegswirtschaft interessiert ist, dem empfehle ich meine Texte auf dem Geschichtsblog zum Thema (hier und hier) und Adam Toozes bahnbrechendes Werk "Die Ökonomie der Zerstörung".
Ein englisches Sprichwort fordert, niemals eine gute Krise zu verschwenden ("never let a good crisis go to waste"). Die Weltwirtschaftskrise öffnete ein kurzes Fenster für grundlegende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. In Deutschland ergriffen die Nazis es und nutzten es dazu, eine mörderische Diktatur zu etablieren und die Welt mit Krieg zu überziehen. Für unsere Betrachtung hier relevanter ist der Blick auf die Krisenstrategien der liberalen Demokratien.
Während Frankreich und Großbritannien lange, viel zu lange, an den gescheiterten Strategien der Neoklassiker festhielten (was sich vor allem in ihrem beharrlichen Festhalten am Goldstandard ausdrückte, der ihre Wirtschaften fesselte) und vor allem Frankreich später von innenpolitischen Konflikten (Querfront) und so teuren wie nutzlosen Rüstungsprogrammen (Maginot-Linie) gelähmt wurden, zog in den USA 1933 ein Präsident ins Weiße Haus ein, der so gar nicht dazu angetan schien, als Champion der unteren Klassen aufzutreten. Franklin Delano Roosevelt entsprang dem, was in den USA als Adelsschicht gelten darf. Seine Familie war wohlhabend, heiratete stets unter sich, gehörte zum Standardinventar der kultivierten Neu-Englischen Oberschicht und bewohnte große manors. Roosevelt selbst jedoch war, auf seine Art, ein Radikaler. Er hatte die Vision, die Macht des Staates zu nutzen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, denn er betrachtete die Weltwirtschaftskrise vorrangig als eine Krise der Zuversicht, also psychologisch, und nicht systemisch.
Das war natürlich Unsinn. Zwar spielte die Psychologie durchaus eine gewaltige Rolle - "We have nothing to fear but fear itself" erwies sich als wirkungsmächtiges Mantra - aber sie konnte kaum die gewaltige Ungleichheit angehen, die die amerikanische Wirtschaft, wie auch die Europas, in ihrem Würgegriff hielt. Roosevelt war zwar ein Radikaler - aber er war kein Revolutionär. Klassenkampf lag ihm fern, und er gedachte, durch eine Reihe von Sofortmaßnahmen (deren Fehlen er Herbert Hoover zurecht vorwarf) den stotternden Motor amerikanischen Wirtschaftswachstums wieder zum Laufen zu bringen. Er nannte diese Maßnahmen den "New Deal", eine Metapher, die aus dem Kartenspiel kommt und eine grundlegende Neuverteilung der Chancen suggeriert. Um diesen New Deal ranken sich Mythen, die mit dem realen Programm wenig zu tun haben. Besonders in linken Kreisen genießen Roosevelt und dieses Programm eine mythologisierte Verehrung, die wenig mit der historischen Realität zu tun hat.
Roosevelt fußte sein Programm auf einige mehr als wackelige Grundüberzeugungen.
Erstens: Die Privatwirtschaft lief unter ihrer Kapazität, weil der internationale Konkurrenzdruck und die hohen Staatsschulden eine dauernde Belastung darstellten.
Zweitens: Wird die Zuversicht der amerikanischen Konsumenten geweckt, wird ein sich selbst tragender Aufschwung entfacht.
Drittens: Das größte Problem vieler Amerikaner ist große Unsicherheit. Es benötigt daher ein staatliches Fürsorgesystem, das eine gewisse Grundsicherung ermöglicht. Diese wird über Steuererhöhungen finanziert und steht nur denen offen, die arbeiten.
Viertens: Die Wirtschaftsführer und Opposition sehen dies ähnlich wie er und werden kooperieren.
Fünftens: Die geplanten Maßnahmen sind allesamt juristisch unbedenklich.
Diese Grundannahmen führten dazu, dass Roosevelt im Wahlkampf 1932 seinen Konkurrenten Herbert Hoover von rechts attackierte: Er warf ihm vor, mit nutzlosen (weil schlecht durchgeführten, nicht weil grundsätzlich sinnlosen) Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Staatsschulden in die Höhe zu treiben und den Europäern gegenüber nicht hart genug aufzutreten, ja, einen Ausverkauf amerikanischer Interessen zu betreiben. Besonders ein Dorn im Auge waren ihm Hoovers Versuch, die USA in die Abrüstungskonferenz von Genf einzubinden (die von den Nazis permanent propagandistisch ausgeschlachtet wurde und das Potenzial hatte, der Militarisierung Deutschlands von Anfang an die Zähne zu ziehen, indem es in ein kollektives Sicherheitssystem eingebunen wurde) und seine Bereitschaft, die liberale Welthandelsordnung aufrecht zu erhalten.
Er forderte daher im Wahlkampf ein Kürzen des Bundeshaushalts, eine radikale Erhöhung der Außenzölle vor allem im Agrarbereich und einen Rückzug der USA aus der europäischen Politik, was eine Preisgabe der alten Kriegspartner Frankreich und Großbritanniens, aber auch der deutschen Transatlantiker, bedeutete. Zudem plädierte er für Steuererhöhungen und für die Schaffung eines grundsätzlichen Sicherheitsnetzes, dessen Natur unklar blieb. Es war, um es kurz zu machen, eine populistische Plattform, voller Inkonsistenzen und besonders im außenpolitischen Bereich bar jeder Sachkenntnis oder Interesses. Es war aber gleichzeitig ein Strauß von Themen, die bei den Wählern populär waren. Roosevelt gewann die Wahl, und bis dahin wäre es eine Geschichte der üblichen schmutzigen Wahlkampfstrategien, aber Roosevelt war von dem Unsinn tatsächlich überzeugt. Sein erster Haushalt 1933 kürzte die ohnehin schmalen Budgets Hoovers für Arbeitsbeschaffung und Ähnliches, die Genfer Abrüstungskonferenz hatte sich bereits im Lauf des Jahres 1932 politisch erledigt und hohe Zölle wurden verabschiedet.
Wie also sollte der New Deal dann funktionieren? Roosevelts Idee war, über das Instrument der frisch geschaffenen "National Recovery Agency" NRA (nicht zu verwechseln mit der heutigen National Rifle Association NRA) sämtliche staatlichen Gelder nur noch an Firmen zu vergeben, die ein bestimmtes Set an Auflagen erfüllten. Diese sollten sich mit dem neugeschaffenen NRA-Symbol des blauen Adlers schmücken dürfen. Die Hoffnung war, dass dieser Druck auf Arbeitsbedingungen und Löhne die Unternehmen dazu bewegen würde, freiwillig dem Reglement zu folgen. Gleichzeitig würde die durch die NRA entstehende Aufbruchstimmung auch Arbeiter und Konsumenten mitnehmen. Zur selben Zeit würden die notleidenden Farmer besonders des Mittleren Westens durch die hohen Zölle vor Konkurrenz geschützt und prosperueren. Es war effektiv ein "Mehr mit Weniger". Und es funktionierte in etwa so gut, wie es klingt.
Die größte Erfolgsgeschichte dieser Zeit war die Tennessee River Valley Authority. Diese neu geschaffene Behörde legte ein gewaltiges Infrastrukturprojekt in einer der wirtschaftlich schwächsten Regionen der USA, dem amerikanischen Süden, auf. Hier wurde ein Staudamm gebaut. Ähnliche Projekte, die Arbeit schaffen und, das war entscheidend, sich weitgehend selbst finanzieren sollten, gab es auch an anderen Orten, fast alle im Süden. Die dazu benötigten Gelder und Infrastruktur hatte bereits die Regierung Hoover zu verplanen begonnen; die konkrete Struktur und Vergabe der Gelder orientierte sich an den innerparteilichen Bedürfnissen der Democratic Party. Und bei diesen lohnt es sich, für einen Moment zu verweilen. Denn sie sind für den Fortgang unserer Geschichte von entscheidender Bedeutung.
Die Partei war damals mit einer breiten Koalition aufgestellt, mit einer Reihe verschiedener Flügel und Machtzentren, die miteinander wenig zu tun hatten und teils in direkter Konkurrenz standen.
Das jüngste Mitglied dieser Koalition waren die Schwarzen außerhalb der Südstaaten. Diese hatten mehrere Jahrzehnte verlässlich die Republicans gewählt, die als als Partei Lincolns historisch für ihre Rechte eingetreten waren. Durch den Ausverkauf ihrer Interessen am Ende der Reconstruction-Ära hatte jedoch ein langsamer Wandel zu den Democrats begonnen, die vor allem durch den Progressiven Theodore Roosevelt (einen entfernten Verwandten FDRs) zu der Partei gebracht wurden. 1933 wählten die Schwarzen erstmals in nennenswerten Größen die Partei.
Ein weiterer Eckstein der Koalition waren die Katholiken, etwa die Iren. Die Republicans waren eine ausgesprochen katholikenfeindliche Partei. Damit lagen sie im Mainstream, denn der Katholizismus wurde in weiten Teilen der protestantisch dominierten Gesellschaft als unamerikanisch empfunden, mit seinen autoritären Strukturen und einem Oberhaupt im europäischen Ausland. Mit Al Smith hatte die die Partei 1928 den ersten katholischen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt (und krachend verloren), aber viele Einwanderer, etwa die Iren, aber auch viele Osteuropäer, waren katholisch und wurden zu soliden Wählerblöcken der Democrats. Wie in Deutschland besaß die christlich-katholische Soziallehre eine gewisse Affinität zu sozialstaatlichen Programmen, die ein Bündnis mit sozialdemokratischen Ideen logisch erschienen ließen.
