Sonntag, 24. Juli 2011

Krieg im 19. und 20. Jahrhundert Teil 1/3

Von Stefan Sasse

Dt. Soldaten reißen den Grenzbaum zu Polen ein
Der Zweite Weltkrieg als Kriegstypus des 20. Jahrhunderts hat die Entwicklungen in Europa zum „gehegten“ Staatenkrieg widerrufen, da systematisch die Grenzen zwischen Kombattanten und Zivilisten niedergelegt wird – das Hauptmerkmal des Totalen Krieges. Diese Trennung stellt eine Entwicklung seit dem Dreißigjährigen Krieg dar; sie wurde auch in Europa nie vollständig umgesetzt, in den Kolonialkriegen jedoch hielt sich niemand daran. Trotzdem hatte man es in Europa weitgehend umgesetzt; deswegen stellte der Zweite Weltkrieg einen deutlichen Bruch dar. Gleichzeitig stellte der Zweite Weltkrieg das Ende des traditionellen Staatenkriegs dar. Die Zahl der (Bürger-)Kriege ist seit damals stark gestiegen; vor allem außerhalb Europas. Global gesehen ist Krieg eine dynamische Wachstumsbranche. 

Eine kontrovers diskutierte Frage in diesem Zusammenhang ist, ob Terrorismus Krieg ist. Krieg wird dabei als „gewaltsamer Massenkonflikt“ definiert, bei dem „von mindestens einer Seite reguläre Streitkräfte eingesetzt werden und die Kämpfe zwischen diesen und anderen Gewaltformationen müssen mit einer gewissen Kontinuität ausgetragen werden“ müssen. Wenn Terroristen ihren Terror also kontinuierlich aufrecht erhalten und staatliche Reaktionen provozieren, zählt dies durchaus als Krieg – eine Definition, die Bush mit den „Kriegen des 21. Jahrhunderts“ umschreibt. Wenn der Terror unter „Krieg“ gefasst werden soll, verändert sich dadurch auch das Kriegsbewusstsein der Menschen.

George W. Bush
In der frühen Neuzeit sprach man vom „Kriegstheater“, nach Ende der Kampfhandlungen verließen die Parteien gewissermaßen die Bühne. In den modernen Kriegen ist dieses „Kriegstheater“ nicht mehr feststellbar, da der Krieg weder in einem definierten Raum noch mit erkennbaren Akteuren ausgetragen wird; der „asymmetrische“ Krieg findet anders statt. Die Bush-Definition der „failed states“ kann so als Versuch verstanden werden, den Krieg und den Kriegsgegner zu lokalisieren und zu benennen. In den modernen Kriegen kann das Ende des Krieges nicht mehr ausgemacht werden; meist nicht einmal mehr Kriegsziele. Kriegserklärungen sind im 20. Jahrhundert bereits verschwunden. 

Eine Entwicklung hat sich gehalten: Feindbildstereotypen. Die Begründungen wechseln; doch die Bedeutung der Feindbildstereotypen für die Bereitschaft der Bevölkerung zum Krieg bleibt. Anhand der Stereotypen kann man auch einiges über die Art des Krieges herauslesen. Im 19. Jahrhundert wurde die Trennung zwischen Soldaten und Zivilisten im Großen und Ganzen nicht aufgehoben. Eine blutige Ausnahme ist dabei der amerikanische Bürgerkrieg, der besonders im Gegensatz zu 1871 aufmerksam als solche registriert wurde. Vorläufer zum Totalen Krieg finden sich jedoch bereits seit dem späten 18. Jahrhundert, besonders in den Kolonien (man denke nur an den Dschyhad gegen Frankreich, der in Algerien ausgerufen wurde). Das Wort vom Totalen Krieg taucht zum ersten Mal im Ersten Weltkrieg auf, wo die Bevölkerung und die Wirtschaft zu einem erheblichen Teil in die Kriegsanstrengungen eingebunden wurden. 

