Von Stefan Sasse
Holocaust-Mahnmal, Berlin 2006 |
Im neu gegründeten deutschen Reich von 1871 war es notwendig, im Eilgang einen nationalen Mythos aufzubauen - im Gegensatz zu den umgebenden Nationalstaaten, so schien es, war man ja erst spät in den Kreis hinzugetreten und konnte noch nicht auf irgendwelche Mythen bauen. Es war deswegen nur folgerichtig, an Bestehendes anzuknüpfen und flugs einen eigenen Mythos zu schaffen. Das Aktuelle ist schnell erklärt: es handelt sich um die Schlacht bei Sedan. Hier wurde "der Franzose" in einer taktischen Meisterleistung besiegt, Kavallerie preschte tapfer in die feindlichen Reihen, bunte Fahnen wehten, am Ende übergab Kaiser Napoleon III. seinen Säbel dem siegreichen Wilhelm I. Dass der Krieg danach mitnichten gewonnen war, übersah diese Folklore geflissentlich und beging den 2. September alljährlich als nationalen Feiertag mit Umzügen, Aufmärschen und viel Getöse- nicht von ungefähr bezeichnete Sebastian Haffner den Sedan-Tag als einzigen nationalen Feiertag, den die Deutschen je hatten.
Germanische Ratsversammlung |
Aus dem heutigen Stand der Geschichtswissenschaft sind diese Interpretationen natürlich haltlos. Germanen und mittelalterliche Potentaten hatten mit dem deutschen Nationalstaat praktisch nichts zu tun, der erst im 19. Jahrhundert wirklich am Horizont wetterleuchtete. Gleichwohl glaubte man damals an die kulturelle Überlegenheit der Deutschen ("Kultur" wurde als beliebter Topos gegen die angelsächsische "Zivilisation" gesetzt) und die Erbfeindschaft mit Frankreich, das man seit dem Dreißigjährigen Krieg, dem Pfälzischen Krieg und natürlich Napoleon stets bekämpft hatte und gegen das man schließlich die Reichseinigung erzwang. Es ist freilich nicht so, dass die nationalistisch-pralerischen Bezüge auf die eigene Geschichte ein rein deutsches Phänomen wären; auffallend war lediglich die plump-auftrumpfende Aggressivität, mit der der Zuspätgekommene sie vertrat, um den Makel seines allzu aktuellen Gründungsdatums mit einer möglichst beeindruckenden Ahnenreihe zu verkomplettieren.
Bildpostkarte aus den 1930er Jahren |
Nach dem Zweiten Weltkrieg war dieses Geschichtsbild bankrott. Die völkische Ideologie war vollständig disavouiert, vom Sieg der "slawischen Untermenschen" im Osten und der "materialistisch-degenerierten" angelsächsischen "Zivilisation" im Westen für alle sichtbar widerlegt. Preußen verschwand durch einen formalen Beschluss der Siegermächte 1947 aus der Geschichte, als hätte es nie existiert. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten die meisten Menschen andere Probleme, als sich um Geschichte zu kümmern, und die Version der Siegermächte, dass Preußen als Hort des Militarismus schuldig sei und deswegen auch aufgelöst werden müsse, erschien den meisten Zeitgenossen als recht logisch und setzte sich auch langsam fest. Zum ersten Mal drängte die Geschichtswissenschaft sich jedoch erst 1961 wieder zurück ins öffentliche Bewusstsein. Fritz Fischers Buch "Griff nach der Weltmacht" verwarf den bisherigen historischen Konsens, dass der Erste Weltkrieg durch ein "Hineinschlittern" aller Beteiligten entstanden sei und wies dem Deutschen Reich die Alleinschuld zu. In einem Land, das noch nicht einmal begonnen hatte, die seelischen Wunden der Nazizeit zu heilen, war diese Erschütterung kaum zu unterschätzen.
Deutschland wendet sich ab, Karikatur von 1904 |
In den 1960er Jahren erhielt das deutsche Geschichtsbewusstsein jedoch noch eine weitere Prüfung: die Aufarbeitung des Holocaust begann, vorerst hauptsächlich juristisch. Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse machten das Ausmaß des Holocaust und die Kompromittierung der Elterngeneration der 68er deutlich sichtbar. Die Frage nach dem "Was hast du damals getan?" entzweite die Generationen, hatten die Zeitgenossen doch den Mythos gerne gepflegt, dass nur einige wenige Nazis die Verbrechen begangen hätten und der Rest eine weiße Weste besaß. Diese Vorstellung begann nun zusammenzubrechen. Der Holocaust begann sich als fester Topos im deutschen Geschichtsbewusstsein zu verankern.