Eine dritte Säule der Partei war die konservative Landbevölkerung der Südstaaten, besonders die alten konföderierten Eliten. Sie wählten die Partei seit den 1830er Jahren und waren der verlässlichste Wählerblock. Strukturell waren sie in einer Art Honoratiorensystem organisiert: "Ehrbare Mitglieder der Gesellschaft", also sozial hochstehende und wohlhabende Männer, machten die Nominierungsprozesse überwiegend unter sich aus und nutzten die arkanen Mechanismen der caucuses und anderer obskurer politischer Rituale, um sich abzusichern. Sie profitierten massiv davon, dass große Teile der Bevölkerung de facto kein Wahlrecht besaßen (allen voran die Schwarzen, aber auch viele andere Gruppen) und schoben sich im Kongress gegenseitig staatliche Unterstützungsgelder für ihre Distrikte zu, um ihre Anhänger bei Laune zu halten.
Der vierte Block waren die Progressiven. Ihre Hochzeit war in den 1900er und 1910er Jahren gewesen, als ihre politische Heimat bei den Republicans war. Sie hatten gegen die Macht der Großkonzerne opponiert und mehr Rechte für amerikanische Arbeiter gefordert, doch bei den Präsidentschaftswahlen 1912 hatte der im parteiinternen Machtkampf unterlegene Theodore Roosevelt seine Anhänger in die unabhängige "Bull Moose Party" geführt, was direkt zum Sieg des rassistischen Südstaatlers Woodrow Wilson führte - und die Democrats zum ersten Mal seit 1861 wieder an die Macht brachte. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen die Republicans mit ihrer 1912 entwickelten, arbeitgebeberfreundlichen Plattform das Weiße Haus und dominierten es mit Harding, Coolidge und Hoover bis in die Weltwirtschaftskrise. In diesen Jahren wanderten große Teile dieser Progressiven ins Lager der Democrats.
Entsprechend disparate Hoffnungen wurden auf den neuen Präsidenten projiziert. Die Schwarzen erhofften sich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Gleichberechtigung. Die Einwanderer hofften ebenfalls auf Arbeitsplätze, ein Wohnungsbauprogramm und bessere Arbeitsbedingungen. Die konservativen Eliten des Südens wollten Bundesmittel in ihre Bezirke bringen, um den Süden wirtschaftlich zu stärken, und lehnten ansonsten Staatseingriffe rigoros ab. Die Progressiven dagegen hofften auf eine Stärkung der Gewerkschaften, einen robusten Sozialstaat und eine wirtschaftliche Interventionspolitik. Vereint wurden sie 1933 in ihrer Ansicht, dass die Krise kurzfristige, drastische Maßnahmen erforderte.
Annahme Nummer vier, dass die Opposition das ähnlich sehen würde, stimmte auch vorerst. Gerade die Arbeitsbeschaffungsprogramme wurden auch von den Republicans unterstützt, blieben jedoch in ihrem Umfang extrem begrenzt. Die Arbeiter wurden sehr schlecht bezahlt, damit der Privatwirtschaft keine Konkurrenz gemacht wurde, und alle Projekte sollten so wenig Kosten wie möglich verursachen. Die Konservativen in der Partei strukturierten sie zudem besonders im Süden so, dass nur weiße Arbeiter davon profitierten.
Herzstück des New Deal aber war die NRA. Die Arbeitsweise dieser Institution zeigt deutlich die Strategie, mit der die New Dealer um Roosevelt vorzugehen hofften. Anstatt mit Gesetzen die systemische Grundlage des Wirtschaftssystems anzugehen, etablierten sie einen losen Handlungskatalog - von Mindestlöhnen über Höchstarbeitszeiten zu anderen Standards - dem Unternehmen folgen sollten. Die Unternehmen, die sich freiwillig auf diese Linie verpflichteten, durften mit dem Symbol des blauen Adlers werben. Um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen, rief die Regierung mehr oder weniger offen zum Boykott von Firmen auf, die nicht mitmachten, und vergab Staatsaufträge nur an NRA-Firmen. Das Konstrukt funktionierte nie so, wie sich Roosevelt das erhofft hatte, und wurde 1935 vom Supreme Court für verfassungswidrig erklärt. Damit war das Herzstück des New Deal verloren.
Die Geschichte könnte damit zu Ende sein. Die ersten zwei Jahre der ersten Amtszeit Roosevelts waren vorüber. Viel Potenzial war verschwendet worden. Präsidenten bekommen selten eine Chance für so umfassende Reformen wie Roosevelt diese 1933 genoss, und wenn sie das Zeitfenster verpassen, kommt üblicherweise kein zweites. Präsidenten ist dies bewusst. Es ist kein Zufall, dass Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, Bill Clinton und Barrack Obama ihre großen Reformprogramme (Civil Rights Act/War on Poverty, Steuerreform, allgemeine Krankenversicherung, noch einmal allgemeine Krankenversicherung) alle in den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit unternahmen. Als der Wahlkampf für die Midterms 1934 alle Reformbestrebungen zu einem quietschenden Stopp brachte war das Ergebnis des New Deal sehr durchwachsen.
Zwar nehmen die hohen Zölle etwas Druck von den Landwirten, wie das intendiert war. Das half ihnen angesichts der Umweltkatastrophe der Dust Bowl, die ihre Höhfe zerstörte und eine gewaltige inneramerikanische Migrationswelle nach Westen erzwang, nicht allzu viel.
Ebenso hatten sie vermutlich leichte positive Auswirkungen auf die US-Industrie, deren Außenhandel zur damaligen Zeit vernachlässigbar war (ganz anders als heute, wo die Warenströme alle in hohem Maß internationalisiert sind). Das zurückrufen sämtlichen im Ausland gebundenen Kapitals brachte ebenfalls kurzfristig Geld ins Land. Der negative Effekt war eine Schwächung ebendieses Auslands, vor allem Frankreichs und Englands, die schwerwiegende Langzeiteffekte haben würde. Einerseits reagierten beide mit eigenen Zöllen und machten so eine Erholung des Welthandels vor 1941 unmöglich, was auch negative Auswirkungen für die Langzeitaussichten des US-Wachstums hatte. Und auf der anderen Seite schwächte es die liberale Welt gegenüber dem Aufstieg des Faschismus.
Die NRA selbst war ein Fehlschlag. Als die Organisation 1934 verboten wurde, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst und wäre vermutlich vom Kongress auch nicht mehr erneuert worden (sie hatte eine zweijährige Laufzeit). Mangels koordinierter Handlungen seitens der Bundespolitik hatten einige progressive Bundesstaaten wie New York versucht, eigene Wege zu gehen und Mindestlöhne und Mindest-Arbeitsbedingungen gesetzlich vorzuschreiben; diese Maßnahmen waren vom Supreme Court ebenfalls verboten worden. Das Herzstück einer möglichen sozialdemokratischen Reformagenda war damit praktisch völlig entkernt.
Eine Erfolgsgeschichte waren die Infrastrukturprojekte vom Tennessee-River-Valley-Staudamm bis zum New Yorker Flughafen La Guardia. Nur hatten sie ebenfalls keine systemischen Auswirkungen, denn deren Fehlen war ja gerade die Intention gewesen. Das Arbeitsbeschaffungsprogramm war nicht verstetigt, die Bezahlung und Arbeitsbedingungen bewusst schlecht, so dass sie auch keine Leuchtturmfunktion haben konnten. Damit eigneten auch sie sich nicht zur nachhaltigen Veränderung des eigentlichen Systems, das sich als so großes Problem erwiesen hatte.
Immerhin war die US-Wirtschaft wieder auf einem sehr langsamen Wachstumskurs. Die Talsohle war erreicht. Rund ein Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung war arbeitslos gewesen. Diese Zahl ging langsam, aber sicher zurück. Um 1939 herum würde aber immer noch ein Fünftel der US-Bevölkerung betroffen sein. Inwieweit diese generelle, langsame Erholung der US-Wirtschaft dem New Deal zuzuschreiben ist, bleibt dabei unklar. Geholfen hat er sicherlich, aber die Kritiker, die behaupten, dass dassselbe unter Hoover auch passiert wäre, ohne das Chaos der inkohärenten New-Deal-Maßnahmen, sind sicherlich nicht einfach abschmetterbar.
Bekanntlich aber endet die Geschichte hier nicht. Denn von allen Seiten, inklusive Roosevelt, etwas unerwartet gewannen die Democrats die Kongresswahlen 1934 durchschlagend. Und diese Wahlen veränderten alles.
Auf der einen Seite war da Roosevelt selbst. Zunehmend unzufrieden mit der Entwicklung seines New Deal und dem Widerstand der Konservativen in der eigenen Partei, der Opposition und vor allem in der Wirtschaft wurde er immer offener gegenüber progressiven Lösungen und immer schärfer im Ton. Seine beinahe schon klassenkämpferischen Allüren (als gewiefter Politiker gelang Roosevelt ein Seiltanz der Rhetorik, der ihn nie ganz ins eine oder andere Lager fallen ließ) passten zur Stimmung der Zeit. Denn die Unzufriedenheit mit dem bisherigen Verlauf des New Deal war besonders im Norden der USA groß, wo nun eine Reihe vorheriger republikanischer Amtsinhaber und konservativer Democrats ihre Sitze an eine neue Generation von progressiven Abgeordneten verlor. Das innerparteiliche Machtgleichgewicht veränderte sich dramatisch zugunsten der Progressiven. Anstatt - wie etwa im Falle Bill Clintons oder Barrack Obamas - die Tür für weitere Reformen zuzuschlagen, rissen die Midterms 1934 sie weit auf. Roosevelt und der New Deal erhielten eine zweite Chance.