Die Neuzeit ist auch von dem Versuch der Staaten geprägt, den Krieg und damit die staatliche Gewalt zu monopolisieren – Krieg geht also nur von Staaten gegen Staaten aus. Das war nicht immer so; beispielhaft sei hier das Fehderecht des frühen Mittelalters erwähnt. Lexika des 19. Jahrhunderts weisen noch den „privaten Krieg“ auf, der im Gegensatz zum „öffentlichen Krieg“ steht. Beide Varianten waren damals noch geläufig, was dem Monopolisierungsstreben der Staaten keinen Abbruch tat. Selbige waren auch weitgehend erfolgreich. Gleichzeitig ist eine „Affinität des frühmodernen Staates zum Raubzug“, sprich: Eroberungskrieg, erkennbar. Der Staat ist gleichsam Monopolherr des Krieges wie auch Kriegsmaschine. Der Staat führt Kriege, weist sie nicht zurück – und so steigt die Zahl der Kriege deutlich an. Johannes Burkhardt unterscheidet hier zwischen Staatenkrieg und Staatsbildungskriege. Die Kriege der Neuzeit sind dabei fast durchweg Staatsbildungskriege. Solche sind durchweg Phasen erhöhten Kriegsaufkommens und Kriegsbereitschaft, denn Staatsbildung lässt sich selten ohne Krieg finden und die Neuzeit ist eine Zeit der Staatenbildungen. Damit erklärt er die „frühneuzeitliche Bellizität“ Europas. Die Staaten erkennen sich dabei als im Prinzip gleichberechtigt an; dies war ein mühsamer Lernprozess, der erst im späten 19. Jahrhundert vollendet wurde. In der frühen Neuzeit hieß dies, den Anspruch der universalistischen Gewalten (Papst und Kaiser) zugunsten der sich formierenden Einzelstaaten zurückdrängen. Selbige mussten wiederum konkurrierende Gewalten wie die Stände zurückdrängen. Dies geschah überall mit kriegerischer Gewalt. Als Ergebnis entwickelt sich ein aus Territorialstaaten bestehendes Staatensystem, in dem die universalen Gewalten kaum eine Rolle spielen und innerhalb dessen sich die Staaten anerkennen.

Landsknechte
Das frühneuzeitliche Militärwesen war so organisiert, dass es einen Anreiz zum Krieg bot. Die Söldnerheere stehen dabei quasi im Gegensatz zu den Volksheeren des 19. Jahrhunderts und führten damit zu einem profitablen „Gewaltmarkt“, wie er auch heute wieder entsteht bzw. bereits entstanden ist. Der frühneuzeitliche Staat ist dabei „unfertig“, sowohl institutionell nach außen und innen als auch programmatisch und theoretisch. Er bedurfte also Stützen, um die Staatlichkeit zu rechtfertigen, was Kriege ebenfalls begünstigte. Die Hauptstütze war dabei Religion bzw. Konfession. Auch diese hat Kriegsbereitschaft gefördert. Die Entwicklung der Staatsbildungskriege zieht sich bis weit ins 19. Jahrhundert, mit dem Ziel der Nationalstaatsbildung. Diese Tradition lässt sich bis ins 20. Jahrhundert fortführen. Friedliche Staatenbildungen finden sich beinahe nur im hohen Norden Europas sowie der Wiedervereinigung Deutschlands und der Spaltung der Tschechoslowakei; dies waren jedoch Ausnahmefälle. Das historische Muster ist die Staatsbildung durch Krieg.

Es ist aussichtslos, den Staat vom Krieg zu trennen zu versuchen und dabei den Krieg dem „schlechten“ Nationalstaat zuzuschreiben. Ein Musterbeispiel für nationale Entwicklung ist Frankreich; es trat zuerst mit inneren Auseinandersetzungen, dann mit Krieg nach außen in die Staatenform ein. Im Gegensatz zu anderen Staaten, die erst Territorium erobern mussten, besaßen die Franzosen ein solches bereits. Dabei ist auch wichtig, dass Frankreich bereits vorher als Staatengebilde bestand, als Monarchie, die schon immer Krieg geführt hatten. Weiter im Osten war die Situation gänzlich anders; aufgrund der vielfältigen Staatenlandschaft wurde die Devise „eine Nation, ein Staat“ äußerst schwierig und kaum ohne Krieg umzusetzen. Zu der Forderung nach dem Nationalstaat gehörte auch die der gleichen politischen Rechte für alle und in letzter Konsequenz eine soziale Sicherung. Somit wurde die Idee des Nationalstaats zur großen Fortschrittsideologie, die Chancengleichheit und ein besseres Leben für alle Bürger bringen sollte. 

