Donnerstag, 28. April 2022

Rezension: Hannah Brinkmann - Gegen mein Gewissen

 

Hannah Brinkmann - Gegen mein Gewissen

Die Wiedereinführung der Wehrpflicht führte in den 1950er Jahren, zusammen mit der Debatte um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, zu den ersten großen Protesten der Bundesrepublik ("Ohnemich-Bewegung"). Begründet wurde die Einführung unter andem absurderweise mit dem Argument, dass das Recht auf Wehrdienstverweigerung, das im Grundgesetz festgeschrieben war, die Einführung der Wehrpflicht quasi bedinge. Ungeachtet solcher juristischen Spitzfindigkeiten sprachen handfeste außenpolitische Gründe dafür, und so kam die Wehrpflicht 1956. Das Recht auf Verweigerung dagegen blieb ein weitgehend theoretisches. Wie die Entscheidung gegen den Wehrdienst selbst in den 1970er Jahren zu massiven Repressionsmaßnahmen und Tragödien führte, zeigt Hannah Brinkmann in dieser als Comic illustrierten Familiengeschichte ihres Onkels Herrmann auf.

Mittwoch, 27. April 2022

Rezension: Bill Bryson - At home. A short history of private life

 

Bill Bryson - At home. A short history of private life

Was ist eigentlich die Geschichte des Esstischs? Wie kommt es, dass wir einen Keller haben? Seit wann gibt es Toiletten? Und weshalb sind Schlafzimmer ein so privater Raum? Bill Bryson stellt alle diese Fragen (und viele mehr) und begibt sich auf eine Tour durch sein eigenes Haus, um anhand der verschiedenen Räume eine Geschichte des Alltags und des Privatlebens aufzuschreiben. Das Haus, das er mit seiner Familie in Norfolk bewohnt, dient ihm so als Absprungpunkt für die verschiedensten Themen und strukturiert das Buch auch gleich durch - von dem Grund und Boden, auf dem es steht zum Keller und bis hinauf zum Dach.

Den Beginn macht der Grund und Boden selbst. Brysons Haus ist ein ehemaliges Pfarrhaus, einst Zentrum des parishs. Um dessen Ursprüngen nachzuspüren geht er bis zur Invasion der Normannen zurück, die das heutige England überhaupt erst erkennbar geschaffen haben, und erläutert im Folgenden das Phänomen der ländlichen Pfarrer der Kirche von England in der Neuzeit. Diese Posten wurden an Mitglieder des Bürgertums vergeben, die dafür keine besonderen Qualitäten mitbrachten und sich oftmals wenig um ihren eigentlichen Job kümmerten. Das war auch nicht nötig, denn sie wurden durch eine prozentuale Abgabe auf landwirtschaftliche Erzeugnisse bezahlt - von der sie fürstlich leben und ihren Interessen nachgehen konnten.

Diese Interessen waren weitläufig. Bryson erzählt von Pfarrern, die naturwissenschaftliche Experimente machen, von Malern, von Musikern und Literaten. Das Ausmaß an wohlhabender Freizeit, das ihre formale Anstellung ihnen auf Kosten der ausgeplünderten Landbevölkerung gewährte, war beeindruckend - und führte zu weitläufigen Privathäusern. Eines von diesen bewohnt heutzutage Bryson. Es lebt dort kein Pfarrer mehr, weil die Industrielle Revolution die Einkommen der Bauern massiv fallen ließ - und damit auch die der Pfarrer. Landpfarrer ist heutzutage ein armer Beruf, den kaum mehr jemand freiwillig ergreift, und dazu wird auch noch erwartet, dass er wirklich ausgeübt wird. Horrible times.

Beeindruckend ist auch, wie exzessiv der bürgerliche Alltag der Neuzeit auf Heerscharen von Bediensteten beruhte. Der Mangel an Haushaltsgeräten sorgte dafür, dass Hausarbeit unglaublich arbeitsintensiv war. Diese Arbeit wurde von den Bürgerinnen nicht erbracht (von den Bürgern sowieso nicht!), weswegen sie der breiten, ausgebeuteten Unterschicht zufiel. Diese Dienstverhältnisse wiesen eine gewaltige Fluktuation auf (was zu der atemberaubend arroganten Angewohnheit vieler Arbeitgeber führte, die Angestellten in einer Position mit demselben Namen anzureden, um keine neuen lernen zu müssen), weil die Jobs mies bezahlt und die Angestellten wie der letzte Dreck behandelt wurden.