Angesichts ihrer Erfahrungen 1933-1934 war klar, dass es große Maßnahmen brauchte, wenn sich etwas ändern sollte. Der Second New Deal brauchte etwas wie die NRA, nur funktionsfähig. Die unerwartete Natur des Siegs bei den Midterms und das unklare Machtgleichgewicht innerhalb der Democrats, die zwar eine deutliche Mehrheit der Sitze besaßen, aber keine innerparteilich einheitliche Linie fuhren, ließ die New Dealers ein wenig wie den Kaiser ohne Kleider dastehen. Die Berater rund um Roosevelt hatten viele Konzepte, und ein britischer Ökonom namens John Maynard Keynes bestürmte den Präsidenten bereits seit dessen Vorwahlkampf 1932, mit deficit spending die malade US-Wirtschaft anzukurbeln. Doch so weit ging Roosevelts Radikalismus nicht: die Staatsschulden durften nicht wesentlich steigen (sie blieben in der New-Deal-Reformära bei rund 3%, eine ungewöhnlich niedrige Zahl angesichts der Programmatik, die selbst Theo Waigels seal of approval bekommen hätte).
Wir müssen uns an dieser Stelle klar machen, dass die Präsidentschaft - und die Bundesverwaltung - damals noch nicht die herausragende Stellung im amerikanischen Verfassungsgefüge hatten, die sie heute genießen. Diese war ein Produkt des Zweiten Weltkriegs, wie wir bald sehen werden. Die wahre Macht lag immer noch im Kongress, wo die Old-Boys-Netzwerke gerade der konservativen Südstaaten-Democrats die Macht hatten. Roosevelts Versuche, Kompetenzen für die Bundesregierung zu beanspruchen, wurden denn auch zuverlässig vom Supreme Court niedergeschmettert, zu dem wir gleich noch mehr erfahren werden. Auch Versuche der Bundesstaaten, den Föderalismus für Experimente zu nutzen, wurden hier zunichte gemacht, was ungeheure Frustration seitens der Progressiven mit sich brachte und selbst bei den oppositionellen Republicans auf Kritik stieß.
Aber genau diese unklaren Verhältnisse, die die Schaffung eines konzertierten Plans bislang verhindert hatten, erlaubten es gut vernetzten und motivierten Abgeordneten, ihre eigenen Projekte zu starten. Die Person, die den Grundstein für das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie in den USA legte, war denn auch nicht Roosevelt, sondern der Senator Robert F. Wagner. Wagner war 1927 das erste Mal in den Senat eingezogen und zusammen mit Henry Stegall (der die berühmte Bankenregulierung verantwortete, die unter Bill Clinton unverantwortlicherweise niedergerissen und unter Obama wenigstens teilweise wieder errichtet wurde) einer der führenden Autoren der Gesetzgebung des Second New Deal. Er war ein wonk, ein Experte auf seinem Gebiet, und lebte für die Chance, tiefgreifende Reformen einzuführen. Als einer der wenigen hatte er für die Eventualität eines Sieges bei den Midterms 1934 geplant. Und so konnte er in das entstandene politische Vakuum, in dem die Progressiven zwar plötzlich viel Macht, aber kein klares Programm hatten, seinen eigenen Entwurf einbringen: den National Labor Relations Act.
Kaum ein Gesetzesvorhaben war so entscheidend wie dieses. Das kurz als Wagner-Act bekannte Werk ist in seinem Umfang mit Obamacare vergleichbar: umfassend, tiefgreifend und hoch komplex. Wagner nutzte eine parlamentarische Dynamik, die so alt ist wie die amerikanische Republik selbst: Er machte seine Ideen zur Diskussionsgrundlage. Der verabschiedete National Labor Relations Act war natürlich nicht identisch mit seinem Entwurf, aber nahe genug dran. Was erreichte dieses Gesetzeswerk?
Die Zielsetzung des Wagner-Act lohnt sich zitiert zu weren: "encouraging the practice and procedure of collective bargaining and by protecting the exercise by workers of full freedom of association, self-organization, and designation of representatives of their own choosing, for the purpose of negotiating the terms and conditions of their employment or other mutual aid or protection" ("die Praxis und Abläufe der Tarifverhandlungen zu fördern und die Arbeiter dabei zu beschützen ihre vollen Freiheiten des Zusammenschlusses, der Organisierung in Körperschaften und der Bestellung von Vertretern die sie selbst gewählt haben um die Bedingungen und Verhältnisse ihres Arbeitsverhältnisses zu verhandeln oder sich gegenseitig zu schützen und zu helfen") Kurz gesagt: Der Wagner-Act legalisierte Gewerkschaften und versprach ihnen die Hilfe des Staates bei der Durchsetzung ihrer Rechte.
Die Verabschiedung des Wagner-Acts 1935 führte zu einer Explosion der Gewerkschaftsmitgliedschaften. Millionen von Arbeitern traten den Gewerkschaften bei, die urplötzlich über riesige Mittel verfügten und die legale Handhabe besaßen, Tarifverhandlungen für die Arbeiter zu führen und Arbeitskämpfe als Durchsetzungsmittel zu verwenden. Unter dem Schlagwort "Boys, the president wants you to join a union" (Jungs, der Präsident will dass ihr einer Gewerkschaft beitretet") erreichten die Gewerkschaften bis 1937 monumentale Gewinne, wie sie nie zuvor (und nie danach) im amerikanischen Wirtschaftsleben möglich waren.
Wagner war außerdem federführend an zwei weiteren Gesetzeswerken beteiligt: dem Social Security Act von 1935, der den amerikanischen Sozialstaat mit einem staatlichen Renten- und Arbeitslosenversicherungssystems begründete, und dem Housing Act von 1937, der es der Bundesregierung ermöglichte, Sozialwohnungen für Arme zu bauen.
Natürlich war Wagner nicht allein. Auch andere Progressive und die Roosevelt-Administration selbst ergriffen die Gelegenheit, die sich ihnen bot, mit beiden Händen. Praktisch alle Programme, die klassischerweise unter "New Deal" gefasst werden, stammen aus der Periode 1935 bis 1937. Im Wahlkampf 1936 gewann Roosevelt überzeugend eine weitere Amtszeit, und noch mehr Progressive gelangten in den Kongress. Sowohl die Bundesregierung als auch die Legislative konnten nun ihre Vorhaben durchsetzen.
Dazu brauchte es jedoch die Stimmen der konservativen Südstaaten-Democrats. Trotz aller Gewinne der Progressiven konnten diese im Verbund mit den Republicans - Parteilinien überschreitendes Abstimmungsverhalten dieser Art war bis weit in die 1980er Jahre hinein die Norm und kam erst mit Newt Gingrichs "Revolution" von 1994 bei den Republicans aus der Mode - den New Deal blockieren. Die Abgeordneten des Tiefen Südens hatten ein grundlegendes Problem mit dem New Deal. Das war die Stärkung der Bundesgewalt, die sich historisch immer für die Gleichberechtigung der Schwarzen eingesetzt hatte, gegen die die konservativen Democrats seit jeher eine verlässliche Bastion waren.
Um eine Mehrheit für seine Reformpolitik zu gewinnen, schloss Roosevelt daher einen Faustischen Pakt mit dieser Fraktion. Die Südstaatler würden die Reformpolitik mittragen und sie nicht blockieren (viele der Gesetze betrafen ohnehin nur den industrialisierten Norden und nicht den weitgehend agrarisch geprägten, rückständigen Süden). Auf der anderen Seite würde die Gesetzgebung so konstruiert werden, dass sie Schwarze weitgehend ausschloss. Die NAACP bezeichnete etwa den Social Security Act als "sieve with holes just big enough for the majority of Negroes to fall through" ("wie ein Sieb mit Löchern gerade groß genug, damit die Mehrheit der Schwarzen hindurch fiel"). Die Segnungen des New Deal schlossen damit rund ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung aus, überwiegend in den ohnehin armen und unterentwickelten Südstaaten.
Dieser Pakt mit dem Teufel bereitete den Weg für einen Sozialstaat der Weißen. Das ist, man verzeihe das Wortspiel, die dunkle Seite des New Deal, seine Erbsünde. In den 1960er Jahren würde diese Erbsünde mit voller Wucht zurückkommen, die New-Deal-Koalition sprengen und den Weg für die konservative Restauration freimachen. Aber dazu werden wir später kommen.
Das größte Hindernis für den New Deal dagegen blieb der Supreme Court, besonders dessen ultra-konservativer Kern aus vier Richtern, die gemeinsam den Spitznamen "Four Horsemen of the Apocalypse" trugen (bei Liberalen, versteht sich). Diese Männer waren alle um die 70 Jahre alt und blockierten (mit wechselnden unterstützenden Mehrheiten bei den anderen, überwiegend ebenfalls konservativen Richtern) jegliche Versuche sowohl der Bundes- als auch der Staatenregierungen, aktive Wirtschaftspolitik zu betreiben.
Diese Totalopposition entsprang einem ideologischen Verständnis von der Beschränkung staatlicher Aufgaben allgemein, das noch aus der Gilded Age stammte, als die Großmonopolisten wie Rockefeller und Carnegie die Bühne bestimmten. Der Supreme Court befand sich mit dieser ideologisch extremen Linie jedoch weit außerhalb des amerikanischen Mainstream: selbst die oppositionelle republikanische Partei kritisierte die "Four Horsemen" für ihre rigide Rechtsprechung, mit der sie selbst einzelstaatliche Maßnahmen wie New Yorks Mindestlohngesetz zu Fall brachten (eine Seitenbemerkung: die "loyale Opposition" der Republicans bis 1964 ist ohnehin bemerkenswert, vor allem vor dem Spiegel der heutigen Zeit).