Die Bereitschaft, für diese Glücksverheißung Gewalt einzusetzen ist ebenso bis heute überkommen wie die Utopie an sich. Diese Kriegsbereitschaft hat das westliche Modell der Staatsbürgermodell mit der Entwicklung anderer Staaten Europas verbunden. Es besteht kein Unterschied zum auf Ethnologie basierenden „Volkstaat“ anderer Teile Europas. Es existiert kein friedlicher Musterweg in der europäischen Geschichte, auch nicht in der Frankreichs oder Großbritanniens. 

Frühneuzeitliche Soldaten
Der zeitgenössische Historiker Renan sah die Gewaltbereitschaft beispielsweise der Franzosen bei der Schaffung ihrer Zentralstaats als notwendig und der friedlichen Expansion der Habsburger Monarchie überlegen(!), welche damit einen historischen Kardinalfehler begangen habe. Friedliche Möglichkeiten erkannte er keine; er sprach sich gegen Plebiszite um umstrittene Territorien aus. Die Staatsbildung sei ein „Akt auf Leben und Tod einer großen Solidargemeinschaft, aber eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der gemeinsamen Opfer die man erbracht hat und noch zu erbringen bereit ist“. In ethnischen Kriegen sah er dagegen „zoologische Vernichtungskriege“. Die Nation sei eine Gemeinschaft ohne Ewigkeitsanspruch, gegründet auf Kultur und Zivilisation und durch Kriege auch wieder veränderbar. Er hoffte jedoch letztlich, mit einer europäischen Konföderation den Krieg letztlich zu überwinden. Er wollte ein nach außen starkes Europa, das sich gegen den „Islamismus“ zur Wehr setze, der quasi eine Negation Europas sei, da er weder die bürgerliche Gesellschaft noch die Wissenschaft als eigenständige Werte akzeptieren könnte, die er als zentrale Kulturwerte Europas ansah. 

Auch die Staatszerstörung gehört zum Kanon der damaligen Welt. So sahen sich die Siegernationen des Ersten Weltkriegs im Recht, als sie „staatenlosen Nationen“ ihren eigenen Nationalstaat schaffen wollten. Der Nationalstaat ist untrennbar in einer Symbiose mit dem Krieg verbunden und die Basis für den wirtschaftlichen wie kulturellen Fortschritt dieser Zeit. Dabei wurden die (westlichen) Staatsbürgernationen gerne als friedliches Zukunftsbild den (östlichen) „Volksnationen“ gegenübergestellt. Selbst die Schweiz entstand erst im Krieg von 1847 als Nationalstaat. 

Der Krieg gerierte sogar zur Veränderungskraft und wurde, paradox genug, zur großen Hoffnung von Demokraten. Die Bereitschaft zum Krieg darf also nicht den Konservativen zugeschrieben werden; Krieg galt als Fortschrittsmotor und wurde auch und besonders von Demokraten propagiert. Gekoppelt mit Krieg wurde das 19. Jahrhundert zum Jahrhundert der Emanzipationsbewegungen. Es existierten auch Programme internationaler Solidarität, beispielsweise von den Arbeiterbewegungen. Aber sie traten immer von der politischen Bühne ab, sobald die eigene Nation in ihrer Existenz gefährdet schien. Der Krieg als Reformmotor kumulierte im Ersten Weltkrieg im Begriff der „Heimatfront“. Dadurch können quasi auch jene am staatsbürgerlichen Innenleben partizipieren, die bisher ausgeschlossen waren – was sich auch im Wahlrecht niederschlug. 