Je weiter die Technik voranschritt und je breiter die Wohlstandsbasis in der Bevölkerung wurde, desto mehr verlagerten sich diese Arbeiten von Dienstboten weg - zumindest im Bürgertum. Der Aristokratie galt es noch lange als Standesmerkmal, so sehr, dass sie zentrale Erfindungen wie Toiletten nicht in ihren Häusern installierten, weil das nur Bürgerliche nötig hatten; sie selbst besaßen ja Dienstboten für so etwas. Es ist absolut faszinierend, wie primitiv selbst die Oberschicht vor recht kurzer Zeit noch lebte.

Am augenscheinlichsten wird dies bei der Frage der Beleuchtung. Mit zahlreichen Beispielen zeigt Bryson, dass die Menschen bis in 20. Jahrhundert in einer Dunkelheit lebten, die für uns heute unvorstellbar ist. Menschen stießen auf Treppen und Straßen aneinander, weil sie sich nicht kommen sahen; das Essen auf dem Tisch war kaum zu erkennen, Kerzen waren teuer und offene Feuerstellen wärmten die Räume kaum (ständige Kälte war ein Begleiter der Dunkelheit) und verrußten sie hauptsächlich. Erst Gaslichter (stinkend, alles verschmutzend und gefährlich) und später elektrisches Licht schufen Abhilfe und veränderten den Alltag fundamental. Überraschend ist, dass entgegen der weit verbreiteten Vorstellung die Menschen trotzdem nicht mit Sonnenuntergang ins Bett gingen, im Gegenteil. Das Dinner zog sich gerne bis weit in die Nacht (bedient von Dienstboten, of course), ebenso Arbeit, Lektüre und andere Freizeittätigkeiten.

Ähnliche Beschreibungen finden wir für alle Räume des Hauses, vom Kinderzimmer (die Kindersterblichkeit früher war schrecklich, die Kindheit ebenso) über die Küche (absolute Schwerstarbeit) zum Schlafzimmer (Ratten, Ungeziefer und unhygienische Zustände). Man erfährt pausenlos neue, spannende Anekdoten über das Leben zwischen ungefähr 1600 und 1900, und das meiste davon lässt sich auf den Nenner bringen, wie schrecklich es früher im Vergleich zu heute war, vor allem, was die Hygiene und das Ausmaß der Hausarbeit anbelangt.

Bryson betont immer wieder die Unterschiede der sozialen Klassen, dass der Großteil der Bevölkerung weder Dienstboten noch mehrere Räume zur Verfügung hatte. Aber das ändert wenig daran, dass das Buch letztlich weitgehend den Alltag der bürgerlichen Oberschicht und der Aristokratie beschreibt - großzügig 15% der Bevölkerung, tendenziell eher weniger. Die Lebensrealitäten der "other half" (nicht mathematisch) spielen eine untergeordnete Rolle. Das ist sicherlich seinem Ansatz geschuldet: er beschreibt als Mitglied der Oberschicht die Geschichte seines eigenen Lebensstils.

Aber das ist auch ein grundsätzliches Problem solcher Auseinandersetzungen. Die Lebensrealitäten der breiten Masse spielen bis heute in den Darstellungen die zweite Geige. Die irrige Vorstellung, dass Streichkonzerte und Candle-Light-Dinner repräsentative Erfahrungen der Bevölkerung der Aufklärungsepoche waren, hält sich hartnäckig, und über weite Strecken muss man Bryson gegen den Strich lesen, wenn man diesem Eindruck entkommen will.

Glücklicherweise ist das Leben des Buches selbst ein großes Vergnügen. Bryson ist nicht umsonst ein wohlhabender Bestsellerautor. Seine Sätze sind elegant, oft von feiner Ironie, und seine Struktur ist, obwohl sie einem ausgedehntem Assoziationsspaziergang gleicht, sinnvoll und lässt die Lesenden nie die Orientierung verlieren, selbst wenn das Narrativ von den Steinzeitmenschen in Stonehenge zur Einführung des Telefons springt. Im Kontext macht alles Sinn, und das ist keine Kleinigkeit.