Dies führte dazu, dass die Kritik gegen die Blockadehaltung immer weiter anwuchs. In einer Entwicklung, über die die heutigen Republicans besser hart nachdenken sollten, unterstützten die "Four Horsemen" zudem den Umschwung zum progressiveren und wesentlich weitreichenderen Second New Deal: da die unverbindlichen und wenig ambitionierten Vorgaben der NRA als verfassungswidrig erklärt wurden, gab es für Progressive wenig Anreiz zum Kompromiss, so dass durchgreifendere Maßnahmen wie der Wagner-Act plötzlich mehrheitsfähig wurden. Die Verbindung zur republikanischen Sabotage von Obamacare und dem Umschwung bei den Democrats zur Single-Payer-Plattform ist offensichtlich.
Diese Entwicklung blieb auch den "Four Horsemen" nicht verborgen. Anstatt gegen den Mehrheitswillen der Amerikaner in Gesellschaft, Kongress und Weißem Haus anzukämpfen und sich zu einem Ersatzgesetzgeber zu entwickeln, die die Gewaltenteilung auseinanderriss - ein viel diskutiertes Problem dieser Zeit - entschlossen sie sich, nach einer Schamfrist, zum Rücktritt. Zwischen 1937 und 1941 traten nicht nur die "Four Horsemen" sondern auch drei weitere Verfassungsrichter zurück, so dass Roosevelt - mit einer komfortablen Kongressmehrheit - insgesamt sieben neue, progressive Richter bestellen konnte, die den Supreme Court bis weit in die 1970er Jahre zu einer Bastion progressiver Ideen machen sollten.
Auch dies ist eine Langzeitfolge des New Deal. Der komplette Umschwung des Supreme Court war für fast drei Dekaden kein Thema, weil die Republicans, erkennend dass der New Deal grundsätzlich beliebt war sich hinter ihn stellend, keine Grundsatzopposition betrieben. Eisenhower formulierte das in seiner eigenen Präsidentschaft so: “Should any party attempt to abolish social security and eliminate labor laws and farm programs, you would not hear of that party again in our political history. There is a tiny splinter group of course, that believes you can do these things … Their number is negligible and they are stupid.” („Sollte irgendeine Partei versuchen, die Sozialversicherung aufzugeben und das Arbeitsrecht und die Landwirtschaftsprogramme abzuschaffen, dann würde man von dieser Partei in unserer politischen Geschichte nie wieder etwas hören. Es gibt natürlich eine kleine Splittergruppe, die glaubt, man könne so etwas tun […] Ihre Anzahl ist jedoch vernachlässigbar und sie sind dumm.“)
Eisenhower fiel es natürlich leicht, dies zu sagen. Die Hochphase des Reformprogramms endete 1937, und von da an befand sich das gesamte Vertragswerk praktisch ausschließlich in der Defensive. Trotzdem nahmen die Republicans ab Ende der 1930er Jahre eine Position ein, die der der CDU in Deutschland nicht unähnlich war: grundsätzlich pro Sozialstaat, aber immer mit Maß und Ziel und möglichst unternehmerfreundlicher Politik. Niemals ähnelten die USA so sehr einer europäischen Sozialdemokratie wie in diesen Jahren. Doch bereits ab 1937 entstand ein Backlash, der, beginnend an der Peripherie des Gesetzwerks, schließlich die Grundfesten des gesamten Systems erschüttern sollte. Doch das war den Zeitgenossen noch nicht ersichtlich. Vorerst traten die USA, mit dem Paukenschlag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, in ein drei Dekaden dauerndes Goldenes Zeitalter der Sozialdemokratie ein.
Sonntag, 1. Juli 2018
Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 1: Grundlagen
Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird "Sozialdemokratie" hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.
Samstag, 9. Juni 2018
Verführung ist nicht Hypnose
In der letzten Zeit hatte ich in meinem privaten Umfeld ohne Bezug zu aktuellen Ereignissen immer wieder eine Debatte zu einem Thema, das mich seither nicht mehr loslässt. Konkret geht es um die Frage der "Verführung" besonders der Jugend im Dritten Reich. Wer 1933 um die 5-10 Jahre alt war, kann man dem tatsächlich einen Vorwurf machen, wenn er 1945 mit fanatischer Begeisterung in den Endkampf zieht und dazwischen ebenso begeistert in der Hitlerjugend mitgemacht hat? Viele Narrative sagen "nein" - von Filmen wie "Napola" zu Büchern wie "Die Welle". Die Grundidee ist immer dieselbe: die massive Propaganda, gepaart mit der attraktiven Mitgliedschaft in Organisationen wie der HJ, habe die Leute verführt - sie konnten sich praktisch gar nicht mehr eine eigene Meinung bilden, konnten nicht klar sagen, ob das was sie taten "richtig" war oder nicht, weil ihre Maßstäbe für "richtig" von den Nazis hemmungslos verschoben worden waren. Ich habe ziemliche Probleme mit dieser Story.
Freitag, 4. Mai 2018
Die loyale Opposition
Im Jahr 1939 wurde auch den naivsten Beobachtern der politischen Szene Europas klar, dass das Deutsche Reich unter Adolf Hitler an einer Aufrechterhaltung internationaler Normen und friedlicher Zusammenarbeit nicht interessiert war. Für Großbritannien und Frankreich war die Situation verheerend. Sie hatten einen Großteil der 1930er Jahre ihre jeweiligen Armeen vernachlässigt, während Deutschland massiv aufgerüstet hatte. Die französische Armee war zudem doktrinal veraltet. Nach dem endgültigen Scheitern des Münchner Abkommens versuchten die beiden Verbündeten frenetisch, ihren Rückstand aufzuholen und sich auf den kommenden Konflikt mit Deutschland vorzubereiten. Die Art in der sie dies jedoch taten wies entscheidende Unterschiede auf, die sich aus den jeweiligen innenpolitischen Begebenheiten der Westeuropäer erklären lassen. Es ist lohnenswert, diese Umstände kurz zu rekapitulieren, denn die französische und britische Innenpolitik 1938-1940 unterscheiden sich drastisch durch die Art der Opposition, und diese Unterscheidung durchzieht auch heute wie eine Kluft die westlichen Länder und teilt sie in unterschiedliche Lager ein. Eine Betrachtung dieser Zeit hilft uns daher zu verstehen, was eine loyale Opposition ist, ehe wir sehen können wie es sich in der westlichen Welt heute damit verhält und warum sie von so entscheidender Bedeutung ist.
Frankreich war von den Wirren der Weltwirtschaftskrise ähnlich stark erschüttert wie Deutschland und litt immer noch unter den Verheerungen des Ersten Weltkriegs. Die Vorstellung, mit der leidenden Wirtschaft auch noch ein militärisches Aufrüstungsprogramm finanzieren zu müssen, das zudem im Kriegsfall wieder zu gewaltigen Zerstörungen und Verlusten führen würde, war der Republik verständerlicherweise ein Graus (der deutschen Bevölkerung auch, aber die wurde nicht gefragt). Dazu kam ein Verhältniswahlrecht, das ähnlich wie in der Weimarer Republik zu einer starken Zersplitterung der Parteienlandschaft führte. Der Vergleich mit Weimar ist auch instruktiv, denn in Frankreich gab es ebenfalls eine große nicht-demokratische Linke (die Kommunisten) und Rechte (die Autoritären). Anders als in Deutschland allerdings brach die Demokratie nicht zusammen; stattdessen erhielt die kommunistische Partei von Moskau die Erlaubnis, von der These des "Sozialfaschismus" abzuweichen und mit den Sozialdemokraten und Bürgerlichen zusammenzuarbeiten, nachdem in Deutschland die KPD unter der Verfolgung der Nazis völlig zerstört wurde. Das schuf die Grundlage dafür, dass Léon Blum 1936/37 eine "Volksfront"-Regierung bilden konnte, praktisch ein Allparteienbündnis.
Innerhalb dieses Bündnisses kam es allerdings zu keiner vertrauensvollen Zusammenarbeit. Weder links noch rechts waren ernsthaft an Kooperation interessiert, sondern versuchten ihre jeweiligen Ministerien für ihre Zwecke zu nutzen (vor allem zur Mobilisierung von Anhängern) und die staatlichen Institutionen zu nutzen, um ihren Gegnern aktiv zu schaden. Gleichzeitig durchsetzte dieser Parteienkampf auch andere Institutionen wie das Militär. Ein besonders folgenschwerer Fall war der französische Oberbefehlshaber Gamelin: nicht nur legte er sich unflexibel auf die Maginot-Verteidigungsstrategie fest, die Frankreich Unsummen kostete und wenig zur tatsächlichen Sicherheit beitrug, obwohl Experten und Verbündete (Großbritannien) ihn bestürmten davon abzuweichen; er war, wie sich nach Kriegsausbruch zeigen sollte, auch noch ein Defätist und verlor wiederholt die Nerven, was maßgeblich zu der schnellen französischen Niederlage beitrug.
