Donnerstag, 10. Februar 2011

Der Vertrag von Versailles


Von Stefan Sasse

Vertragsunterzeichnung im Spiegelsaal von Versailles
Am 28. Juni 1919 unterzeichnete die Delegation der ersten republikanischen deutschen Regierung, geführt von Matthias Erzberger, den Friedensvertrag von Versailles, der den Ersten Weltkrieg mit Deutschland offiziell beendete.Weitere Pariser Vorortverträge beendeten den Krieg bis zum 10. Juli auch mit Deutsch-Österreich, Bulgarien und dem Osmanischen Reich. Für kein Land aber wurde der Friedensvertrag so symbolgeladen und bedeutsam wie für das Deutsche Reich, dessen demokratische Regierung den Makel der Vertragsunterzeichnung zeit ihrer Existenz mit sich herumschleppte wie einen Mühlstein. Was aber waren die genauen Bestimmungen des Vertrags? Wie wirkten sie sich aus, und waren die Auswirkungen vorhersehbar? Und, nicht unbedeutend: was hätte besser oder doch zumindest anders gemacht werden können? Diesen Fragen soll der folgende Artikel nachgehen. 

Der Versailler Vertrag war von Anfang an eine Kompromissgeburt, in der drei Hauptbeteiligte miteinander stritten, die nur schwer vereinbare Interessen hatten: die USA, Frankreich und Großbritannien. Ihre Zielsetzung zu verstehen ist der erste Schritt, der dem heutigen Zeitgenossen ermöglicht, die Entstehung des Vertrags nachzuvollziehen. Es ist außerdem stets wichtig sich vor Augen zu halten, welche Großmacht überhaupt nicht an den Verhandlungen teilnahm: Russland. Das Land befand sich zu jener Zeit in voller Auflösung und Bürgerkrieg, der zwischen Roten und Weißen erbittert und unter Einmischung der Westmächte geführt wurde (die die Sowjets ihnen nachhaltig übel nehmen sollten). Das Schicksal des östlichen Giganten wurde also noch willkürlicher von den Siegermächten bestimmt als das Deutschlands - ein Grund für die Aggression, mit der die Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren versuchte, die Vorkriegsgrenzen wiederherzustellen und die neu entstandenen Länder wie etwa die baltischen Staaten wieder zu vereinnahmen. 

Der französische Ministerpräsident Clemenceau
Die meist betroffene Siegermacht auf der Versailler Friedenskonferenz war Frankreich. Der Erste Weltkrieg war im Westen vollständig auf seinem Territorium ausgefochten worden, und die Franzosen hatten furchtbar geblutet. Die Frontlinie zog sich wie eine riesige, zerstörte Narbe durch das Land, und der Rückzug der Deutschen, die erstmals die Taktik der Verbrannten Erde angewandt hatten, hatte nachhaltige Verbitterung hinterlassen. Hunderttausende waren tot, das Land wirtschaftlich fast am Abgrund. Den Franzosen war allzu schmerzlich bewusst, dass sie nicht nur der Hilfe Großbritanniens, sondern auch der USA bedurft hatten und dass der Krieg trotzdem nur um Haaresbreite nicht verlorengegangen war. Gewonnen jedenfalls hatten ihn die Franzosen nicht. Umso wichtiger erschien es ihnen im Hinblick auf eine zukünftige Sicherheitsstrategie, dass Deutschland - das immerhin rund 20 Millionen Einwohner mehr hatte als Frankreich - auf eine Stärke reduziert wurde, die maximal das Niveau Frankreichs erreichte. Das Maximalziel war eine Rückgängigmachung der Reichseinigung von 1871. Dieses Ziel allerdings teilten weder die Amerikaner noch die Engländer, wie bald deutlich wurde, so dass sich die französische Verhandlungsposition dahingehend entwickelte, Deutschland so stark und ausdauernd wie möglich zu schwächen und nach Möglichkeit politisch zu isolieren - eine Reversion der deutschen Außenpolitik nach 1871. 