Uneingeschränkte Empfehlung!

Montag, 25. April 2022

Rezension: Kai Brodersen - Ich bin Spartacus

 

Kai Brodersen - Ich bin Spartacus

Nach unserem letzten Ausflug in die Geschichte der Antike (mit Jörg Findlings "Kaiser von morgens bis abends") rezensiere ich hier gleich einen weiteren Band der Reihe "Geschichte erzählt". Das gerade einmal rund 80 Seiten starke Bändchen von Kai Brodersen beschäftigt sich mit einem der prominentesten Charaktere der römischen Geschichte, dem Sklavenführer Spartacus. Bekannt ist er vor allem durch die Hollywood-Verfilmung mit Kirk Douglas von 1960, deren berühmteste (wenngleich frei erfundene) Szene dem Buch auch dem Namen gegeben hat. Einem jüngeren Publikum mag die grauenhafte Blut-und-Titten-Serie "Spartacus" des Spartensender Starz ein Begriff sein, die sich dem Mythos beinahe noch freizügiger angenommen hat als Kubrick anno 1960, falls das überhaupt möglich war.

Mittwoch, 20. April 2022

Rezension: Jörg Fündling - Kaiser von morgens bis abends

 

Jörg Fündling - Kaiser von morgens bis abends

Das Leben eines römischen Kaisers ist mit Sicherheit keines, das repräsentativ für den Alltag des Römischen Reiches sein kann. Ungemein faszinierend aber ist die Frage, wie der Alltag des Manns an der Spitze ausgesehen haben könnte, natürlich dennoch. Kenner*innen der antiken Geschichte wird kaum überraschen, dass die Quellenlage eher dürftig ist, aber Jörg Fündling hat sich trotzdem an dieses - wohl nicht 100% ernstgemeinte - Experiment gewagt und versucht, eine Art "Idealtag" des Herrschers zu erstellen. Der müsste sich dafür zwar teleportieren und gelegentlich in die Transzendenz gehen, um zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten an unterschiedlichen Orten gleichzeitig zu sein, aber das wollen für das Gedankenexperiment durchgehen lassen, denn der relevante Teil ist ja eher zu sehen, wie sich diese Aufgaben verteilen, und warum. Denn wir wissen immerhin genug um feststellen zu können, dass ein römischer Alltag sich schon deutlich von unserem unterscheidet, und das nicht nur wegen des offensichtlichen technologischen Unterschieds.

Dienstag, 19. April 2022

Rezension: Michael D. Doubler - Closing with the enemy. How GIs fought the war in Europe, 1944-1945

 

Michael D. Doubler - Closing with the enemy. How GIs fought the war in Europe, 1944-1945

Der US-Armee hängt in der populären Militärgeschichte gerne der Ruf an, taktisch nicht sonderlich gut aufgestellt gewesen zu sein und mangelnde Moral und Fähigkeiten durch massiven Materialeinsatz kompensiert zu haben. Dieses Klischee, dem dann gerne eine toughe, make-do-with-little-Wehrmacht gegenübergestellt wird, ist natürlich genau das: ein Klischee. Es hält sich aber, einerseits wegen der großen erzählerischen Kraft, die es entfaltet, andererseits wegen der schmeichelhaften Wirkung für die Wehrmacht auf der einen und die Rolle des Underdogs für die GIs auf der anderen Seite, sehr dauerhaft. Es ist erstaunlich, wie unbekannt die alltägliche Realität für GIs ist, wenn man bedenkt, wie sehr der Zweite Weltkrieg in Europa aus amerikanischer Sicht die Unterhaltungsindustrie dominiert und in Filmen, Serien, Video- und Brettspielen rezipiert wird. Michael D. Doubler setzt hier an und versucht sich an einer umfassenden Gesamtdarstellung der amerikanischen Kriegsführung in Europa 1944-1945.