Nun war diese Inkompetenz Gamelins keine Unbekannte. Der Nachfolger Blums jedoch, der Sozialdemokrat Édouard Daladier, war politisch mit Gamelin verbunden und stellte sich schützend vor den General. Es war Gamelin, der trotz Warnungen seiner Geheimdienste die offene Flanke in den Ardennen ignorierte. Als die Wehrmacht die französischen Linien durchbrach und begann, die Flanke der Alliierten aufzurollen, versank der Generalstab in Untätigkeit und Defätismus. Als Daladier zurücktrat und durch Paul Reynaud ersetzt wurde, verhinderte Daladier weiterhin, dass Gamelin - und andere offensichtlich für die Krisensituation ungeeignetes Führungspersonal - duch Fähiges ersetzt wurde, weil dies seine persönliche Machtbasis beschädigt hätte. Die französische Rechte indessen drang, entgegen Reynauds Versuchen einer Stabilisierung der Front, auf einen sofortigen Waffenstillstand mit den Deutschen, um im Anschluss ein autoritäres Frankreich aufbauen zu können - wie es im Vichy-Rumpfstaat unter Philippe Pétain ja dann auch geschah. Um es kurz zu machen: die Strömungen der französischen Innenpolitik liefen gegeneinander und lähmten das Land, blockierten seine Funktionen und sorgten in der tiefsten Krise dafür, dass offensichtliche und essenzielle Maßnahmen nicht getroffen wurden. Das Resultat war der schmähliche Zusammenbruch Frankreichs nach nur sechs Wochen und der Durchmarsch der Nazis.
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals indessen bot sich das gegenteilige Bild. Die konservative Regierung unter Neville Chamberlain hatte zwar erst spät erkannt, welche Schritte notwendig waren, traf diese dann aber mit großer Entschlossenheit und unter Einbindung der inner- und außerparteilichen Opposition: Chamberlain holte seinen innerparteilichen Konkurrenten Winston Churchill, der ihn seit Jahren heftig für die Appeasement-Politik kritisiert und Aufrüstung gefordert hatte, ins Kabinett und gab ihm weitreichende Kompetenzen. Gleichzeitig gingen er auf die Abgeordneten der Labour Party zu und hielt sie über de Prozesse auf dem Laufenden, die zur britischen Kriegserklärung am 2. September führen würden. Dass es überhaupt einen Tag dauerte, bis diese erfolgte (Deutschland griff Polen am 1. September an) lag an den Franzosen, wo Gamelin und die Rechten die Regierung auszubremsen versuchten (und die französische Kriegserklärung auch bis zum 3. September verzögerten). Die britische Regierung wurde umgebildet und beinhaltete nun auch Labour-Minister, die umfänglich in die Kriegsprozesse eingebunden wurden.
Nach dem Zusammenbruch der französischen Armee trat Chamberlain zurück. Sein bevorzugter Nachfolger wäre Außenminister Halifax gewesen. Dieser jedoch zweifelte daran, dass er als Premierminister kompetent war und sah seine Rolle eher als starker Mann der zweiten Rolle. Obwohl weder Chamberlain noch Halifax große Fans Churchills waren, erkannten sie dessen grundsätzliche Qualitäten in einer Krisensituation wie dieser. Churchill, der über keine eigene Machtbasis im Parlament verfügte, wurde Premierminister. Durch den gesamten Krieg hindurch zogen die Mitglieder der britischen Regierung, unabhängig von ihren parteilichen Präferenzen und persönlichen Gegensätzen, am selben Strang. Personal, das sich als inkompetent herausstellte (und davon hatten die Briten eine ganze Menge) wurde zugunsten besserer Kommandeure gefeuert. Es war diese Einheit der britischen Demokratie, die eine notwendige Bedingung für den späteren Sieg war.
Ähnlich war es übrigens auch in den USA. Hier arbeiteten die Republicans sehr eng mit den Democrats zusammen. Im Wahlkampf 1940 vermied es der republikanische Kandidat Wilkie, der Versuchung nachzugeben und Roosevelts zunehmend offensivere Außenpolitik, die auf Aufrüstung und Hilfen für Großbritannien konzentriert war, zu blockieren - eine elementare Voraussetzung für den wirkmächtigen Eintritt der USA in den Krieg ein Jahr später, in dessen weiteren Verlauf die Republicans ebenfalls Posten in der Regierung übernehmen und Roosevelt nach besten Kräften unterstützten.
Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil sie als Illustration eines Problems dient, das Demokratien immer plagt. Es handelt sich um die Frage, ob die Opposition - die es in jeder Demokratie geben muss - ein loyale Opposition ist. Was ist mit dem Begriff gemeint? Offensichtlich geht es nicht um Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung. Der ganze Witz an einer Opposition ist ja, dass sie die geplanten Maßnahmen der Regierung opponiert. Eine loyale Opposition ist eine, die das grundsätzliche Funktionieren des Staatswesens in ihre Handlungen und Reden einbezieht.
Die beschriebenen Beispiele Frankreichs und Großbritanniens 1939 sind daher sehr erleuchtend. Frankreichs Regierung besaß 1939 KEINE loyale Opposition. Stattdessen hintertrieb sie die Bemühungen der Regierung um die Stütze des Staates nach Kräften und nutzte, und das ist für die Diskussion hier entscheidend, ihre institutionellen Hebel aus, um die Krisenlösungen der Regierung zu blockieren. Erneut, es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass es nicht um reine Zustimmung geht. Die Republicans hatten genug an Roosevelts konkreten Maßnahmen auszusetzen und machten da keinen Hehl daraus und Labour kritisierte Churchill vehement. Was sie nicht taten, anders als Daladier in Frankreich (oder die Kommunisten und Rechten) war, die Bemühungen der Regierung um eine Lösung der Krise aktiv zu sabotieren, ohne derweil eine eigene Lösung anbieten zu können.
Dieser Gedanke bestimmt etwa auch die deutsche Einrichtung des "konstruktiven Misstrauensvotums": ein Kanzler kann nur dann gestürzt werden, wenn die Opposition in der Lage ist, konstruktiv eine Alternative zu bieten. Eine reine Sabotage der Regierung ist im heutigen deutschen System, anders als in Weimar - das offensichtlich und berühmterweise für seine disloyale Opposition bekannt ist - nicht möglich.
Dass die BRD eine loyale Opposition hat, ist auch einer unserer größten Vorteile in der heutigen Zeit. Man denke nur einmal an die Finanzkrise von 2008/2009 zurück. Was auch immer man von den tatsächlichen Krisenbewältigungsmaßahmen der damals regierenden Großen Koalition hielt, weder FDP, noch LINKE, noch Grüne versuchten, diese Maßnahmen aktiv zu behindern. Stattdessen kritisierten sie sie auf Basis ihrer jeweiligen alternativen Vorschläge, sei dies eine Stärkung von Marktkräften und das Vermeiden von Marktverzerrungen seits der FDP oder die Forderung, die verantwortlichen Banker zur Rechenschaft zu ziehen und die Investmentsparte stark zu beschneiden seitens der LINKEn. Keine der Seiten war damit glücklich, was Peer Steinbrück tat, aber sie versuchten nicht, ihn davon abzuhalten, denn ihre jeweiligen Alternativen konnten sie nicht durchsetzen, und in einer Krisensituation reine destruktive Sabotage zu betreiben, wäre eben keine loyale Opposition. Es wäre Schaden am Gesamtsystem der Gesellschaft anzurichten.
Man vergleiche das nur mit der Reaktion auf die Krise in den USA. Als die Finanzkrise dort 2008 voll durchschlug, arbeiteten die Democrats eng mit George W. Bush zusammen, und als Obama die Wahl im November 2008 gewann, kooperierte die geschäftsführende Bush-Regierung aufs Engste mit dem President-Elect. Es war nach dem 19. Januar 2009, als Mitch McConnell und John Boehner die Oppositionsführung übernahmen, dass die Republicans aufhörten, eine loyale Opposition zu sein und versuchten, die Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise aktiv in dem Wissen zu verhindern, dass die Wähler Obama dafür verantwortlich machen würden. Demokratische Parteien tun so etwas nicht, sonst sind sie keine loyale Opposition, und eine loyale Opposition ist die Grundbedingung für das Funktionieren einer Demokratie, besonders in Zeiten der Krise. Man kontrastiere das republikanische Verhalten in den Krisen der Obama-Ära mit der Reaktion der Democrats auf 9/11! Dass die republikanische Strategie 2009 nicht weit reichende Schäden anrichtete lag nur daran, dass die Democrats eine 60-Stimmen-Mehrheit im Senat besaßen und für einige wertvolle Monaten nicht darauf angewiesen waren, dass ihr Gegenpart eine demokratische, loyale Opposition war - eine Bedingung, die bereits Ende 2009 durch den Tod Ted Kennedys nicht mehr gegeben war. Ein anderes positives Beispiel, über das ich im Blog schon geschrieben habe, ist Frankreich 2017, wo der konservative Parteichef Fillon sich hinter Macron stellt, anstatt Le Pen zu unterstützen - auch wenn seine Partei vom Sieg letzterer möglicherweise kurzfristig mehr profitieren hätte können.