Die englische Position unterschied sich bereits drastisch von der französischen. Die Regierung in London war noch immer vom alten Denken der "Balance of Power" geprägt, also dem Ausgleich unter den Großmächten. Dieser bereits jahrundertealten außenpolitischen Doktrin der Briten zufolge durfte kein europäischer Staat zu sehr geschwächt werden, es sollte stets ein Gleichgewicht herrschen. Die bedenkliche Schwäche Russlands durch die bolschewistische Revolution schuf bereits ein Machtvakuum im Osten; der britische Premier Lloyd George gedachte, kein weiteres in Mitteleuropa hinzuzufügen. Der zweite Teil der britischen Balance-of-Power-Doktrin verlangte jedoch die uneingeschränkte Herrschaft Großbritanniens auf den Weltmeeren: die praktisch vollständige Abrüstung der noch weitestgehend intakten deutschen Flotte, die in Scapa Flow interniert war (und sich dort nach Unterzeichnung des Vertrags größtenteils selbst versenkte) sowie die Übernahme des deutschen Kolonialimperiums gehörten zu den britischen Forderungen. Die Reparationsforderungen aus der Downing Street waren sehr gemäßigt, wuchsen jedoch durch innenpolitischen Druck aufgrund des im Kriegs teils entstandenen, teils erzeugten Deutschen-Hasses rapide an. Die Briten fürchteten jedoch nichts mehr als einen neuerlichen Krieg mit Deutschland, der durch einen ungerechten Frieden entstehen würde. Der deutlich pessimistischere Clemenceau sah diesen Krieg als Gewissheit und strebte nur danach, Frankreich möglichst gut dafür zu rüsten.

George, Orlando, Clemenceau und Wilson (v.l.) in Versailles
War schon der britisch-französische Gegensatz scharf genug, so war die Position der Amerikaner endgültig mit der der Europäer unvereinbar. Am 8. Januar 1918 hatte US-Präsident Wilson sein Friedensprogramm der 14 Punkte vorgelegt, die einen Frieden auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker sowie einige vage Punkte wie die Freiheit der Meere, ein Verbot von Geheimdiplomatie und Rüstungsbeschränkungen vorsahen. Es waren diese 14 Punkte gewesen, auf die die deutsche politische und militärische Führung ihre Hoffnungen gesetzt hatte, als sie im November 1918 um Waffenstillstand bat. Mittlerweile aber war fast ein Jahr vergangen. Im Winter 1917/18 hatten die deutschen Truppen noch eine Aussicht auf Sieg gehabt. Im Herbst 1918 war diese Hoffnung verschwunden. Wilson glaubte trotzdem daran, seine Vision durchsetzen zu können. Als praktische Konsequenz hätte Deutschland das umstrittene Elsass-Lothringen ebenso wie Eupen-Malmedy und Nordschleswig sowie einige Teile Schlesiens abgeben müssen, da dort ausländische Majoritäten lebten. Diese Punkte verhinderten aber weitergehendere Forderungen wie eine Zerschlagung des Reiches oder Gebietsverluste etwa des Saar- und Rheinlandes, wie es die Franzosen forderten.

Die Verhandlungen um den Vertrag wurden hauptsächlich zwischen diesen drei Mächten geführt. Explizit nicht daran beteiligt waren die Deutschen, nicht beteiligt waren wie bereits erwähnt die Russen und nur am Rande beteiligt waren die anderen kriegführenden Mächte. Dies ist besonders im Falle Italiens und Japans wichtig, die sich beide mehr von ihrer Kriegsteilnahme versprochen hatten und sich benachteiligt fühlten - ein Gefühl, das sie in der Nachkriegszeit nach rechts und später in ein Bündnis mit Nazi-Deutschland trieb. Clemenceau gelang es, sich weitgehend durchzusetzen. Er scheiterte jedoch mit seinen Maximalforderungen, und seine harte Linie bei Gebietsabtretungen und Reparationen sorgte dafür, dass seine Verhandlungspartner dafür in anderen Fragen hart blieben - dies führte zu der merkwürdigen Kombination an Bestimmungen, die der Vertrag schließlich vervorbrachte: 

Europa 1914 (links) und 1924 (rechts)
Deutschland verlor etwa 13% seines Territoriums (die bereits angesprochenen Gebiete, die unter das Selbstbestimmungsrecht der Völker fielen sowie Teile von Westpreußen und Schlesien) und, was letztlich schlimmer wog, auch 10% seiner indigenen Bevölkerung. Mehrere Millionen Deutsche lebten nach den Beschlüssen des Vertrags plötzlich im Ausland, hauptsächlich in der Tschecheslowakei (Sudetenland) und in Polen (Westpreußen und Schlesien), wo sie von den neu angetretenen nationalen Regierungen oftmals benachteiligt und diskriminiert wurden. Die deutsche Handelsflotte wurde um 90% verkleinert, das deutsche Heer wurde auf 100.000 Mann, die Marine auf 10.000 Mann reduziert. Eine Luftwaffe war ganz verboten, Panzer und U-Boote sowie Schlachtschiffe ohnehin. Das deutsche Militär war damit auf das Niveau Portugals geschrumpft, ohne dass dem ein gleichwertiger Verlust an Wirtschaftskraft oder Bevölkerung gegenüberstand. Auch waren die anderen Länder nicht bereit, im gleichen Maße oder auch nur überhaupt signifkant abzurüsten, wie es die 14 Punkte eigentlich vorsahen, so dass dieser Zustand kaum von Dauer sein konnte. 