Mittwoch, 13. April 2022

Rezension: Michael Neiberg - Potsdam. The end of World War II and the remaking of Europe

 

Michael Neiberg - Potsdam- The end of World War II and the remaking of Europe

Als Stalin im Juni 1945 gefragt wurde, welchen Sinn die für August angesetzte Konferenz von Potsdam seiner Meinung nach habe, erklärte er: "Die Vorbereitung der nächsten Konferenz." Weder er noch irgendjemand anderes ging zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass dies das letzte Mal sein sollte, dass die alliierten Führer aufeinandertrafen. Vorher hatte bereits der Tod Franklin D. Roosevelts im April für eine starke Veränderung der alliierten Disposition gesorgt. Immerhin standen für den August selbst keine unangenehmen Überraschungen an; die Tories erwarteten in den Unterhauswahlen einen Sieg und den Ausbau der Mehrheit für Churchills Regierung. Als stattdessen ein Erdrutschsieg Labours Clement Attlee an die Macht brachte, waren die Umbrüche innerhalb des alliierten Lagers bereits gewaltig. Doch das war nichts gegen die Veränderungen, die in Europa anstanden und die in Potsdam innerhalb von siebzehn Tagen diskutiert worden - oft genug nur als Improvisorium, das sich dann als erstaunlich beständig erwies.

All dies ist Grund genug, sich tiefgehender mit der Konferenz von Potsdam zu beschäftigen. Michael Neiberg vermeidet hierbei den, wie er es ausdrückt, "an Tag X sagte Truman Y zu Stalin"-Ansatz und versucht, stattdessen ein Gesamtbild der Konferenz zu entwerfen. Entsprechend führt er zuerst in die Disposition der "Großen Drei" ein, die den Gang der Ereignisse bestimmten.Dazu gehört auch ein Rückblick auf die Konferenz von Jalta, auf der im Januar 1945 bereits wichtige Vorfestlegungen getroffen worden waren (etwa die Aufteilung in Besatzungszonen und die grundsätzliche Absichtserklärung für Demontagen, Reparationen und Umerziehung), die aber noch keine detaillierten Ergebnisse erbrachte.

Den Anfang machen in Neibergs Schilderung die USA. Hier liegt das wohl größte Mysterium der politischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs nach der Frage, warum Hitler den USA den Krieg erklärte: kaum etwas ist so erklärungsbedürftig wie die Weigerung Roosevelts, trotz seiner schweren Krankheit seinen designierten Nachfolger Harry S. Truman nicht in die Planungen einzubeziehen und komplett im Dunkeln zu lassen.

Roosevelts Gesundheitszustand war keine unbekannte Variable. Aber in einer Art kollektiver Selbsthypnose überzeugte sich sein Umfeld, dass es schon nicht so schlimm werde (und offensichtlich Roosevelt sich selbst auch), weswegen niemand bei der Auswahl des Vizepräsidenten (mit der Neiberg seine Schilderung beginnt) irgendwie groß Überlegungen einfließen ließ; Truman selbst hatte keine Ahnung, dass er die Konferenz, auf die er fuhr, als Vizepräsidentschaftskandidat verlassen würde. Entsprechend unvorbereitet war der neue amerikanische Präsident. Truman glich dies durch großen Lerneifer aus, aber seine Unerfahrenheit konnte nur negative Effekte auf die Konferenz haben.

Die amerikanischen Interessen waren recht eindeutig: eine Rückkehr zum Status Quo so schnell wie möglich. Europa sollte befriedet und für den Handel geöffnet und, vor allem, die amerikanische Armee demobilisiert werden. "Bring the boys home!" war der Slogan, dem zu entziehen kaum möglich war. Die USA besaßen hierfür ein Ass im Ärmel: die Atombombe, die in der Lage schien, die Sicherheitsinteressen der USA auch ohne riesige Militärpräsenz zu sichern.

Die oberste Priorität der USA war, die Situation nach dem Ersten Weltkrieg zu vermeiden. Damals hatten Frankreich und Großbritannien ihre gewaltigen Kriegsschulden dadurch abzubezahlen versucht, dass sie große Reparationen aus Deutschland erhielten. Deutschland aber hatte die Ressourcen dafür nicht, weswegen es auf amerikanische Kredite angewiesen waren. Effektiv finanzierten die USA damit die deutschen Reparationen - ein ziemlich dummes System. Deswegen drängten die USA darauf, die Reparationen durch eine Einmalzahlung zu erledigen und dann Deutschland wieder in die europäische Wirtschaf zu integrieren.

