Von Stefan Sasse
Teil 1 findet sich hier.
Auch die  Lebensraumideologie leitet sich aus dem völkischen Denken her und setzt  voraus, dass man in Kategorien von Raum und Volk und nicht in solchen  von Staat und Nation denkt. Die Landwirtschaft in Ostpreußen war wegen  der Unterbevölkerung kaum funktionsfähig und auf Erntehelfer aus Polen  sowie Saisonarbeiter aus Deutschland angewiesen. Auch die Wegnahme  Elsass-Lothringens, eigentlich nur ein Bismarck-Raub, forderte  in diesem Weltbild Kompensationen – eben Lebensraum. Der zentrale Punkt der  Lebensraumideologie ist also der Versailler Vertrag. Sie kokettiert  außerdem mit den Sehnsüchten des Städters im Industriezeitalter, was die  Nationalsozialisten propagandistisch ausschlachteten, besonders in  Bildern. Der Bauerngedanke wird somit gleichzeitig imperialistisch  aufgeheizt. Der Lebensraum nimmt also den Rassegedanken auf, sofern er  ihn nicht sowieso bereits in sich trägt. Diese  drei Elemente sind keine des europäischen Faschismus’, sondern  spezifisch deutsche Elemente. Die große Gewalttätigkeit des  Nationalsozialismus findet ihr Scharnier in Hitler selbst, weniger im  Programm der NSDAP. Die Verbindung der Formel von "National" und "Sozial"  war nach 1918 dazu geeignet, Massen zu mobilisieren und Wähler zu  gewinnen. Er ist die schlichte Antithese des internationalen  Sozialismus, des Marxismus. Der nationale Sozialismus ist dabei  hochgradig aggressiv, im Gegensatz zum internationalen. 
Teil 1 findet sich hier.
| Hoheitszeichen der NSDAP | 
Das  völkische Denken verschwamm ab 1933 und besonders ab dem Zweiten  Weltkrieg bis zur Untrennbarkeit mit dem Nationalsozialismus, was in  seiner Anlage nicht enthalten war. Die nationalsozialistische Bewegung  entstand ab 1919 und ist untrennbar mit der Gründungskrise der Weimarer  Republik verbunden. Die Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung, die  sowohl Ursache als auch Voraussetzung für diese Krisen war, entstand im  Ersten Weltkrieg; die Toleranzschwelle für Gewalt sank sowohl in Politik  und Militär als auch in der Gesellschaft als solcher; die Soldaten  brachten die Fronterfahrung mit, die in Männlichkeitsvorstellungen  eingebunden ist und Gewaltausübung einschließt, die abgeschüttelt werden  muss oder aber in der Zivilgesellschaft beibehalten wird. Durch  letztere Möglichkeit bilden sich die Kampfbünde, die allen  faschistischen Staaten gemein sind, so beispielsweise die SA. Ebenso  zugehörig sind die Freikorps.
| Kurt Eisner, um 1919 | 
In  München existierte es die so genannte Thule-Gesellschaft. Der Name spricht  anti-rational, anti-romanisch und anti-westlich das völkische Denken mit  diffuser Rückbesinnung auf irgendwelche germanische Vorzeiten an. Sie  ist im bürgerlichen und großbürgerlichen Milieu verankert und propagiert  eine Weltanschauung, in der Antikapitalismus und Antisemitismus  nebeneinander existieren. Auch das rassische Denken ist bereits  enthalten. Aus diesen Kreisen rekrutieren sich die „Intellektuellen“ des  Nationalsozialismus. Außerdem verlegt er das Blatt „Münchener  Beobachter“, der später zum Völkischen Beobachter wird. Über den  „Beobachter“ ergibt sich Kontakt zu diversen „Arbeiterclubs“. Diese sind  nicht kommunistisch, sondern vereinsmäßige Gruppen, die sich zum Kampf  gegen die eigentliche Arbeiterbewegung zusammengefunden haben. Diese  „Arbeiter“ sind natürlich keine Industriearbeiter, sondern Eisenbahner  u.ä. Diese Arbeiter gründen die DAP (Deutsche Arbeiterpartei), die  insofern sozialistisch ist, als dass sie sich anti-elitär geriert. Dadurch  besitzt sie die Voraussetzung, Massenpartei zu werden. In diese Partei  wird Adolf Hitler hineingezogen. Sie verbindet Rassismus, völkisches  Denken und Antisemitismus (für Hitler auch wegen des hohen Judenanteils  von Wien und Lemberg prägend), die sich zum „Wiener Antisemitismus“  vereinigen.