Viele der Gebietsabtretungen wurden durch das Mittel der Volksabstimmung legitimiert, etwa Eupen-Malmedy (nachträglich) oder Schlesien und Nordschleswig (vorher). Besonder die Volksabstimmungen von Eupen-Malmedy und Schlesien erzürnten die Deutschen, weil sie im belgischen Falle wohl manipuliert wurden (wenn auch nicht in dem von deutscher Seite vorgeworfenen Ausmaß) und in Schlesien ein unpraktikables Ergebnis hervorbrachten, das eine nachträgliche Teilung entlang willkürlich gezogener Grenzen notwendig machte. Mit den hehren Idealen Wilsons hatte das alles wenig zu tun. Die Amerikaner zogen sich deswegen bereits im Verlauf der Verhandlungen immer mehr zurück, und der Senat erklärte noch vor der Unterzeichnung, den Vertrag nicht zu ratifizieren. Von den drei Mächten, die ihn hauptsächlich ausgearbeitet hatten, fiel eine also bereits bei der Unterzeichnung effektiv aus. Dies wirkte sich umso schlimmer aus, als dass der Versailler Vertrag auch die Geburtsstunde von Wilsons Traumprojekt, dem Völkerbund, wurde. Dieser Vorläufer der UNO litt von Anfang an an der fehlenden Teilnahme der USA, Deutschlands und der Sowjetunion - mithin drei der mächtigsten Nationen der Welt. 

Die ersten zwei Seiten des Vertrags
Als der Vertrag im Frühsommer 1919 endlich fertiggestellt der deutschen Delegation vorgelegt wurde, war diese fassungslos. Der Vertrag war wesentlich härter als erwartet und vor allem bereits fertig; die deutsche Delegation war aber der Überzeugung gewesen, über den Vertrag verhandeln zu können. Stattdessen hatten sie nur einige Tage für schriftliche Anmerkungen und mussten sich dann ebenfalls in Tagesfrist für oder gegen die Unterzeichnung entscheiden. Wir vergessen unter Eindruck des Ende des Zweiten Weltkriegs oft, dass das einen schweren Stilbruch darstellte: die übliche Praxis der Diplomatie jener Zeit war, dass der Besiegte als gleichwertiger Partner bei den Friedensverhandlungen mit am Tisch saß. Der Kontrast zum Wiener Kongress 1814/15, bei dem Talleyrand als Vertreter Frankreichs deutlichen Einfluss nehmen konnte, könnte kaum größer sein. Zusätzlich lastete jedoch der Artikel 231 schwer auf der Delegation: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.“ Bei Artikel 231 handelt es sich um den berühmt-berüchtigten Kriegsschuldartikel. Auch das war eine Neuigkeit in der diplomatischen Welt jener Tage; noch nie hatte ein Friedensvertrag das Konstrukt von "Schuld" bemüht. Stets war es nur darum gegangen, wer gewonnen und wer verloren hatte. Nun sahen sich die Deutschen plötzlich einer moralischen Komponente des Vertrags gegenüber. 

Allein, der Kriegsschuldartikel dürfte wohl eines der größten und gravierendsten Missverständnisse in der Geschichte darstellen. Der populäre Glaube, er sein auf französisches Betreiben hineingenommen worden - waren doch die Franzosen die unversöhnlichsten Gegner Deutschlands - trügt. Clemenceau war diesbezüglich noch ganz Mann des 19. Jahrhunderts, das mit solchen Kategorien nichts anzufangen wusste. Es waren ironischerweise ausgerechnet die Amerikaner gewesen, die diesen Artikel aufgenommen hatten. Die Alliierten hatten ihm keinerlei Bedeutung beigemessen; für sie war es lediglich eine juristische Konstruktion, die zur Legitimierung des Vertrags diente, weil angesichts der 14 Punkte eine einfaches "Wir haben nun einmal gewonnen" nicht mehr ausreichte. Er war also lediglich eine zusätzliche Absicherung. Hätte er  für die Alliierten wirklich die Bedeutung gehabt, die ihm die deutsche Öffentlichkeit zuschrieb, so wäre er sicher prominenter platziert und weitreichender ausgeführt worden. Für die deutsche Delegation, deren Mitglieder teils einem Nervenzusammenbruch nahe waren, war der Vertrag der Super-GAU. Im Militär machte man bereits Pläne, wie man Deutschland im Falle einer Nicht-Unterzeichnung würde verteidigen können und Philipp Scheidemann trat als Kanzler mit den berühmten Worten zurück, dass die Hand verdorren müsse, die diesen Vertrag unterschriebe. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass er damit letztlich recht behielt. 