Kein Sonderweg: Wilhelm I. und Napoleon III. bei Sedan 1871 |
Die 1980er Jahre sahen die endgültige Festigung des Holocaust als einem bestimmenden Element deutscher Erinnerungskultur. Angestoßen durch die US-Fernsehserie "Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss" begann eine Breitenaufarbeitung, die 1985 zum Holocaust-Leugnungsverbot führte und sich bis weit in die 1990er Jahre hineinzog. Gleichzeitig aber machte sich mit dem Regierungswechsel 1982 eine neue Betrachtung breit: der neue Kanzler Helmut Kohl verkündete die "geistig-moralische Wende", die implizit den Anspruch eines Schlussstriches enthielt. Es sollte Schluss sein mit den beständigen, "linken" Schmähungen des Nationalstaats. Stattdessen wollten die Konservativen ein neues, positiv besetztes Nationalbild schaffen, an das man unabhängig von den Ereignissen der Vergangenheit erinnern könnte. Es ist nicht zu viel gesagt, diese geistig-moralische Wende für gescheitert zu erklären. Es gelang der schwarz-gelben Politik nicht, einen kohärenten Topos zu finden, der einen neuen Ansatz ermöglichte, obwohl erste Versuche sichtbar sind und sich gehalten haben. Dazu gehört vor allem die Rede von Bundespräsident Weizsäcker vom 8. Mai 1985, in der er anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes erklärte, der 8. Mai sei für die Deutschen nicht Tag der Niederlage, sondern Tag der Befreiung, Befreiung vom Nazi-Regime. Er stellte das deutsche Volk damit in eine Reihe mit den von den Alliierten befreiten Völkern Europas - wenngleich bewusst an letzte Stelle - und ermöglichte so eine Trennung vom "bösen Deutschland" vor 1945. Auch die Erinnerung an die Vertriebenen erhielt unter Schwarz-Gelb deutlich mehr Raum und führte zusammen mit dem an die 1950er Jahre gemahnenden aggressiven Anti-Kommunismus zu einem revisionistischen Potpourri, das glücklicherweise seinerzeit keine Breitenwirkung entfaltete und von seinen Initatoren weitgehend wieder fallengelassen wurde.
Josef Stalin 1942 |
Zu Beginn der 1990er Jahre stellte die Wiedervereinigung neue Fragen und Probleme. Würde ein neues, starkes Deutschland wieder auf alte "Sonderwegs"-Pfade rutschen und versuchen, die Dominanz in Europa anzustreben? Würde es Krieg führen, um die alten Ostgebiete wieder zu erhalten? Die letztere Befürchtung hat sich als überflüssig herausgestellt. Das wiedervereinigte Deutschland hatte jedoch eine neue Aufarbeitung an der historischen Backe: 40 Jahre SED-Diktatur erwarteten ihre Aufarbeitung, und es gab hitzige Diskussionen über die Frage, wie man hier verfahren sollte: man konnte genauso wie nach dem Zweiten Weltkrieg einen Schlussstrich ziehen und bis auf einige wenige Spitzentäter eine Versöhnung einleiten. Oder man konnte dieses Mal, einen scheinbaren Fehler nicht wiederholend, auf rückhaltlose Aufklärung und Bestrafung der Täter setzen. Bekanntlich entschied man sich für Letzters, fasste die Akten unter der Leitung Joachim Gaucks zu einer riesigen Behörde zusammen und begann mit der systematischen Auswertung. Dieser Ansatz verhinderte allerdings wohl eine innere Wiedervereinigung, da der Osten unter Generalverdacht gestellt wurde. Bis heute ist nicht wirklich absehbar, ob mit einer Verbrennung aller Akten und einem Schlussstrich nicht allen besser gedient gewesen wäre, wie es ja auch gefordert wurde - im Guten wie im Schlechten jedenfalls ist die frühere Gauck- und heutige Birthler-Behörde sowohl ein Aufklärungsinstrument als auch eine politische Waffe gewesen. Eine schärfere Einordnung ihres Nutzens und Schadens wird wohl erst in ein oder zwei Jahrzehnten möglich sein und dann auch eine Aussage darüber ermöglichen, welcher Bewältigungsansatz der Bessere war. Mit dem Makel, die NS-Verbrecher