Kriegerdenkmal in Berlin-Bernau
Kriege entfalten aber nicht nur integrative Wirkung, sie waren auch stets gefährlich für Minderheiten, die in Verdacht standen, nicht bedingungslos loyal zur kriegführenden Nation zu stehen. Dazu kommt die Beliebigkeit, da beinahe alle Ideen und Ziele in den Krieg heineinsubsumiert werden können. Stark war auch die Idee der Nation als Wachgemeinschaft. Selbst die Idee des multinationalen Staates wurde mit der erhöhten Wettbewerbsfähigkeit und Stärke im Krieg propagiert und verteidigt. Ein weiteres Phänomen, das sich in dieser Zeit entwickelt hat, ist die Säkularisierung bzw. Nationalisierung des Totenkults.

Im 19. Jahrhundert fanden viele Revolutionen statt, die allesamt in einen Krieg endeten. Erst die friedliche Revolution beim Zusammenbruch des Ostblocks durchbrach diese blutige Regel. Dabei lassen sich zwei Revolutionen unterscheiden: die staateninterne Revolution, die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft und des Staates durchsetzen will und das internationale Machtgefüge unangetastet lässt, und die staatenübergreifende Revolution, die eine ganze Gesellschaftsordnung oder Staatenordnung in Frage stellen. Besonders die Nationalrevolutionen, die als Ziel die Schaffung von neuen Nationalstaaten hatten, waren ohne Krieg nicht vorstellbar, da sie zwangsläufig bestehende Staatsgrenzen tangieren. Wenn dabei territoriale Veränderungen notwendig waren und nicht nur ein bestehendes Gebiet in einen Nationalstaat transferiert werden sollte, steigt die Kriegsgefahr exponentiell. Ausnahmen solcher Revolutionen ohne Krieg gibt es im 19. Jahrhundert ganze zwei: die Loslösung Norwegens von Schweden und Islands von Dänemark. 

1848 war bekannt: Keine Revolution ohne Gewalt; das war die Lehre der Geschichte. Man hatte stets 1789, die französische Revolution, als Verlaufsmodell vor Augen. Es bestand in den Augen der damaligen Akteure die Notwendigkeit des Durchlaufens des revolutionären Zyklus’ der französischen Revolution, so man diesen Prozess nicht künstlich stoppte. Die entschiedenen Revolutionäre haben seinerzeit im Mai 1848 von der Pariser Nationalversammlung verlangt, ihre Revolution mit Krieg nach außen zu tragen, um die Polen zu unterstützen. Die Gemäßigten versuchten dabei, eben diesen Krieg zu vermeiden. Die Nationalversammlung lehnte das Ansinnen mit der Begründung ab, es sei die Hauptaufgabe der Nationalversammlung, in Frankreich dem Bürgerkrieg die Stirn zu bieten. Ein Jahr später, im Mai 1849, beschloss sie jedoch, Truppen nach Rom zu entsenden – zur Unterdrückung der römischen Revolution und Republik. Der damalige Außenminister Tocqueville lehnte dies ab; nicht, weil er den Krieg als Mittel der Politik verachtete, sondern weil er gegen einen Revolutionskrieg war. Sollte jedoch „Frankreichs Recht“ gefährdet sein (besonders im Hinblick auf eventuelle russische Aktionen), so würde Krieg das Mittel der Wahl sein. Tocquevilles befürchtete außerdem, dass die Revolution von 1848/49 sozialistisch sei. Das ist die Position eines gemäßigten Reformers. 

Karl Marx 1867
Marx und Engels indes erkannten sehr gut die Verbindung zwischen Revolution und Krieg, die seltsame Allianzen hervorbrachten, wenn die nationalen Interessen übereinstimmten, was sie als „Ideenverwirrung“ bezeichneten. Diese Verwirrung werde aber nicht von langer Dauer sein, da der Krieg alle Revolutionäre gegen alle Konterrevolutionäre einen werde. Das geschah bekannterweise nicht so; besonders, weil nationale Revolutionäre oft um gleiche Gebiete konkurrierten, wo die Herrscher in der Lage waren, ihre Meinungsverschiedenheiten beiseite zu stellen und eine internationale Konterrevolution zu schaffen. Die Revolution rechtfertigte für Marx und Engels jedes Opfer. Beide hofften auf den Krieg gegen Russland und machten Werbung dafür. Die Befürchtung, dass ohne Ausschalten des konterrevolutionären Zentrums Zar die Revolution keine Chance hatte, bewahrheitete sich schließlich. 