Demonstration gegen den Versailler Vertrag, 1932
Trotz dieses öffentlichen Aufschreis in Deutschland und zahlreicher spontaner Ablehnungsbekundungen, deren Teilnehmer sich durchaus im Klaren darüber waren, dass die Wiederaufnahme des Krieges bedeuten würde, trotz der klaren Erkenntnis, welche Hypothek der Vertrag für die junge Republik bedeuten würde, unterschrieb ihn die Delegation nur Tage später nach einer Rückversicherung im Parlament, dass selbst die Rechts-Parteien diese Entscheidung tragen würden (ein Versprechen, dass diese freilich bald wieder vergaßen). Diese Entscheidung hatte mehrere Ursachen. Das Heer war im Frühsommer 1919 bereits in voller Auflösung. Zu großen Teilen war es demobilisiert, einige hatten in der Revolution gekämpft, Teile standen noch in der baltischen Region unter alliiertem Oberkommando im Kampf gegen die Bolschewisten. Gegenüber großmäuligen Versprechen der Militär, was die Truppe leisten konnte, hatte man seit dem Oktober 1918 eine gesunde Vorsicht entwickelt. Die Revolution selbst war noch keineswegs überstanden, und die Aussicht auf eine neue Welle, die eventuell größere Unterstützung für die Linke bringen würde, behagte niemandem so recht - allzudeutlich hatte man das Schicksal der Duma im November 1917 vor Augen, die genau über diese Problematik an Lenin gefallen war. Und zuletzt war überhaupt nicht absehbar was geschehen würde, wenn der Vertrag nicht unterschrieben würde und die Alliierten den Krieg wieder aufnahmen. Die französischen Forderungen nach einer Zerschlagung des Reiches, das der Vertrag wenigstens als Einheit erhielt - wenngleich auch der polnische Korridor diese Einheit bereits destabilisierte - waren keineswegs aus der Welt. Und nicht zuletzt hielten die Briten (völkerrechtswidrig) die Blockade Deutschlands auch nach dem Waffenstillstand noch weiter aufrecht, so dass die Versorgung mit Nahrungsmitteln kritisch blieb.

Der Fortgang der Ereignisse ist bekannt: Deutschland unterschrieb und blieb verhältnismäßig ruhig. 1920 erwehrte es sich des Kapp-Putsches, bei dem das Militär bereits unter dem Erfolg der Dolchstoßlegende gegen die Republik agieren konnte. 1923 stellte das Reich die Bedienung der Reparationsschulden teilweise ein, woraufhin Frankreich das Ruhrgebiet besetzte und die militärische Schwäche Deutschlands schmerzhaft offenlegte. Die Zahl der Reparationen war im Vertrag überhaupt nicht festgelegt worden und war nach oben offen; erst durch mehrere Verhandlungen im Lauf der 1920er Jahre wurde die Zahl auf eine recht hohe Summe festgelegt, die in Raten bis 1988 (!) abbezahlbar war. Deutschland wurde die Aufnahme in den Völkerbund ebenso verweigert wie der von der Bevölkerung beider Staaten gewünschte Anschluss Deutsch-Österreichs, das auf Druck der Alliierten sogar seinen Namen zu Österreich ändern musste. Der Pariah tat sich daraufhin mit dem anderen Pariah zusammen: der Sowjetunion. Im Geheimen rüstete die Reichswehr auf, und in rechten Kreisen dachte man kaum an etwas anderes als eine Revanche. 