Daraus erklärt sich auch die hartnäckige Weigerung, Frankreich einen Sitz in der Konferenz zu geben (obwohl Amerikaner und Briten ihnen bereits aus ihren Zonen eine Besatzungszone abtraten). Das Problem von 1919, zig verschiedene Staaten mit ihren Petitionen an den Friedensverhandlungen zu beteiligen und doch nur Unmut zu schaffen, wollte man unbedingt vermeiden. Der Friedensschluss würde dieses Mal einer werden, den die "Großen Drei" unter sich verhandelten und dann Deutschland aufoktroyierten. Dass es 45 Jahre dauern sollte, bis dieser Friedensschluss dann kam, sah keiner der Beteiligten voraus.

Großbritannien dagegen sah sich einer ganz anderen Situation gegenüber. Zunehmend irrelevant im beginnenden bipolaren Zeitalter, versuchte es sein Empire und seine Stellung als Großmacht zu retten. Das war nicht leicht. Die viel beschworene "Special Relationship" mit den USA enthielt große Ausnahmen, in denen die USA tatsächlich größere Interessensüberschneidungen mit der Sowjetunion besaßen. Aber dem Vereinigten Königreich fehlte die realpolitische Unterfütterung, um seine Interessen noch durchsetzen zu können. Das Land war faktisch bankrott, substanzielle Reparationen waren nicht zu erwarten. Es brauchte also irgendeine finanzielle Hilfe der USA.

Dazu kamen innenpolitische Zerwürfnisse. Die Bevölkerung war nach Jahren des Krieges nicht mehr willig, die Tory-Politik fortzusetzen. Der Ruf nach Reformen war stärker, als es an der Oberfläche sichtbar war, und es war Labour, die man mit der Umsetzung dieser Reformen betraute. Clement Attlee hatte, während Churchill den eigentlichen Krieg geführt hatte, quasi die Innenpolitik Großbritanniens gemanagt. Selbst im Zweiten Weltkrieg bewerteten die Wähler offensichtlich die Innenpolitik als für sie wesentlich gewichtiger als die Außenpolitik; eine Konstante der demokratischen Politik. Churchill, der glaubte für den Sieg im Krieg mit einem Sieg an den Wahlurnen belohnt zu werden, wurde kalt überrascht.

Das Schlechteste war das für die Briten nicht. Zwar war das britische Verhandlungsteam, das mitten in der Konferenz nach Potsdam zurückkehrte, genauso wie Truman unerfahren. Aber Churchill, das arbeitet Neiberg gut heraus, war am Ende seiner Kräfte. Psychisch und Physisch erschöpft musste er sich immer wieder erholen, hielt ellenlange Reden ohne Bedeutung und handelte erratisch. Zudem lebte er in einer Traumwelt, losgelöst von Realitäten, und verfolgte völlig illusorische Pläne.

Beachtlich ist, und auch das ist ein gewichtiger Punkt Neibergs, dass die Wechsel von Roosevelt zu Truman und Churchill zu Attlee keine relevanten Verschiebungen in den außenpolitischen Positionen der USA und des UK bedeuteten. Das wiederum überraschte Stalin sehr. Die Kontinuität der Demokratien und die Reibungslosigkeit des Machtwechsels (ich musste laut lachen, als Neiberg darstellte, wie verständnislos Stalin gegenüber Churchills Wahlniederlage war; ihm war völlig unklar, wie Churchill es zulassen konnte, dass eine echte Wahl stattfand) waren ihm auf tiefster Ebene fremd und blieben es auch.

Dieses tiefe Unverständnis lief in beide Richtungen. Wo Stalin wie selbstverständlich annahm, dass Roosevelt, Truman und Churchill genauso wie er lügen und betrügen, morden und verhaften würden, wie es ihren Interessen gerade dienlich schien (und ein ums andere Mal widerlegt wurde, ohne diese Prämisse zu ändern), nahmen USA und UK an, dass die UdSSR sich an getroffene Absprachen halten würde. Auch das war eine mehr als wackelige Annahme.