Die ungarischen Revolutionäre, die sogar die Republik Ungarn erklärten und sich aus der Habsburger Monarchie lösten, bauten eine eigene Armee in Kenntnis dieser Zusammenhänge auf, die sich auch hervorragend gegen die habsburgische Armee schlug – bis der Zar massiv intervenierte. Die damit frei gewordenen österreichischen Truppen schlugen daraufhin die italienische Revolution nieder. Auch in Deutschland hat das russische Eingreifen große Auswirkungen gehabt; der Rückhalt beim Zaren versetzte den preußischen König in die Lage, die letzten Zentren der Revolution in Deutschland in Sachsen und Baden niederzuschlagen. Die Janusköpfigkeit der Nationalrevolutionäre zeigt sich am Beispiel Polens, wo die deutschen Nationalrevolutionäre eindeutig von Polen bewohnte Gebiete beanspruchten. Auch Engels dachte über eine Ostverschiebung Polens nach. Gut sichtbar ist dies auch am Frieden von Malmö. 

An Frankreich erkannte man, was Engels aufmerksam registrierte, dass eine Revolution nicht zwangsläufig sozialrevolutionär sein muss. Im allgemeinen galt jedoch eine Nationalrepublik als Kampfansage an die Monarchien Europas, was ein Eingreifen der auf eine Verhinderung einer Republikanisierung Europas bedachten Monarchen Europas zur Folge hatte. Noch schwieriger sah die Lage in Deutschland aus, wo es nötig wäre, 38 souveräne Herrschergeschlechter abzusetzen, was eine radikale Revolution und ein folgendes zentrales Staatsgebilde erforderlich gemacht hätte. Dazu waren die meisten Deutschen nicht bereit, auch nicht die Revolutionäre selbst, und die Unterstützung irgendeines monarchischen Staates war nicht auch nur im Geringsten zu erwarten, wodurch die Chancen weiter beschnitten wurden. Das ist auch der Grund, warum die meisten Revolutionsprodukte gekrönte Häupter erhielten, die häufig nicht einmal von der gleichen Nationalität waren wie der Staat. Dies war zum Erreichen von notwendigen Kriegsallianzen bedingt. Die Monarchie war sicherlich ein sehr hoher Preis für Revolutionäre, aber ohne ihn zu bezahlen bestand keine Chance für einen Erfolg der Revolution, war im 19. Jahrhundert doch keine Revolution ohne Krieg nachzudenken. 

König Leopold I. von Belgien
Ein Beispiel ist die belgische Revolution von 1838. Innenpolitisch wurden eine liberale Verfassung sowie gemäßigte Reformen durchgesetzt. Der neue belgische Nationalstaat, der sich aus den Niederlanden abspalten musste, setzte auf einen Monarchen aus dem Hause Coburg ein, das klein genug war um niemanden um eine Erschütterung des europäischen Mächtesystems fürchten lassen zu müssen. Die europäischen Mächte gaben eine kollektive Garantie für die Neutralität und Integrität des neuen belgischen Staates ab. Nachdem man die Revolution nach innen begrenzt und außenpolitisch neutralisiert hatte, unterstützten die ausländischen Mächte die Belgier gegen den niederländischen König. Der Zar war zu dieser Zeit in Polen gebunden und konnte nicht intervenieren. Ein Ergebnis dieses Prozesses war auch die Chancenlosigkeit der polnischen Nationalrevolution, die schon alleine wegen der Territorialinteressen der Preußen und Österreicher diese kaum gewinnen konnte. Immerhin konnte sie die liberale Öffentlichkeit gewinnen; der entscheidende Faktor blieben aber die zaristischen Truppen. Ein weiteres Beispiel ist die Bildung des griechischen Nationalstaats, die durch die Schwäche des zum schrittweise Rückzug gezwungenen Osmanischen Reiches und das Interesse der europäischen Mächte an einer Ausdehnung ihres Einflusses möglich wurde. Griechenland signalisierte ein Eingliedern ins europäische System und holte sich einen bayrischen Monarchen ins Boot. 