Gustav Stresemann 1925
Dabei gelang es Außenminister Gustav Stresemann in der "Goldenen Ära" der Weimarer Republik 1924-1928/29 signifikante Zugeständnisse in Sachen Versailler Vertrag zu erreichen. Seine Politik bestand aus einer Aussöhnung mit dem Westen, besonders Frankreichs, und einer Revision des Vertrags im Osten. Zu diesem Zweck betrieb das Reich die später diffamierte "Erfüllungspolitik", indem man die Reparationsleistungen überhaupt einmal festschrieb und dann versuchte sie zu erfüllen. 1926 erreichte Deutschland auch die Aufnahme in den Völkerbund und kehrte damit in den Kreis der "zivilisierten Nationen" zurück. Gegenüber dem Osten, besonders Polen und der Tschecheslowakei, blieb das Ziel klar eine Revision der Gebietsverluste. Diese Politik war durchaus rational, lebten in jenen Gebieten doch zu einem guten Teil, im Sudetenland sogar mehrheitlich, Deutsche, deren expliziter Wunsch nach einer "Rückkehr ins Reich" dem postulierten Selbstbestimmungsrecht der Völker diametral gegenüberstand. Anstatt den Vertrag aggressiv anzugehen, zeigte Stresemann also immer wieder die moralische Komponente auf - ein Fass, das der Vertrag mit dem Kriegsschuldartikel überhaupt erst geöffnet hatte. Der Westen wurde die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr los. 

Doch die immer schwierigere Legitimation der Benachteiligung Deutschlands war nicht das einzige Problem, das der Vertrag besaß. Im Verlauf der 1920er Jahre machte sich unter vielen Staatsmännern immer mehr eine realistischere Sicht auf den Vertrag breit. Die Franzosen und Briten erkannten, dass er ihnen viel weniger Sicherheit bot als sie ursprünglich gehofft hatten, und die Deutschen - besonders Stresemann - erkannten, dass er eigentlich eine Chance für Deutschland darstellte. Tatsächlich waren die Implikationen des Selbstbestimmungsrechts der Völker 1919 nicht genug bedacht worden. In den 1920ern wurde zunehmend klarer, dass man es den Deutschen nicht ewig würde vorhalten können; dem maßgeblich von Wilson in die Internationalen Beziehungen eingeführten moralischen Element sei dank. Wenn das Prinzip aber erst einmal auf Deutschland angewendet würde, kämen mit Sicherheit Österreich und das Sudetenland, wahrscheinlich auch Teile Schlesiens und Westpreußens wieder zum Reich zurück. Der polnische Korridor würde sicher geschlossen werden - und damit auch Polens Zugang zur Ostsee, eine vitale Forderung der Vertragspartner. Stresemann war weitblickend genug, das zu sehen. Auch die Rüstungsbeschränkungen würden auf Dauer fallen, und die Reparationen waren ohnehin bereits völlig zerstückelt - ihre Staffelung auf vier Jahrzehnte war völlig unrealistisch, und das war allen Beteiligten klar. Tatsächlich bezahlte Deutschland bereits ab 1930 überhaupt nichts mehr und hatte die Forderungen der Alliierten vorher nie vollständig erfüllt. 

Ruhrbesetzung 1923
Der Vertrag litt jedoch auch ohne den beschriebenen moralischen Ballast an einer elementaren machtpolitischen Fehlkonstruktion: nach dem Rückzug der USA aus Europa und in den Isolationismus und durch den Ausschluss Russlands aus den Verhandlungen blieben nur zwei Mächte, die den Vertrag überhaupt garantierten: England und Frankreich. Und dies waren gerade die beiden Mächte, die im Ersten Weltkrieg nicht in der Lage gewesen waren, Deutschland zu besiegen, ein Deutschland, das zudem im Osten gegen Russland hatte kämpfen müssen, mit dem es seit dem Versailler Vertrag nicht einmal mehr eine gemeinsame Grenze besaß. Im Verlauf der 1920er Jahre mussten beide Mächte erkennen, dass sie im Falle eines Falles gar nicht in der Lage wären, Deutschland die Einhaltung des Vertrages aufzuzwingen. Beide Länder zogen unterschiedliche Schlüsse aus dieser Erkenntnis. 

England versuchte, zu einer gütlichen Einigung mit Deutschland zu kommen und es besser in das internationale Diplomatiesystem wie den Briand-Kellog-Pakt zu integrieren (der den Krieg als Mittel der Politik ächtete), versuchte aber gleichzeitig die Abrüstungsbeschränkungen zu erhalten, besonders im Bereich der Flottenrüstung. Letztlich handelte es sich um eine Fortsetzung der Balance-of-Power-Politik, die jedoch weiterhin elementare Bausteine vermissen ließ: so fehlten sowohl Österreich-Ungarn als auch Russland im traditionellen Mächtequintettt, und die USA standen als Ersatz nicht zur Verfügung. In den 1930er Jahren versuchte Großbritannien deswegen, eine Annäherung an Stalins Sowjetunion zu erreichen, was jedoch letztlich erfolglos blieb. Aus der Einsicht heraus, eine militärische Aufrüstung Deutschlands nicht verhindern zu können, entschloss sich Großbritannien ab 1934/35 zur Appeasement(Beschwichtigungs-)Politik, um keinen Kriegsgrund zu liefern. Der Kriegsgebinn wurde dadurch um ein Jahr verschoben - vermutlich genau jenes Jahr, das Großbritanniens Überleben 1940/41 erlaubte. 