Auch heute sind daher gerade die Demokratien gefährdet, in denen eine loyale Opposition nicht angenommen werden kann. In Deutschland ist die Lage trotz der Verwerfungen durch den Aufstieg der AfD auch deswegen stabil, weil sich eine Bundesregierung - ob Jamaika oder Schwarz-Rot - darauf verlassen kann, dass ihre jeweilige Opposition dem Staatswesen als Ganzem gegenüber loyal gegenüberstellt und country over party stellt. In den USA ist das aktuell auch der Fall - die Trump-Regierung und der republikanisch dominierte Kongress können sich benehmen wie der Elefant im Porzellanladen weil sie sich darauf verlassen können, dass die Democrats im Zweifel lieber die nächste Wahl verlieren als das Gemeinwesen zerstören würden, eine Annahme, an die sich die Republicans dezidiert nicht halten. Aber schon jetzt nehmen bei den Democrats die Stimmen derer zu die fordern, diese loyale Oppositionsrolle aufzugeben - mit unabsehbaren Konsequenzen. Ähnlich ist die Lage in Großbritannien, wo Tories und Labour einander nicht zu Unrecht misstrauen. Glaubt jemand, dass Boris Johnson eine loyale Opposition zu einem Premier Corbyn darstellen würde? Oder dass auf Corbyn Verlass wäre, wenn Theresa May in eine außenpolitische Krise rutscht?
Natürlich gibt es auch die andere Seite der Medaille. Ich habe im Artikel mehrfach betont, dass eine loyale Opposition nicht eine ist, die alle Maßnahmen der Regierung kritiklos mitträgt. Sie ist nur eine, die keine aktive Sabotage betreibt. Eine Opposition, die ihre Oppositionsrolle - eine Regierung im Wartestand zu bilden - nicht wahrnimmt, verletzt ihre demokratischen Pflichten natürlich ebenso. Das ist ein Vorwurf, den sich etwa die SPD vor die Tür legen lassen muss. Wenn ihr neuer Finanzminister Olaf Scholz es etwa als stolze Auszeichnung betrachtet, nichts von seinem Vorgänger im Amt Wolfgang Schäuble ändern zu wollen, dann muss man sich fragen, warum die SPD eigentlich so hart gekämpft hat, das Ministerium überhaupt zu übernehmen. Bietet eine Opposition keine Alternative, oder ist sie gar nicht bereit, die Regierungsverantwortung zu übernehmen, dann gefährdet sie die Demokratie ebenso. Erforderlich ist für demokratische Parteien daher ein Seiltanz zwischen diesen beiden Extremen. Das ist extrem schwierig, aber niemand hat je behauptet, Demokratie sei einfach.
Frankreich war von den Wirren der Weltwirtschaftskrise ähnlich stark erschüttert wie Deutschland und litt immer noch unter den Verheerungen des Ersten Weltkriegs. Die Vorstellung, mit der leidenden Wirtschaft auch noch ein militärisches Aufrüstungsprogramm finanzieren zu müssen, das zudem im Kriegsfall wieder zu gewaltigen Zerstörungen und Verlusten führen würde, war der Republik verständerlicherweise ein Graus (der deutschen Bevölkerung auch, aber die wurde nicht gefragt). Dazu kam ein Verhältniswahlrecht, das ähnlich wie in der Weimarer Republik zu einer starken Zersplitterung der Parteienlandschaft führte. Der Vergleich mit Weimar ist auch instruktiv, denn in Frankreich gab es ebenfalls eine große nicht-demokratische Linke (die Kommunisten) und Rechte (die Autoritären). Anders als in Deutschland allerdings brach die Demokratie nicht zusammen; stattdessen erhielt die kommunistische Partei von Moskau die Erlaubnis, von der These des "Sozialfaschismus" abzuweichen und mit den Sozialdemokraten und Bürgerlichen zusammenzuarbeiten, nachdem in Deutschland die KPD unter der Verfolgung der Nazis völlig zerstört wurde. Das schuf die Grundlage dafür, dass Léon Blum 1936/37 eine "Volksfront"-Regierung bilden konnte, praktisch ein Allparteienbündnis.
Innerhalb dieses Bündnisses kam es allerdings zu keiner vertrauensvollen Zusammenarbeit. Weder links noch rechts waren ernsthaft an Kooperation interessiert, sondern versuchten ihre jeweiligen Ministerien für ihre Zwecke zu nutzen (vor allem zur Mobilisierung von Anhängern) und die staatlichen Institutionen zu nutzen, um ihren Gegnern aktiv zu schaden. Gleichzeitig durchsetzte dieser Parteienkampf auch andere Institutionen wie das Militär. Ein besonders folgenschwerer Fall war der französische Oberbefehlshaber Gamelin: nicht nur legte er sich unflexibel auf die Maginot-Verteidigungsstrategie fest, die Frankreich Unsummen kostete und wenig zur tatsächlichen Sicherheit beitrug, obwohl Experten und Verbündete (Großbritannien) ihn bestürmten davon abzuweichen; er war, wie sich nach Kriegsausbruch zeigen sollte, auch noch ein Defätist und verlor wiederholt die Nerven, was maßgeblich zu der schnellen französischen Niederlage beitrug.
Nun war diese Inkompetenz Gamelins keine Unbekannte. Der Nachfolger Blums jedoch, der Sozialdemokrat Édouard Daladier, war politisch mit Gamelin verbunden und stellte sich schützend vor den General. Es war Gamelin, der trotz Warnungen seiner Geheimdienste die offene Flanke in den Ardennen ignorierte. Als die Wehrmacht die französischen Linien durchbrach und begann, die Flanke der Alliierten aufzurollen, versank der Generalstab in Untätigkeit und Defätismus. Als Daladier zurücktrat und durch Paul Reynaud ersetzt wurde, verhinderte Daladier weiterhin, dass Gamelin - und andere offensichtlich für die Krisensituation ungeeignetes Führungspersonal - duch Fähiges ersetzt wurde, weil dies seine persönliche Machtbasis beschädigt hätte. Die französische Rechte indessen drang, entgegen Reynauds Versuchen einer Stabilisierung der Front, auf einen sofortigen Waffenstillstand mit den Deutschen, um im Anschluss ein autoritäres Frankreich aufbauen zu können - wie es im Vichy-Rumpfstaat unter Philippe Pétain ja dann auch geschah. Um es kurz zu machen: die Strömungen der französischen Innenpolitik liefen gegeneinander und lähmten das Land, blockierten seine Funktionen und sorgten in der tiefsten Krise dafür, dass offensichtliche und essenzielle Maßnahmen nicht getroffen wurden. Das Resultat war der schmähliche Zusammenbruch Frankreichs nach nur sechs Wochen und der Durchmarsch der Nazis.
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals indessen bot sich das gegenteilige Bild. Die konservative Regierung unter Neville Chamberlain hatte zwar erst spät erkannt, welche Schritte notwendig waren, traf diese dann aber mit großer Entschlossenheit und unter Einbindung der inner- und außerparteilichen Opposition: Chamberlain holte seinen innerparteilichen Konkurrenten Winston Churchill, der ihn seit Jahren heftig für die Appeasement-Politik kritisiert und Aufrüstung gefordert hatte, ins Kabinett und gab ihm weitreichende Kompetenzen. Gleichzeitig gingen er auf die Abgeordneten der Labour Party zu und hielt sie über de Prozesse auf dem Laufenden, die zur britischen Kriegserklärung am 2. September führen würden. Dass es überhaupt einen Tag dauerte, bis diese erfolgte (Deutschland griff Polen am 1. September an) lag an den Franzosen, wo Gamelin und die Rechten die Regierung auszubremsen versuchten (und die französische Kriegserklärung auch bis zum 3. September verzögerten). Die britische Regierung wurde umgebildet und beinhaltete nun auch Labour-Minister, die umfänglich in die Kriegsprozesse eingebunden wurden.
Nach dem Zusammenbruch der französischen Armee trat Chamberlain zurück. Sein bevorzugter Nachfolger wäre Außenminister Halifax gewesen. Dieser jedoch zweifelte daran, dass er als Premierminister kompetent war und sah seine Rolle eher als starker Mann der zweiten Rolle. Obwohl weder Chamberlain noch Halifax große Fans Churchills waren, erkannten sie dessen grundsätzliche Qualitäten in einer Krisensituation wie dieser. Churchill, der über keine eigene Machtbasis im Parlament verfügte, wurde Premierminister. Durch den gesamten Krieg hindurch zogen die Mitglieder der britischen Regierung, unabhängig von ihren parteilichen Präferenzen und persönlichen Gegensätzen, am selben Strang. Personal, das sich als inkompetent herausstellte (und davon hatten die Briten eine ganze Menge) wurde zugunsten besserer Kommandeure gefeuert. Es war diese Einheit der britischen Demokratie, die eine notwendige Bedingung für den späteren Sieg war.
Ähnlich war es übrigens auch in den USA. Hier arbeiteten die Republicans sehr eng mit den Democrats zusammen. Im Wahlkampf 1940 vermied es der republikanische Kandidat Wilkie, der Versuchung nachzugeben und Roosevelts zunehmend offensivere Außenpolitik, die auf Aufrüstung und Hilfen für Großbritannien konzentriert war, zu blockieren - eine elementare Voraussetzung für den wirkmächtigen Eintritt der USA in den Krieg ein Jahr später, in dessen weiteren Verlauf die Republicans ebenfalls Posten in der Regierung übernehmen und Roosevelt nach besten Kräften unterstützten.
Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil sie als Illustration eines Problems dient, das Demokratien immer plagt. Es handelt sich um die Frage, ob die Opposition - die es in jeder Demokratie geben muss - ein loyale Opposition ist. Was ist mit dem Begriff gemeint? Offensichtlich geht es nicht um Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung. Der ganze Witz an einer Opposition ist ja, dass sie die geplanten Maßnahmen der Regierung opponiert. Eine loyale Opposition ist eine, die das grundsätzliche Funktionieren des Staatswesens in ihre Handlungen und Reden einbezieht.