Stalin war sicherlich der beste Verhandler auf der Konferenz. Nicht nur hatte die Sowjetunion mit dem Team Stalin-Molotow, die zusammen erstklassig "Good Cop, Bad Cop" spielten und damit die angelsächsischen Verhandler um den Finger wickelten die beste Taktik; die UdSSR hatte auch die klarste Strategie. Problematisch war nur, was diese Strategie beinhaltete. Angesichts der gewaltigen Kriegszerstörungen wollte Stalin vor allem zwei Dinge: einen Sicherheitskordon in Osteuropa (den er ja dann auch bekam) und massive Reparationen aus Deutschland. Es war ihm dabei völlig egal, ob dies zu millionfachem Leid und Tod in Deutschland und einer Destabilisierung Europas führen würde; Stalin wollte Industriegüter und Geld, und er wollte es jetzt. Wenn es nach ihm ging, konnte Deutschland darüber gerne zugrunde gehen.

Die Zeit arbeitete schließlich für die Sowjets. Dem Kremlherrscher war völlig klar, dass Großbritannien bankrott und mit der Abwicklung seines Empire beschäftigt war; Frankreich nahm er ohnehin nicht ernst. Und die USA, das war die allgemeine Erwartung auch der Amerikaner, würden sich in den nächsten ein, zwei Jahren zurückziehen und damit der riesigen sowjetischen Armee die Schlüssel zur Dominanz über Europa in die Hand drücken. Dass es nicht so kam, war vor allem das Resultat des Marshall-Plans, wie in Steills Buch zum Thema beschrieben wurde. Aber auch das war in Potsdam noch nicht absehbar.

Wo wir bei Deutschland sind: als potenziellen Partner sah das Land noch niemand. Truman beendete endgültig den irrlichternden Weg Morgenthaus und stellte ihn politisch kalt, aber Mitleid für die Besiegten hatte auch hier niemand. Neiberg nutzt einen Ausflug Trumans, Churchills und ihrer Entourage nach Berlin, um die Haltungen der Alliierten gegenüber den Deutschen deutlich zu machen. Das Leiden, das von Deutschland ausging, war frisch.

Alle Pläne gingen auch davon aus, dass die Alliierten Deutschland gemeinsam regieren würden, wie man das ja in Jalta auch bereits beschlossen hatte. Daraus würde nichts werden. Aber die Ansicht führte dazu, dass in Potsdam in manchen Gebieten Detailfestlegungen getroffen wurden, die bereits Monate später Makulatur waren, während andere Themen eine kurze Improvisationslösung bekamen, die dann weiter ausgearbeitet werden sollten - die dann aber bis heute Bestand haben. Ein Beispiel für ersteres Phänomen wären die Reparationslösungen, ein Beispiel für letzteres die Teilungen Koreas und Vietnams.

"Nobody knows what they're doing" ist eine Regel, die auf praktisch jeden Bereich zutrifft, aber hier in Potsdam ist besonders offensichtlich, wie die großen Staatschefs im Nebel stocherten. Sie hatten mal mehr, mal weniger klare Vorstellungen von dem, was sie wollten und was kommen würde, aber die meisten Annahmen zerschlugen sich innerhalb kürzester Zeit und erforderten ein teils radikales Umdenken. Teilweise wurden die Ansätze dafür bereits in Potsdam sichtbar, wo die Grundlage der Nachkriegsordung gelegt wurde - auch wenn dies den Partizipaten so oft gar nicht klar war.

Dienstag, 12. April 2022

Rezension: Johannes Burkhardt - Deutsche Geschichte in der frühen Neuzeit

 

Johannes Burkhardt - Deutsche Geschichte in der frühen Neuzeit

Nachdem Anfang des Jahres meine eigenen Wissenslücken im Bereich Frühe Neuzeit schonungslos aufgedeckt wurden, fühlte ich mich hinreichend motiviert, sie zumindest rudimentär zu füllen. Die Reihe C. H. Beck Wissen ist glaube ich allen Geschichtsstudierenden hinreichend bekannt; die um 120 Seiten dünnen Büchlein verstehen sich als Überblicksdarstellungen und Einführungen in ein jeweiliges Thema. Sie sind allerdings von Historiker*innen für ein zumindest stark interessiertes Laienpublikum, eher aber für ein Fachpublikum geschrieben, was sich an der voraussetzungsreichen Struktur und der stark verdichteten Sprache zeigt. Darin ist Burkhards "Deutsche Geschichte der Frühen Neuzeit" keine Ausnahme. Das ist kein Kritikpunkt; ich will nur verdeutlichen, dass sich um keine leichte Lektüre für nebenher oder gar eine mit unterhaltsamen Narrativen und steilen Thesen handelt. Der Anspruch ist eher, den aktuellen Stand der Forschung wiederzugeben.