Abzeichen der Besatzungstruppen der Maginot-Linie
Frankreich dagegen resignierte. Das britische Absetzen vom Vertrag ließ es als einzige Großmacht übrig, die noch ernsthaft versuchte, ihn durchzusetzen - eine unhaltbare Position. Die französische Regierung versuchte deswegen, mit einer Doppelstrategie die potentiellen Kosten eines neuen Krieges mit Deutschland in die Höhe zu treiben. Es schloss Bündnisse und Beistandspakte mit den ungeliebten Kindern des Versailler Vertrags, den osteuropäischen Staaten. Aufgrund von Polens Abrutschen in die Diktatur Pidulskis blieb der verlässlichste Stützpfeiler dieser Politik die weiterhin demokratische Tschecheslowakei. Genau diesen Stützpfeiler aber traten die Briten im Münchner Abkommen von 1938 weg, als die Hitler das Sudetenland überließen - und damit auch die Festungsanlagen und ultimativ die Eigenstaatlichkeit der Tschecheslowakei. Der zweite Teil dieser Strategie war, als Lehre aus dem an der Westfront stationären Verlauf des Ersten Weltkriegs (siehe hier), der Ausbau einer gewaltigen Grenzbefestigungsanlage (Maginot-Linie) entlang der Grenze zu Italien, Deutschland, Luxemburg und zu Teilen Belgiens. Ein deutscher Vorstoß sollte so im Keim erstickt werden. Die Befestigungsanlagen, extrem teuer, waren auf dem höchsten Stand der Technik. Der Anspruch war, dass der Feind erst gar nicht passieren sollte ("On ne passe pas") und ihm damit der Bewegungskrieg versagt blieb, in dem die Franzosen den Deutschen unterlegen waren. Die Maginot-Linie erwies sich jedoch als gigantische Fehlinvestition: Nicht nur konnten die deutschen Truppen sie durch den unerwarteten Vorstoß durch die Ardennen umgehen, sie manifestierte die resignierte Haltung der französischen Regierung und ihrer Militärs in Beton und zersetzte die Moral der Bevölkerung nachhaltig, was maßgeblich zum schnellen Sieg der Wehrmacht im Westfeldzug beitrug. 

Der Vertrag von Versailles hatte sich damit als nicht tragfähiges Konzept zur Friedenssicherung erwiesen. Seine Hauptunterlassungen waren entweder die Integration oder nachhaltige Schwächung Deutschlands - er leistete weder das eine noch das andere, unternahm aber die Verhinderung des einen und den Versuch des anderen, womit er nur geeignet war, die Deutschen nachhaltig gegen die Friedensordnung aufzubringen. Es wäre wohl jedoch möglich gewesen, trotzdem eine auf seiner Grundlage bestehende Friedensordnung zu bilden, wenn er effektive Garantiemächte gehabt hätte. Der Ausschluss Sowjetrusslands und der Rückzug der USA nahm aber genau diese Garantiemächte aus dem Spiel und ließ nur die durch die Kriegskosten ohnehin stark belasteten Briten und Franzosen übrig, die gegen ein entschlossenes Deutschland alleine ohne Chance hatten und sich zudem jeder für sich in unterschiedliche Strategien flüchteten, die sich beide als nicht effektiv erwiesen. Die Frage bleibt jedoch: was hätte anders gemacht werden können? 