Die beschriebenen Beispiele Frankreichs und Großbritanniens 1939 sind daher sehr erleuchtend. Frankreichs Regierung besaß 1939 KEINE loyale Opposition. Stattdessen hintertrieb sie die Bemühungen der Regierung um die Stütze des Staates nach Kräften und nutzte, und das ist für die Diskussion hier entscheidend, ihre institutionellen Hebel aus, um die Krisenlösungen der Regierung zu blockieren. Erneut, es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass es nicht um reine Zustimmung geht. Die Republicans hatten genug an Roosevelts konkreten Maßnahmen auszusetzen und machten da keinen Hehl daraus und Labour kritisierte Churchill vehement. Was sie nicht taten, anders als Daladier in Frankreich (oder die Kommunisten und Rechten) war, die Bemühungen der Regierung um eine Lösung der Krise aktiv zu sabotieren, ohne derweil eine eigene Lösung anbieten zu können.
Dieser Gedanke bestimmt etwa auch die deutsche Einrichtung des "konstruktiven Misstrauensvotums": ein Kanzler kann nur dann gestürzt werden, wenn die Opposition in der Lage ist, konstruktiv eine Alternative zu bieten. Eine reine Sabotage der Regierung ist im heutigen deutschen System, anders als in Weimar - das offensichtlich und berühmterweise für seine disloyale Opposition bekannt ist - nicht möglich.
Dass die BRD eine loyale Opposition hat, ist auch einer unserer größten Vorteile in der heutigen Zeit. Man denke nur einmal an die Finanzkrise von 2008/2009 zurück. Was auch immer man von den tatsächlichen Krisenbewältigungsmaßahmen der damals regierenden Großen Koalition hielt, weder FDP, noch LINKE, noch Grüne versuchten, diese Maßnahmen aktiv zu behindern. Stattdessen kritisierten sie sie auf Basis ihrer jeweiligen alternativen Vorschläge, sei dies eine Stärkung von Marktkräften und das Vermeiden von Marktverzerrungen seits der FDP oder die Forderung, die verantwortlichen Banker zur Rechenschaft zu ziehen und die Investmentsparte stark zu beschneiden seitens der LINKEn. Keine der Seiten war damit glücklich, was Peer Steinbrück tat, aber sie versuchten nicht, ihn davon abzuhalten, denn ihre jeweiligen Alternativen konnten sie nicht durchsetzen, und in einer Krisensituation reine destruktive Sabotage zu betreiben, wäre eben keine loyale Opposition. Es wäre Schaden am Gesamtsystem der Gesellschaft anzurichten.
Man vergleiche das nur mit der Reaktion auf die Krise in den USA. Als die Finanzkrise dort 2008 voll durchschlug, arbeiteten die Democrats eng mit George W. Bush zusammen, und als Obama die Wahl im November 2008 gewann, kooperierte die geschäftsführende Bush-Regierung aufs Engste mit dem President-Elect. Es war nach dem 19. Januar 2009, als Mitch McConnell und John Boehner die Oppositionsführung übernahmen, dass die Republicans aufhörten, eine loyale Opposition zu sein und versuchten, die Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise aktiv in dem Wissen zu verhindern, dass die Wähler Obama dafür verantwortlich machen würden. Demokratische Parteien tun so etwas nicht, sonst sind sie keine loyale Opposition, und eine loyale Opposition ist die Grundbedingung für das Funktionieren einer Demokratie, besonders in Zeiten der Krise. Man kontrastiere das republikanische Verhalten in den Krisen der Obama-Ära mit der Reaktion der Democrats auf 9/11! Dass die republikanische Strategie 2009 nicht weit reichende Schäden anrichtete lag nur daran, dass die Democrats eine 60-Stimmen-Mehrheit im Senat besaßen und für einige wertvolle Monaten nicht darauf angewiesen waren, dass ihr Gegenpart eine demokratische, loyale Opposition war - eine Bedingung, die bereits Ende 2009 durch den Tod Ted Kennedys nicht mehr gegeben war. Ein anderes positives Beispiel, über das ich im Blog schon geschrieben habe, ist Frankreich 2017, wo der konservative Parteichef Fillon sich hinter Macron stellt, anstatt Le Pen zu unterstützen - auch wenn seine Partei vom Sieg letzterer möglicherweise kurzfristig mehr profitieren hätte können.
Auch heute sind daher gerade die Demokratien gefährdet, in denen eine loyale Opposition nicht angenommen werden kann. In Deutschland ist die Lage trotz der Verwerfungen durch den Aufstieg der AfD auch deswegen stabil, weil sich eine Bundesregierung - ob Jamaika oder Schwarz-Rot - darauf verlassen kann, dass ihre jeweilige Opposition dem Staatswesen als Ganzem gegenüber loyal gegenüberstellt und country over party stellt. In den USA ist das aktuell auch der Fall - die Trump-Regierung und der republikanisch dominierte Kongress können sich benehmen wie der Elefant im Porzellanladen weil sie sich darauf verlassen können, dass die Democrats im Zweifel lieber die nächste Wahl verlieren als das Gemeinwesen zerstören würden, eine Annahme, an die sich die Republicans dezidiert nicht halten. Aber schon jetzt nehmen bei den Democrats die Stimmen derer zu die fordern, diese loyale Oppositionsrolle aufzugeben - mit unabsehbaren Konsequenzen. Ähnlich ist die Lage in Großbritannien, wo Tories und Labour einander nicht zu Unrecht misstrauen. Glaubt jemand, dass Boris Johnson eine loyale Opposition zu einem Premier Corbyn darstellen würde? Oder dass auf Corbyn Verlass wäre, wenn Theresa May in eine außenpolitische Krise rutscht?
Natürlich gibt es auch die andere Seite der Medaille. Ich habe im Artikel mehrfach betont, dass eine loyale Opposition nicht eine ist, die alle Maßnahmen der Regierung kritiklos mitträgt. Sie ist nur eine, die keine aktive Sabotage betreibt. Eine Opposition, die ihre Oppositionsrolle - eine Regierung im Wartestand zu bilden - nicht wahrnimmt, verletzt ihre demokratischen Pflichten natürlich ebenso. Das ist ein Vorwurf, den sich etwa die SPD vor die Tür legen lassen muss. Wenn ihr neuer Finanzminister Olaf Scholz es etwa als stolze Auszeichnung betrachtet, nichts von seinem Vorgänger im Amt Wolfgang Schäuble ändern zu wollen, dann muss man sich fragen, warum die SPD eigentlich so hart gekämpft hat, das Ministerium überhaupt zu übernehmen. Bietet eine Opposition keine Alternative, oder ist sie gar nicht bereit, die Regierungsverantwortung zu übernehmen, dann gefährdet sie die Demokratie ebenso. Erforderlich ist für demokratische Parteien daher ein Seiltanz zwischen diesen beiden Extremen. Das ist extrem schwierig, aber niemand hat je behauptet, Demokratie sei einfach.
Freitag, 23. Februar 2018
Unbewältigte Vergangenheit in Polen
Polen erlebt seit den letzten Wochen eine ungeheur aufgeladene Debatte über seine Rolle im Holocaust. Hintergrund ist ein Gesetz, das von der rechtsradikalen Regierung verabschiedet wurde und unter Strafe stellt, die nationalsozialistischen Vernichtungslager "polnische Lager" zu nennen. Ist hier nur die Sensibilität der Polen (nicht zu Unrecht) berührt, wird das Gesetz problematisch, wo es darüber hinausgeht. Unter Strafe gestellt wird nämlich auch zu erklären, dass Polen am Holocaust beteiligt waren - und das ist nachweislich der Fall. Nicht als Massenphänomen, selbstverständlich, aber es kam vor. Und wie in ganz Osteuropa gab (und gibt) es auch in Polen einen virulenten Antisemitismus. Und über alledem darf man nicht vergessen, dass die Polen selbst ein Hauptopfer der Nationalsozialisten waren. Das Thema insgesamt ist also hoch komplex und auf vielerlei Ebenen problematisch.
Zuerst die historischen Fakten. Vom ersten Tag des nationalsozialistischen Aggressionskriegs gegen die Polen verübten die Wehrmacht und die ihr nachfolgende SS Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung. Bevorzugt wandte sie sich hier gegen die Juden, vollzog aber bereits den Plan, die polnische Elite - Politiker, Lehrer, andere Intellektuelle, Wirtschaftler, etc. - zu ermorden, um sich ein Helotenvolk als billige Arbeitskräfte herzustellen. Nach der polnischen Kapitulation wurde Polen dreigeteilt: ein Teil wurde direkt ins Deutsche Reiche annektiert und die polnische Bevölkerung von dort vertrieben, ein Teil als "Generalgouvernment" in einen besetzten polnischen Rumpfstaat verwandelt und ein letzter Teil ("Warthegau") in eine rechtlose Zone verwandelt, die praktisch ausschließlich von der SS verwaltet wurde, die hier die Keimzelle ihres in den folgenden Kriegsjahren auswuchernden SS-Staats schaffte.
Ähnliche Probleme treten auch in Ungarn oder Rumänien auf. In Ungarn weigerte sich die Regierung stets, im Holocaust zu helfen. Als das Land 1944 die Seiten wechselte und von den Nationalsozialisten besetzt wurde, ermordeten diese in einer beispiellosen logistischen Großaktion innerhalb weniger Wochen praktisch alle ungarischen Juden. Die Frage, ob sich dieser Mord gegen Ungarn richtete oder gegen Juden, erhitzt im Land bis heute die Gemüter. Rumänien seinerseits nahm auch kaum am Holocaust teil, startete aber seinen eigenen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden, von dem es heute wenig wissen will.