mit ihren Massenmorden zwar verschont, die Mauerschützen aber unnachgiebig verfolgt zu haben, wird die BRD so oder so leben müssen. Gegen Ende der 1990er Jahre bestimmte jedoch erneut der Zweite Weltkrieg die Schlagzeilen für historisch interessierte Leser. Eine Ausstellung über die Kriegsverbrechen der Wehrmacht machte Furore. Bislang hatte man in der Aufarbeitung des Dritten Reichs und des Holocaust zwar die Verbrechen der NSDAP, SS und der anderen Nazi-Organisationen und auch die Verstrickung vieler Menschen darin anerkannt - der Mythos, dass die Wehrmacht selbst einen "sauberen", also völkerrechtlich abgedeckten Krieg geführt habe und die Verbrechen von den SS-Einsatzkommandos hinter der Front allein begangen wurden, hatte sich bisher gehalten. Der Aufschrei über die Ausstellung war groß, viele fühlten sich um ihre Vergangenheit betrogen. Sollten nun doch alle schuldig sein, irgendwie? Durfte man denn gar nicht selbst durch die Affäre gekommen sein? Reichte es nicht, ständig auf den Holocaust zu verweisen? Dass der Ausstellung außerdem bald handwerkliche Fehler nachgewiesen werden konnten, die zu einer vorzeitigen Schließung führten, befeuerte diese Diskussion von Neuem.
Gerhard Schröder 2003 |
Gerhard Schröder kann als beispielhafte Personalisierung dieser Generation gelten: nicht nur nahm er als erster deutscher Politiker an den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni teil - die Neuinterpretation Weizsäckers, die Deutschen als letztes von den Alliierten befreites Volk zu betrachten, fand hier ihren symbolhaftesten Ausdruck -, er war es auch, der an die Stelle von der besonderen Schuld der Deutschen am Holocaust die besondere Verantwortung der Deutschen setzte, künftigte Exzesse dieser Art im eigenen Land wie im Ausland zu verhindern. Bekanntlich wurde diese Argumentation bereits von Joschka Fischer 1999 genutzt, als er den NATO-Angriff auf Serbien mit dem Verhindern eines neuen Auschwitz im Kosovo begründete. Ohne eine Diskussion über die Rechtmäßígkeit dieses Einsatzes starten zu wollen, ein Auschwitz drohte ganz sicher nicht, aber die Instrumentalisierung stieß 1999 auf kaum Protest - deutliches Zeichen dafür, dass sich im Bewusstsein etwas geändert hatte. Als 2006 das Holocaust-Mahnmal in Berlin nach langem Zerren eingeweiht wurde, fand man kaum mehr etwas dabei, dass das Sprichwort kolportiert wurde, es solle "ein Platz sein, zu dem man gerne geht". Das Verhältnis der Deutschen zum Holocaust und der eigenen Vergangenheit hatte sich um die Jahrtausendwende spürbar entkrampft - keinen Augenblick zu früh, denn die immer stärkere Ritualisierung des Erinnerns hatte diejenigen Deutschen, die deutlich nach dem Krieg geboren waren, mehr und mehr verärgert und erreichte kontraproduktive Ausmaße, die durch die neue Lockerheit wieder eingedämmt werden konnten.
Guido Knopp |
Diese Entwicklung kann gottlob noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Die Historikerzunft selbst ist merkwürdig still, der letzte große Auftritt - der "Historikerstreit" - datiert auf die 1980er Jahre. Dabei wäre es gerade an ihnen, die Erkenntnisse der Forschung der letzten dreißig Jahre stärker in den öffentlichen Fokus zu rücken und nicht auf dem Stand der 1980er Jahre verharren zu lassen oder gar revisionistischen Amateur-Historikern das Feld der Meinungshoheit zu überlassen. Es ist richtig, sich von überkommenem Ballast vergangener Jahrzehnte zu trennen und ein unverkrampfteres Verhältnis zur eigenen Geschichte anzustreben. Es kann aber nicht Ziel sein, einem Geschichtsrevisionismus das Wort zu reden, der zwar das erreicht, an Stelle der veralteten Ideen aber Gedankengut setzt, das seine Wurzeln aber in ganz trüben Grund reichen lässt.