An diesen Beispielen zeigt sich, dass die Revolution militärisch siegen musste um zu überleben, oder zumindest die Duldung und Allianz mit europäischen Mächten brauchte. Die Balkanrevolutionen mussten ohne Hilfe auskommen und so mit militärischen Mitteln sich gegen das Osmanische Reich durchsetzen.

Warum galt der Krieg im 19. Jahrhundert als Fortschrittsmotor? Nicht, weil die Menschen brutal und zynisch waren, sondern weil sie die Auswirkungen sahen: der Krieg schuf Nationalstaaten, die als fortschrittlich galten, er schuf Revolutionen, und selbige konnten nur mit Krieg erfolgreich sein und so Fortschrittsblockaden durchbrechen, und zuletzt ermöglichte Krieg Expansion, eine militärische wie wirtschaftliche Durchdringung der Welt. Dieser Punkt verhalf mit der militärischen Überlegenheit der Europäer dem 19. Jahrhundert zu seinem Status als „europäisches“ Jahrhundert. Auch die Wissenschaft gehörte zu den Faktoren, die die Weltdominanz Europas im 19. Jahrhundert begründeten. Vor allem nach Deutschland, aber auch in die anderen Nationen Europas kam man, um zu sehen, wie Universitäten organisiert werden mussten.
Landsknechtsgefecht
Einher ging diese Verwandlung mit dem Entstehen der Nationalstaaten; nur sie zeigten sich in der Lage zur Mobilisierung der für die Expansion notwendigen Ressourcen, will heißen: zum Aufbau eines mächtigen Militärs. Die hohe Bedeutung der militärischen Stärke für das Durchsetzen im internationalen Machtkampf ist dabei so alt wie die Staaten selbst. Wolfgang Reinhard sieht dabei in der Kriegführung der Europäer mehrere entscheidende Merkmale: die hohe Disziplin seit den griechischen Hopliten, die viele Siege erst ermöglichten, sowie der Vernichtungswille der Europäer, der beispielsweise im Kampf gegen eher auf ritualisierten Kampf und Gefangennahme Vorteile brachte. Diese beiden Faktoren wirkten sich stärker aus als die der militärischen und technischen Überlegenheit; es entstand in Europa ein Rüstungswettlauf, der viele technische Innovationen für die Kriegführung hervorbrachte, die sich nur von Nationalstaaten nutzen lassen, wie schwere Artillerie und Schlachtschiffe – so Reinhard. Die europäischen Staaten sind so modern geworden, dass sie die Welt dominieren konnten, weil sie untereinander in Konkurrenz getrieben wurden, die ständig Innovationen hervorbrachte, eine Konkurrenz, die auch mit militärischen Mitteln ausgetragen wurde („Der Krieg macht Staat, der Staat macht Krieg“). Diese Bereitschaft, Innovationen in Kriegen auch einzusetzen, machten Europa laut Bailey weltweit überlegen in seiner Effizienz im Töten.
Der Beginn der europäischen Vorherrschaft ist dabei auf das ausgehende 18. Jahrhundert anzusetzen. Die Briten machten in der frühen Neuzeit mit der Kontrolle über die Weltmeere den Anfang. Daraus entwickelte sich eine starke Flottenbegeisterung, nicht nur in England (man denke nur an den deutschen Flottenverein seit 1848). Auf Flotten war jede Macht angewiesen, wie ein Imperium aufbauen wollte. Nur Russland wich von diesem Muster ab und expandierte auf dem Land, baute aber trotzdem eine Kriegsflotte auf. Europa hat dabei keine fest definierte Grenze, da es nach Osten und Südosten offen ist. Deswegen wurde auch bis in die heutige Zeit häufig versucht, diese Grenze zu definieren und neu definieren. Kriegsflotten galten im 19. Jahrhundert als Ausweis von Weltmacht; das hat sich effektiv bis heute gehalten. Den Beginn dieser Entwicklung kann man mit dem Siebenjährigen Krieg gesetzt werden, der oftmals als „Erster Weltkrieg“ bezeichnet wird. Obwohl nur europäische Staaten gegeneinander kämpften, fochten vor allem England, Frankreich und Spanien auch in den außereuropäischen Staaten um die Kolonien. Frankreich verlor in diesem Krieg fast alle Besitzungen in Nordamerika und Indien an Großbritannien. Ein echter Weltkrieg war es jedoch nicht, vielmehr ein Weltkrieg europäischer Staaten. Spanien scheidet dabei aus dem Kampf um die Weltmacht aus, obwohl es sich gegen Napoleon erfolgreich zur Wehr setzte und dabei den Guerillakrieg prägte und erfand.