Freitag, 8. April 2022

Rezension: John Dos Passos - Mr. Wilson's War

 

John Dos Passos - Mr. Wilson's War

Woodrow Wilson ist im öffentlichen Gedächtnis meistens als "Idealist" bezeichnet. Seine 14 Punkte gelten oft als nette Idee, die aber den Realitäten der Machtpolitik nicht entsprach, weswegen er in Versailles ausmanövriert wurde. Dieses Narrativ ist mittlerweile von der historischen Forschung gründlich revidiert worden, findet sich aber leider immer noch in zahlreichen Schulbüchern und populären Darstellungen. Umso relevanter ist es, sich mit dieser Epoche amerikanischer Außenpolitik, in der die immer noch junge Republik erstmals entscheidend in den Gang des Weltgeschehens eingriff, zu beschäftigen. Den Beginn dieser Entwicklung in der Präsidentschaft McKinleys und dem Spanisch-Amerikanischen Krieg zu suchen ist kein überäßig revolutionärer Zug; im erst kürzlich hier besprochenen "Gangsters of Capitalism" von Jonathan M. Katz wurde ein ähnlicher Ansatz gewählt. Wäre doch John Dos Passos' Geschichte des gleichen Zeitraums auch nur annähernd so überzeugend geraten.

Wie auch Katz beginnt John Dos Passos mit dem spanisch-amerikanischen Krieg, der die Grundlage für das amerikanische Kolonialreich legte. Anders als Katz legt er aber wenig Gewicht darauf, welche konkreten Dynamiken dahinterstanden und welche Konsequenzen das genau hatte. Dos Passos' Ansatz ist klassischer: er stellt detailliert die Biografien der beteiligten Personen vor. Im Zentrum steht dabei weniger McKinley, der ja auch bald einem Attentat zum Opfer fällt (die Hintergründe des Anarchismus, aus dem dieses Attentat entsprang, bleiben in seiner Darstellung weitgehend im Dunkeln), sondern der wesentlich sensationellere Theodor D. Roosevelt.

Roosevelt, das muss man zugestehen, ist auch ein Charakterkopf. Der jüngste Präsident aller Zeiten war ein Draufgänger, topfit durchtrainiert, mit dem gewissenhaft gepflegten Image des Cowboys und Rough Riders. Nicht nur propagierte er für Amerika einen Platz an der Sonne gegen die europäischen Kolonialreiche; er leitete auch die Ära des Progressivismus ein und kämpfte gegen die Auswüchse des Big Business in der Gilded Age (ich habe diese Zusammenhänge in einer Serie zu Amerika um 1900 ausführlich beschrieben; bei Dos Passos erfährt man darüber wenig). Diese Ära war so prägend, dass selbst die oppositionellen Democrats bald nicht mehr umhin kamen, ihre traditionelle Rolle als Lobbyverein der Wirtschaft zu modifizieren.

Ein weiterer Charakter jener Epoche ist William Jennings Bryan, jener Populist aus dem Mittleren Westen, der seinen quichottigen Kampf gegen den Goldstandard führte. Auch über diese Hintergründe erfährt man bei Dos Passos leider wenig. Bryan gelang es nie, die Präsidentschaft zu gewinnen - neben dem Widerstand des Großkapitals waren dafür auch eigene Fehler verantwortlich - aber es war fast nicht mehr möglich, an ihm und seinen Themen vorbei die Präsidentschaftskandidatur zu gewinnen. Das spürte auch Woodrow Wilson, dem der Löwenanteil des Buches gewidmet ist.

