Freitag, 24. Dezember 2010

Buchbesprechung: Harry Turtledove - Die Timeline-191-Romane

Von Stefan Sasse

Harry Turtledove 2005
Kontrafaktische Geschichte – auch virtuelle Geschichte genannt – übt seit jeher eine große Faszination aus. Die Frage des „Was wäre, wenn“ nimmt einen gefangen. Für Deutschland kann es eigentlich nur eine große Frage geben: was wäre, wenn Hitler nicht gelebt hätte? Wenn er keinen Erfolg gehabt hätte? Seine Eliminierung aus der Geschichte wäre wohl das erste Szenario, das man sich ausmalen würde. Für die Amerikaner ist das Ur-Thema ein anderes: hier ist die kontrafaktische Frage, was wohl geschehen wäre wenn das amerikanische Trauma des Bürgerkriegs ein anderes Ende gefunden hätte. Was wäre gewesen, wenn die Konföderierten Staaten von Amerika den Krieg siegreich beendet hätten? 

Dienstag, 14. Dezember 2010

Anatomie des Holocaust

Von Stefan Sasse

Ankunft von Juden in Auschwitz
Die Frage nach dem Verständnis des Holocaust ist in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch weitgehend ungeklärt. Zwar ist die Aufarbeitung - es wurde hier im Blog bereits diskutiert - in Deutschland besonders im Vergleich zu anderen Länderen und deren Kriegsverbrechen extrem fortgeschritten und tiefgreifend. Die Ermüdungserscheinungen gerade des vergangenen Jahrzehnts jedoch, das verhärtende Gefühl von "ich war nicht schuld, ich will das nicht mehr hören" erfordern einen anderen Ansatz der Aufarbeitung. Ich beschreibe diesen anderen Ansatz als "Täger-Perspektive". Gemeint ist, nicht einfach nur die Zahlen der Opfer und die Dimension des Verbrechens aufzuzählen und einen Blick auf die Riege der Top-Nazis von Goebbels über Heydrich zu Himmler und schlussendlich Hitler zu werfen. Das führt in meinen Augen zu nichts. Die Opfer des Holocaust generieren zu reinen Statistiken, und die Riege der nationalsozialistischen Führungsfiguren ist so unglaublich absurd in Verhalten, Gestus, Taten und Absichten, das man sie bis heute kaum versteht und wohl auch nie verstehen kann (vgl. hier). Weiterführend ist stattdessen die Frage, wer den Holocaust eigentlich durchgeführt hat und was die rund 200.000 damit direkt involvierten Menschen bewogen hat, sich der ersten und einzigen industriellen Massentötung der Geschichte zur Verfügung zu stellen. 

Dienstag, 7. Dezember 2010

Fundstücke XV

Von Stefan Sasse

USA erklärt weist auf die Existenz von Bedrohungsszenarien hin, in denen die USA mögliche Invasionsrouten der Nazis im Jahr 1942 erörteten. Die dazu gezeichneten Karten sind wirklich extrem originell. So finden sich Invasionsrouten quer über den Atlantik, via Brasilien die Süd- und Mittelamerikanische Küste entlang, eine japanische Invasion des Panamakanals über Argentien zur Unterstützung, eine Invasion der kanarischen Inseln und der Bermudas und - am besten - die Invasion über Neufundland und den St.Lawrence, die allen Ernstes als "klassisch" bezeichnet wird. 

Jede Einzelne dieser Invasionen ist vollkommen unmöglich. Die Deutschen verzeichneten 1942 Erfolge im U-Bootkrieg, gewiss, und die US-Pazifikflotte befand sich immer noch in der Defensive gegenüber den japanischen Streitkräften. Aber zu keiner Zeit war ein Übersetzen in die USA auch nur ansatzweise möglich, besonders nicht über so absurde Routen wie quer und nonstop über den Atlantik, der zu dieser Zeit trotz U-Booten effektiv ein angelsächsisches Mare Nostrum war. Auch die Vorstellung eines kombinierten deutsch-japanischen Angriffs setzt ein viel zu hohes Maß an Koordination dieser ungleichen Verbündeten voraus, die sich effektiv nie aushelfen konnten und wollten. 

Besonders lustig ist auch, dass in allen diesen Plänen die "5. Kolonne" der unzähligen hervorragend ausgebildeten, paramilitärisch geschulten und ausgerüsteten Deutschen und Japaner in den USA selbst ein herausragende Rolle spielt, die stets den kriegsentscheidenden Beitrag bei der Invasion leistet, indem sie an der Heimatfront Sabotageakte aus der eigenen Mitte verübt. Diese völlig unrealistische Angst vor Terroristen in den eigenen Reihen führte zu den beschämdenden Internierungen von US-Japanern besonders im amerikanischen Westen und lebt noch heute in der Terrorangst fort.

Mittwoch, 1. Dezember 2010

Der Holocaust und die Deutschen

Von Stefan Sasse

Zufahrt zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau 1945
Das Verhältnis der Deutschen zum Holocaust ist ein zwiespältiges. Es ist ein wohl weltweit einmaliger Vorgang, dass sich eine Nation so eindeutig und unmissverständlich zu einem Verbrechen bekennt, die Verantwortung auf sich nimmt und - wie unvollkommen auch immer - Wiedergutmachung dafür zu leisten versucht. Besonders in den letzten 20, 30 Jahren kommt außerdem eine massive und vergleichsweise profunde Aufarbeitung des Holocaust im breiten öffentlichen Bewusstsein hinzu. Das alles sind Leistungen, die man neidlos anerkennen muss und bei denen man etwa im Falle von Japans Kriegsverbrechen, denen der Sowjetunion oder auch der Kolonialverbrechen von England und Frankreich oder dem Umgang der USA mit der indigenen Urbevölkerung noch vergebens wartet. Gleichzeitig hat diese Aufarbeitung aber auch ihre Schattenseiten. Sie führte zu einem routinierten Betroffenheitsautomatismus, der echte Emotionen für das Thema mehr und mehr zu ersticken droht, zu Denkverboten und politischem Missbrauch. Im Folgenden soll genauer beleuchtet werden, wie die deutsche Aufarbeitung des Holocaust erfolgt ist, welche Probleme und welche Erfolge damit verknüpft sind und wie diese Entwicklung weitergetrieben werden kann.