Die Konkurrenz der europäischen Staaten, die im 18. Jahrhundert bereits Kolonien besaßen, wird nun in eben diese getragen. Europa als Kontinent selbst erlebte ab 1815 eine ungewöhnlich lange Zeit des Friedens; Konflikte blieben punktuell begrenzt und weiteten sich nie aus, was oft als große Leistung der europäischen Politik gefeiert wird. Erkauft jedoch wurde dieser Frieden in Europa mit Krieg außerhalb Europas in den „atlantischen Kriegen“. Dies hatte unvorhergesehene Folgen:
1)      Großbritannien steigt zur Weltmacht Nummer 1 auf, gestützt auf eine starke Flotte und die bald größte Wirtschaftsmacht der Welt. Frankreich fällt dabei zurück.
2)      In Latein- und Mittelamerika werden die autonomen Unabhängigkeitsbewegungen gestärkt; besonders auffällig in Haiti, wo erstmals Farbige einen unabhängigen Staat erzwangen. Das bezahlte Haiti mit dem Zusammenbruch seiner Zuckerproduktion und damit dem Ausscheiden aus der Weltwirtschaft – und völliger Verarmung.
3)      Großbritannien wurde durch seine Machtintensivierung zwar zur Weltmacht Nummer eins, in Nordamerika führte diese Machtintensivierung jedoch zur erfolgreichen Gegenwehr der Kolonien, die sich militärisch gegen die europäische Metropole durchsetzten und mit der Monroe-Doktrin den europäischen Einfluss zu begrenzen versuchten (Amerika den Amerikanern).
4)      Napoleons Invasion im Osmanischen Reich scheiterte, schockierte aber die islamische Welt und setzte sie unter politischen Reformdruck; vor allem das Osmanische Reich unternimmt im 19. Jahrhundert eine Fülle an Versuchen, sich an die Modernisierung der Europäer anzuschließen.
5)      Das Vordringen eines Konkurrenten auf einen bestimmten Kontinent sorgte sofort für das Nachdringen des Konkurrenten.
In dieser Zeit war es auch nötig, die Unterstützung der eigenen Gesellschaft zu bekommen. Das war auch der Grund, warum die letzten Staatsbildungskriege in Europa nur begrenzte Kriege auslösten, da die Menschen Staatsbildungskriege als legitim ansahen.

Bildnachweise:
Grenzbaum -  Hans Sönnke (CC-BY-SA 3.0)
George W. Bush -  Eric Draper (gemeinfrei)
Landsknechte - Daniel Hopfer (gemeinfrei)
Frühneuzeitliche Soldaten - Sebald Beham (gemeinfrei)
Kriegerdenkmal - Dabbelju (GNU 1.2)
Marx - Friedrich Karl Wunder (gemeinfrei)
Leopold - unbekannt (gemeinfrei)
Landsknechtsgefecht - Douglas Miller (gemeinfrei)

Diese dreiteilige Serie basiert auf der gleichnamigen Vorlesung von Prof. Dr. Langewiesche.

4 Kommentare:

  1. Schön.
    Ich bin ein eifriger Leser deines Blogs (habe alle Beiträge von alt nach neu durchgelesen, naja, fast alle), aber ein (wie man sieht) etwas inspirationsloser Kommentator.

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  2. Danke! Und auch so was liest man gerne :)

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  3. Und so etwas schreibt man auch gern!
    (Ganz schön schnelle Antwort, man man.)

    So, wir wollen es aber auch nicht übertrieben mit dem Eierschaukeln :-)

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  4. Nein, keine Bange, da besteht wenig Gefahr :)

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