Nun sind wir als Deutsche in einer einzigartigen schlechten Situation, diesen Ländern zu erklären, wie sie ihrer Rolle im Holocaust zu gedenken haben. Zwar ist die deutsche Aufarbeitung der Verbrechen, ungeachtet all ihrer Schwächen und Fehlleistungen, tatsächlich beispiellos. Aber gleichzeitig befinden wir uns hier immer auf dünnem Eis. Dazu kommt, dass wir dieses Problem in Deutschland ebenfalls haben. Allzuoft nämlich werden die jüdischen Opfer hier nur als "Juden" gesehen, nicht als Deutsche. Man erkennt ihnen einen Teil ihrer Identität ab und macht sie zu Ausländern und Außenstehenden, was paradoxerweise immer das Ziel der Nationalsozialisten gewesen ist.
Es zeigt sich also, dass die Vergangenheitspolitik gerade im Bezug zum Holocaust extrem problembeladen und vielschichtig ist. Per Gesetz eine offzielle Vergangenheit festlegen zu wollen ist dabei sicher der falsche Weg, weswegen das Verbot der Holocaustleugnung, das EU-weit gilt, auch so umstritten ist, obwohl es sein faktischer Kern nicht ist. Bei allem berechtigten Anspruch der Polen auf eine Anerkennung ihres Leidens im Zweiten Weltkrieg sollte man der Regierung daher in ihrem Ansinnen widersprechen. Die geschichtliche Version, die sie per Dekret allgemeinverbindlich zu machen versucht, ist nicht nur grob vereinfachend, sondern irreführend. Dass genau das das Ziel des Gesetzes ist, macht es umso schlimmer.
Zuerst die historischen Fakten. Vom ersten Tag des nationalsozialistischen Aggressionskriegs gegen die Polen verübten die Wehrmacht und die ihr nachfolgende SS Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung. Bevorzugt wandte sie sich hier gegen die Juden, vollzog aber bereits den Plan, die polnische Elite - Politiker, Lehrer, andere Intellektuelle, Wirtschaftler, etc. - zu ermorden, um sich ein Helotenvolk als billige Arbeitskräfte herzustellen. Nach der polnischen Kapitulation wurde Polen dreigeteilt: ein Teil wurde direkt ins Deutsche Reiche annektiert und die polnische Bevölkerung von dort vertrieben, ein Teil als "Generalgouvernment" in einen besetzten polnischen Rumpfstaat verwandelt und ein letzter Teil ("Warthegau") in eine rechtlose Zone verwandelt, die praktisch ausschließlich von der SS verwaltet wurde, die hier die Keimzelle ihres in den folgenden Kriegsjahren auswuchernden SS-Staats schaffte.
Die Ermordnung der polnischen Elite ging planmäßig weiter, trat allerdings gegenüber der Ermordung der polnischen Juden - von denen es immerhin fast drei Millionen gab - etwas in den Hintergrund und wurde deswegen nie komplett abgeschlossen; eine Rolle spielte auch, dass man genau diese Elite paradoxerweise benötigte, um das besetzte Land zu verwalten. Allein aus diesen Notwendigkeiten ergeben sich auch zwangsläufig Schnittstellen in der Kollaboration, wie dies in jedem besetzten Land der Fall war. Die Juden wurden erst in die Ghettos deportiert - abgeschlossene und isolierte Bereiche in polnischen Städten wie Krakau oder Warschau -, wo sie zu tausenden an Hunger und Seuchen starben.
Als 1942 die "Endlösung" beschlossen wurde, bauten die Nationalsozialisten die Vernichtungslager - Konzentrationslager gab es seit 1933 überall in deutsch dominiertem Gebiet - in der rechtlosen Zone der Warthegau. Das war ein bewusster Akt; man hielt sie damit nicht nur aus der Jurisdiktion der normalen deutschen Institutionen heraus (die dann später behaupten konnten, von nichts gewusst zu haben), sondern auch aus Polen. Im rechtlichen Konstrukt der Nationalsozialisten standen die Vernichtungslager in einem staatenlosen Raum. Allein deswegen ist die Bezeichnung "polnische Lager" auch falsch und irreführend. Nicht einmal die Nationalsozialisten selbst hätten diese Bezeichnung verwendet.
Im Rahmen des Holocausts - vor allem bevor er industriell in der "Endlösung" organisiert wurde - gab es immer wieder Kooperation von Polen (wie in jedem anderen Land auch), die teilweise proaktiv die Sache selbst in die Hand nahmen. Dies war allerdings weder planmäßig noch sonderlich weit verbreitet; für jedes Beispiel von Polen, die Juden ermordeten, gab es auch Beispiele von Polen, die Juden versteckten und schützten (auch hier wie in jedem anderen Land).
Damit kommen wir zurück zur politischen Situation von heute. Im Zweiten Weltkrieg wurden rund 5,65 Millionen Polen von den Nationalsozialisten ermordet (darunter drei Millionen Juden). Das entspricht immerhin knapp 20% der Bevölkerung, ein Anteil, der von kaum einem anderen Land erreicht wurde. Dazu kamen Vertreibungen und weitere 45 Jahre kommunistischer Diktatur. Während dieser gesamten Zeit weigerte sich die Bundesrepublik Deutschland zudem, die Grenzen von 1945 anzuerkennen und behielt sich immer die Möglichkeit offen, diese noch zu ändern (immerhin schloss die sozialliberale Koalition im Grundlagenvertrag 1971 Gewalt aus). Das Thema ist von daher in Polen äußerst sensibel, besonders wo Deutschland involviert ist.
Für Polen ist seine Opferrolle im Zweiten Weltkrieg ein Grundbaustein der nationalen Identität. Im offiziellen Narrativ waren die Polen dabei alle und ausschließlich Opfer. Hoch gehalten wird zudem die Erinnerung an den Widerstand, etwa den Warschauer Aufstand 1944 oder die Exilpolen, die in der alliierten Armee kämpften (und sich etwa in der Luftschlacht um England, der Invasion Frankreichs oder der Schlacht um Monte Cassino verdient machten).
Kompliziert wird die Erinnerung Polens, wo der Holocaust betroffen ist. Polens offizielle Erinnerung macht nämlich keinen Unterschied zwischen Juden und Polen. Was grundsätzlich erst einmal gut ist - zu viele andere Länder konstruieren eine Art jüdischer Nationalität und machten ihre eigenen jüdischen Opfer effektiv zu Ausländern - wird dadurch problematisch, dass Polen den Holocaust zu einem Mord an den Polen insgesamt macht und bewusst die Grenzen verwischt. Die offizielle polnische Erinnerung erkennt den jüdischen Opfern ihren speziellen Status durch die Shoa effektiv ab. Wenn der Holocaust sich aber gegen die Juden als ganzes richtet, kann es auch keine polnischen Kollaborateure geben. Demzufolge trägt Deutschland die alleinige Schuld.
Die polnische Regierung verfolgt daher das Bestreben, den Holocaust zu einer Mordaktion gegen Polen umzudefinieren. In diesem Kontext wird die absurd erscheinende Äußerung des polnischen Kultusministers Jaroslaw Sellin verständlicher, ein Museum für den "Polocaust" einrichten zu wollen. Denn die Polen waren tatsächlich Opfer einer nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Ihr Bestreben, dies anzuerkennen, ist daher ebenso berechtigt wie ihre Exklusion beziehungsweise Vereinnahmung der jüdischen Opfer problematisch ist.
Ähnliche Probleme treten auch in Ungarn oder Rumänien auf. In Ungarn weigerte sich die Regierung stets, im Holocaust zu helfen. Als das Land 1944 die Seiten wechselte und von den Nationalsozialisten besetzt wurde, ermordeten diese in einer beispiellosen logistischen Großaktion innerhalb weniger Wochen praktisch alle ungarischen Juden. Die Frage, ob sich dieser Mord gegen Ungarn richtete oder gegen Juden, erhitzt im Land bis heute die Gemüter. Rumänien seinerseits nahm auch kaum am Holocaust teil, startete aber seinen eigenen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden, von dem es heute wenig wissen will.
Nun sind wir als Deutsche in einer einzigartigen schlechten Situation, diesen Ländern zu erklären, wie sie ihrer Rolle im Holocaust zu gedenken haben. Zwar ist die deutsche Aufarbeitung der Verbrechen, ungeachtet all ihrer Schwächen und Fehlleistungen, tatsächlich beispiellos. Aber gleichzeitig befinden wir uns hier immer auf dünnem Eis. Dazu kommt, dass wir dieses Problem in Deutschland ebenfalls haben. Allzuoft nämlich werden die jüdischen Opfer hier nur als "Juden" gesehen, nicht als Deutsche. Man erkennt ihnen einen Teil ihrer Identität ab und macht sie zu Ausländern und Außenstehenden, was paradoxerweise immer das Ziel der Nationalsozialisten gewesen ist.
Es zeigt sich also, dass die Vergangenheitspolitik gerade im Bezug zum Holocaust extrem problembeladen und vielschichtig ist. Per Gesetz eine offzielle Vergangenheit festlegen zu wollen ist dabei sicher der falsche Weg, weswegen das Verbot der Holocaustleugnung, das EU-weit gilt, auch so umstritten ist, obwohl es sein faktischer Kern nicht ist. Bei allem berechtigten Anspruch der Polen auf eine Anerkennung ihres Leidens im Zweiten Weltkrieg sollte man der Regierung daher in ihrem Ansinnen widersprechen. Die geschichtliche Version, die sie per Dekret allgemeinverbindlich zu machen versucht, ist nicht nur grob vereinfachend, sondern irreführend. Dass genau das das Ziel des Gesetzes ist, macht es umso schlimmer.
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