Henry Morgenthau
Das erste Szenario ist die französische Maximallösung, eine Zerschlagung und nachhaltige Schwächung Deutschlands. Als Ergebnis der Vertragsverhandlungen ist dieses Ereignis nicht vorstellbar, da der Widerstand der Engländer und Amerikaner dagegen sich als zu nachhaltig erwies. Im Falle eines wiederaufgenommenen und möglicherweise verlorenen Krieges wäre es allerdings Möglichkeit geworden. In diesem Fall hätten wir es wohl mit einer frühen Version des Morgenthau-Plans zu tun, einem harschen Siegfrieden, in dem das Reich vollständig aufgelöst und, ähnlich 1945, zum Spielball der Sieger wird - allerdings ohne einen Systemkonflikt unter den Siegern, der den Deutschen entgegen käme. Die Aufspaltung in mehrere deutsche Staaten, die politische Affiliation eines potentiellen Rheinlandstaates mit Frankreich und die weitgehende Deindustrialisierung und Entwaffnung wären unmittelbare Folgen gewesen. Die Frage allerdings, ob die Deutschen sich zu einem geeinten Widerstand bereit gefunden und diesen tatsächlich durchgesetzt hätten, die Frage nach der Tragfähigkeit eines solchen Friedens also, muss pure Spekulation bleiben. 

Das zweite Szenario besteht in einer nachhaltigen Integration Deutschlands in eine Europäische Föderation. Die Pläne für eine solche Förderation existierten bereits und erlebten im Verlauf der 1920er Jahre im Umfeld der paneuropäischen Bewegung auch ein Revival. Der Ausgang der "Khaki-Wahlen" in Großbritannien 1918  (eine klare Wahl gegen einen nachsichtigen Kurs gegen Deutschland) und der verbreitete Deutschen-Hass in Frankreich machen eine solche Option wenn nicht unmöglich so doch politisch zumindest sehr schwierig umzusetzen. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber hätte diese Option, wären die politischen Widerstände in allen Ländern überwunden worden, einen positiveren Verlauf genommen: Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund wäre viel früher möglich geworden, eine einvernehmlichere, verhandlungsbasierte Lösung der Reparationsfrage gefunden worden. Der Anreiz für eine solche Lösung war jedoch im Gegensatz zu 1946/47 wegen des fehlenden Systemkonflikts mit der Sowjetunion nicht gegeben. 

Französische Gebirgsjäger in Buer, 1923
Das dritte Szenario besteht in der Verweigerung einer Unterschrift durch die deutsche Delegation. Die Gründe, die diese zur Abgabe der Unterschrift bewogen wurden bereits vorher dargestellt; aber es gibt durchaus Grund zur Annahme, dass die Konsequenzen gar so drastisch nicht geworden wären: die Demobilisierung der alliierten Streitkräfte war im Sommer 1919 mindestens so weit fortgeschritten wie die der deutschen, und die Öffentlichkeit dieser immerhin demokratisch verfassten Staaten hatte sich bereits auf Frieden eingestellt und stand einer Wiederaufnahme des Krieges nicht begeistert gegenüber. Die Alternative nder Alliierten bei einer Nicht-Unterschrift der Deutschen reduzierten sich auf zwei: Neuverhandlungen, dieses Mal mit Deutschland, oder Einmarsch und Besetzung. Im ersteren Fall hätte das Reich bessere Bedingungen herausschlagen und die junge Demokratie sich zumindest etwas besser gegenüber der Rechten postieren können. Im zweiten Fall hätten die Alliierten das Land besetzen und selbst ordnen müssen - mit unabsehbaren Konsequenzen. Obwohl gefährlich, hätte das Wagnis durchaus Früchte tragen können. 

Freilich, das alles lässt sich Jahrzehnte später leichthin sagen. Die Zeitgenossen standen unter starkem Druck und waren von Jahrzehnten des nationalistischen Säbelgerassels ebenso beeindruckt wie, vor allem, dem Eindruck von vier Jahren zerstörerischem, verlustreichen Krieg bestimmt. Man hatte sich in eine politische Sackgasse manövriert, aus der so leicht kein Entkommen war. Ohne das Einbrechen der Weltwirtschaftskrise wäre die vollständige Revision des Vertrags, die 1932 effektiv erreicht war, wohl einer demokratischen Regierung und nicht Hitler zugute gekommen, und der Vertrag wäre trotzdem Geschichte gewesen. So oder so diente er den Alliierten im Zweiten Weltkrieg als Blaupause dessen, was man nicht tun durfte.