Bildnachweise:
Mahnmal - K. Weisser (CC-BY-SA 2.0)
Germanen - Wolpertinger (gemeinfrei)
Postkarte - Photo Hoffmann (gemeinfrei)
Karikatur - unbekannt (gemeinfrei)
Sedan - Walter Stein (gemeinfrei)
Stalin - Margaret Bourke-White (CC-BY-SA 3.0)
Schröder - Hinrich (CC-BY-SA 2.0)
Knopp - richardfabi (gemeinfrei)
"[...]Es ist richtig, sich von überkommenem Ballast vergangener Jahrzehnte zu trennen und ein unverkrampfteres Verhältnis zur eigenen Geschichte anzustreben. Es kann aber nicht Ziel sein, einem Geschichtsrevisionismus das Wort zu reden, der zwar das erreicht, an Stelle der veralteten Ideen aber Gedankengut setzt, das seine Wurzeln aber in ganz trüben Grund reichen lässt[...]"
AntwortenLöschenDanke für, seh ich ganz genauso. Übrigens, Guido Knopp ist auch bei einer Skeptiker-Seite erwähnt, diesmal nicht als Geschichts- sondern aus Wissenschaftsfälscher:
http://www.wissenrockt.de/2011/02/11/zdf-history-ersetzt-predigt-und-marchenstunde-16396
Obwohl? Wenn ich es recht überdenke? Gehört Geschichts- und Wissenschaftsfälschen nicht zusammen, lieber Stefan Sasse.
Vielleicht schreibst Du auch einmal darüber etwas?
Wäre doch auch mal ein Thema für deinen Geschichtsblog, die zunehmende Wissenschaftsfeindlichkeit vieler Deutscher.
Gruß
Bernie
Sehr guter Artikel.
AntwortenLöschenZu Guido Knopp fällt mir Rainald Grebe ein
http://www.youtube.com/watch?v=4v6kxEBsrF0
"Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss" gab auch den Anstoß zu wertkritischen marxistischen Deutungsversuchen des Holocaust (die in der Folge die Anti-Deutschen dann überinterpretierten): http://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/pdf/postone-deutschland_lp.pdf
AntwortenLöschenNaja, bei dem Historikerstreit ging es ja nicht um Stalin, und leider hält sich in manchen Kreisen immer noch viel davon. Und es kommen durchaus selbst viele Konservative auf die Idee, Stalin und Hitler, auch sozusagen von der Schlimme der Verbrechen, gleich zu setzen. Oder nimm die Extremismustheorie.
Korrektur: ich meinte natürlich "nicht nur um Stalin"
AntwortenLöschenvon noirc80@yahoo.com:
AntwortenLöschenes heißt "desavouieren".
ansonsten toller artikel! falls du daran weiter schreiben möchtest:
nur die schatten bleiben: der aufstand im vernichtungslager sobibór von thomas t. blatt
und hitlers jüdische soldaten von bryan mark rigg;
die beiden genannten werke nähern sich dem thema sehr differenziert und sind wohl am ehesten geeignet neonazis und phrasengedenkern die realität vor augen zu führen.
...Versorgungsstation der Enkel...
AntwortenLöschenLeiden sie unter Rechenschwäche?
Oder rechnen sie alle lebenden Menschen über 65 Jahre zu den Toten?
Werden Verbrechen nur deshalb zu Nichtverbechen, weil deren Opfer verstorben sind.
Ihre menschenverachtende Logik könnte man, wenn sie begründet wäre, auch auf andere sachbezogene Gebiete ausweiten. Demnach müssten die Entschädigungszahlungen an die NS- Opfer ebenfalls nur "Versorgungsstationen für die Enkel" sein.
Peinlich, daß ihre Argumentation sich so leicht als pure Heuchelei darstellen lässt.
Sie sind scheinbar davon ausgegangen, daß ihre Leser noch nicht einmal 1+1 zusammenzählen können. Es ist dumm und überheblich, unbedingt von sich auf andere schließen zu wollen.