Er inszenierte sich genug als Populist, um Wahlen zu gewinnen, und genug als Freund des Big Business, um die Unterstützung der Partybosse zu gewinnen. 1912 errang er die Präsidentschaft. Seine innenpolitischen Absichten wurden aber bald durch den Schatten des europäischen Krieges verdrängt, der ihn auf die Bühne der Außenpolitik zwang. Zusammen mit seinem Freund Colonel House (ja, der hieß wirklich so) leitete er die Außenpolitik des Landes an den Behörden und Kongress vorbei; das Ausmaß der Amateurhaftigkeit, mit der das Land damals noch regiert wurde (mit einer winzigen Bürokratie, die Wilson tatsächlich einfach ignorieren und durch zwei, drei Freunde und die Tippfähigkeiten seiner Frau ersetzen konnte) ist erstaunlich.

All das führte dann zu den bekannten Folgen der Verwicklung der USA in den Krieg und der scheiternden Versuche von Friedensstiftung und später dem Aufbau einer neuen Weltordnung. Ich will mich aber darin gar nicht zu sehr verlieren; ich habe darüber geschrieben und will lieber das weit überlegende "Sintflut" von Adam Tooze zum Thema empfehlen. Hier will ich stattdessen darüber schreiben, warum dieses Buch nichts taugt.

Ich habe bereits eingangs erwähnt, dass Dos Passo eine sehr klassische Art der Geschichtsschreibung verfolgt. Es ist eine Geschichte der Biografien großer Männer. Wir erfahren, welche Anzüge Wilson trägt, in welche Intrigen er in seiner Zeit in Princeton verwickelt war, welche Tiere Roosevelt ausstopfen ließ, welche Teemarke seine Frau bevorzugte. Wir erfahren Klatsch und Tratsch um Colonel House und die europäische Aristokratie.

Was wir nicht erfahren, sind Zusammenhänge. Alles bleibt blutleer. Der amerikanische Imperialismus wird zu einer PR-Veranstaltung von Theodore Roosevelt. Begeistert beschreibt Dos Passos dessen Hasardeurstaten auf Kuba, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie viele Marines an Krankheiten zugrundegingen oder welche Massaker an der Zivilbevölkerung für die Profite der amerikanischen Obstfirmen begangen wurden. Wir erfahren zwar, dass Woodrow Wilson als Präsident von Princeton unbedingt Debattenclubs nach britischem Vorbild einführte und mit einem Schirm Fußball spielte, aber nicht, dass er mit aller Macht versuchte, Afroamerikaner auszuschließen. Auch, dass er als Präsident alle schwarzen Staatsbediensteten entließ und die Segregation auf ein Level brachte, das seit den 1870er Jahren nicht mehr gesehen worden war, ist Dos Passos keine Silbe wert.

Diese Art von hagiografischer Geschichtsschreibung, in der irgendwelche großen Männer Geschichte machen, die blutleer und harmlos und voll unterhaltsamer Bonmots und Anekdoten ist, ist nicht nur wertlos, sie ist schädlich. Sie vernebelt mehr, als dass sie enthüllt. Sie kann weg.

Donnerstag, 7. April 2022

Rezension: Vladislav M. Zubok - Collapse. The Fall of the Soviet Union

 

Vladislav M. Zubok - Collapse. The Fall of the Soviet Union

Michail Gorbatschow war weder Historiker noch Ökonom. Das allein ist kein großes Problem, die meisten Menschen sind weder Ökonom*innen noch Historiker*innen. Problematisch wird es, wo der Dunning-Kruger-Effekt voll zuschlägt und ein Staatsoberhaupt mit dem vollen Enthusiasmus des Amateurs und frisch gebackenen Konvertiten die Grenzen der eigenen Fähigkeiten nicht nur nicht erkennt, sondern auch willentlich überschreitet. Man könnte bei Lektüre von Vladislav M. Zuboks grandiosem "Collapse" den Eindruck bekommen, dass es sich dabei um Gorbatschows Hauptschwäche handelte - bei einem Mann, der an Schwächen nicht eben arm und hauptverantwortlich für den Kollaps des sowjetischen Reichs zwischen 1989 und 1991 war. Es ist diese Geschichte, die Zubok nachzeichnet und deren Gründe er zu erleuchten hofft.