Literaturhinweise:

Bildnachweise: 
Versailles - William Orpen (gemeinfrei)
Clemenceau - Bain News Service (gemeinfrei)
Große Vier - Cpt. Jackson, US Signal Corps (gemeinfrei)
Europa-Karte - Carnegie Endowment for Peace 1924 (gemeinfrei)
Vertrag - The Library of Congress (gemeinfrei)
Demo - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)
Gustav Stresemann - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)
Ruhrkampf - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)
Abzeichen - Mottenberg (gemeinfrei)
Morgenthau - David Silvette (gemeinfrei)
Gebirgsjäger - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)

15 Kommentare:

  1. Der Vertrag von Versailles von Stefan Sasse.

    Hallo Stefan, toller Artikel über den Vertrag von Versailles. Zur unterstützenden Aufklärung eine link Empfehlung. Videos und Dokumentationen über beide Weltkriege und natürlich auch zum Vertrag von Versailles, findest Du bei http://weltkrieg.cc

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  2. Vielleicht sollte das nochmal jemand lektorieren ;)

    "Für die deutsche Delegation, deren Mitglieder teils einem Nervenzusammenbruch nahe wurden, war der Vertrag der Super-GAU. Im Militär machte man bereits Pläne, wie man Deutschland im Falle einer Nicht-Unterzeichnung würde verteidigen könnte, und "

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  3. Mir fehlen ein paar Punkte, inbesondere jene der extremen, französischen Kurzsichtigkeit. Die 3 meiner Meinung nach wichtigsten:

    3. Churchill schreibt in seinen Memoiren, dass er die Franzosen seit Beginn der 1930er immer wieder auf die Bevölkerungs- und Militätentwicklung aufmerksam gemacht hat. Um 1935/36 sah er D militärisch mit F gleich- und anschliessend davon ziehen. Bspw. durch die Wehrpflicht. F hat trotzig weggeschaut.

    2. Durch die hohen Reparationsleistungen war D gezwungen, hohe Handelsüberschüsse zu generieren. Hier entstand die deutsche Sucht nach Exportüberschüssen. F hat sich hier selbst einen wirtschaftlichen Gegener erster Güte von Hand aufgebaut.

    1. Mit der Besetzung des Ruhrgebiets wegen ausbleibender Reparationen wurde das wichtigste Industriegebiet D's besetzt und mit den daher von dort ausbleibenden Steuern ihrer finanziellen Zurechnungsfähigkeit beraubt. Dementsprechend war das der Durchstart für die Inflation. Chapeau!

    Schreib mal einen Artikel, warum die Deutschen und Franzosen die Neigung haben, nie einen Fettnapf auszulassen... ;-)

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  4. Hi du,

    3. Naja, Churchill wurde zu der Zeit auch in GB weitgehend ignoriert. Und was sollten die Franzosen tun? Sie hatten die Maginot-Linie und waren sich nicht sicher, was die Briten überhaupt tun würden - auch Churchill konnte das nicht garantieren.

    2. Ja, aber die Deutschen erreichten diese Handelsüberschüsse nicht, und im Dritten Reich ging man deutlich andere Wege. Der Startschuss für die heutige Sucht kam mit dem Koreaboom.

    1. Die Ruhrbesetzung war für die Inflation nicht ausschlaggebend. Man erhoffte sich ja vielmehr (korrekterweise), so die Inlandsschulden aus dem WWI loszuwerden.

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  5. Danke für die Infos :)<3

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  6. Danke für die tollen Infos :)
    Liebe Grüße
    Lislichanweiss :)<3

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  7. Ja echt gut
    Grüß
    FLora

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  8. Heey Flora :)
    Machst du auch das Thema?:))
    Lislichanweiss :)<3

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  9. Ne aber ich interessiere mich sehr für das Thema und Schreibe bald eine Dr. Arbeit über das Thema wenn du weißt war ich meine.
    Und ihr?
    Grüßle Flora

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  10. Ja das wissen wir ganz genau ;) haben wir auch schon hinter uns ;)Spaß :D nein wir mach das gerade in der Schule..!
    Hast du vielleicht einen Film dazu?
    Das könnten wir gut gebrauchen, wenn du verstehst was wir meinen ;)
    Lislichanweiss :)<3

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  11. Danke für den Film. Er ist leider von der Modernen Zeit aber wir schauen uns ihn mal an :)
    Ja wir müssen jetzt auch leider wieder in den Unterricht... War schön mit dir zu schreiben! :))
    Lislichanweiss :) <3

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  12. Ich geh dann jetzt mal wieder an meine arbeit wir sehen uns ja dann mal wieder :)
    Flora

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  13. Ja das hoffen wir auch :)
    Lislichannweiss :)<3

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  14. Hey Stefan :)
    Wir haben jetzt sehr viele Kommentare hinterlassen;) aber wir wollten uns nochmal bei dir bedanken :) wir sind gerade an der Präsentation, und haben festgestellt die Bilderauswahl ist einfach spitzeee:)
    Vielen Dank :))
    Lislichannweiss :)<3

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