| Heinrich Himmler 1942 | 
Ebenfalls  wichtig ist der Antikommunismus bzw. Antibolschewismus, der teilweise  im kommunistischen Gewand daherkommt (man denke an den Streik von 1932).  Wie die Kommunisten benutzen die Nationalsozialisten die Farbe Rot als  Grundton der Propaganda. Dadurch stellen sich beide Richtungen  fundamental gegen die bürgerliche Gesellschaft aus wilhelminischem oder  europäischem Kontext. Auch das Schwarz-weiß-rot der Hakenkreuzfahne ist ein  Kontrast zur schwarz-rot-goldenen Fahne der Weimarer Republik wie auch zur  rein roten Fahne der Kommunisten. Die  NSDAP ist per se nicht nur antibürgerlich, sondern versucht das Bürgertum zu  nutzen, biedert sich ihm an. Somit suggeriert der Nationalsozialismus den  Bürgerlichen trotz des revolutionären Kerns seiner These, dass er  relativ harmlos ist und man über gemeinsame Ziele verfügt. Ein weiterer  Feind der Nationalsozialisten sind die Sozialdemokraten. Sie sind der  Kardinalfeind für beide Gruppen, weswegen sich Kommunisten und  Nationalsozialisten punktuell verbünden.
| Joseph Goebbels | 
Die  Mitte der 1920er Jahre werden gerne als Goldene Jahre bezeichnet; das  waren sie jedoch letztlich nur für die Antirepublikaner. Denn statt des  Systems wurden hauptsächlich die rechten antirepublikanischen Kräfte  stabilisiert. Deutlich stehen dafür die beiden Reichspräsidentenwahlen.  1925 starb Friedrich Ebert; ein neuer Reichspräsident musste gewählt  werden. Es gab drei Kandidaten: Hindenburg, pensionierter Militär,  Wilhelm Marx (Zentrum) und KPD-Chef Ernst Thälmann. Hindenburg erhält  etwa 49% der Stimmen, Zentrum 45% und KPD 6%. Alle Rechten wählten  Hindenburg; mit der KPD wäre Hindenburg nicht Reichspräsident geworden  und hätte wohl weder die Präsidialherrschaft der Ära Brüning begonnen  noch Hitler zum Kanzler gemacht. 1932 traten Hindenburg, Hitler und  Thälmann an. Wieder gewinnt Hindenburg; dieses Mal mit den Stimmen  derer, die 1925 Marx wählten – Hindenburg war die wenigsten schlimme  Wahl. Es gab also eine gravierende Verschiebung der politischen  Verhältnisse innerhalb der deutschen Gesellschaft. Demokraten gibt es  bei dieser Wahl überhaupt nicht mehr zur Auswahl. Das ist das Ergebnis  dieser „Stabilisierungsphase“ der Weimarer Republik und ihrer „Goldenen  Jahre“.
Diesen  Wechsel vor Augen ergibt sich folgendes: starke politische Führung und  klare politische Willensbildung sind nach den unsicheren Zeiten am Ende  des Ersten Weltkriegs erwünscht. Von Seiten des Nationalsozialismus wird das mit Führerkult und Gewalt bedient; das stößt 1925 noch auf Skepsis,  1932 schon nicht mehr. Dazu kommt der Einparteienstaat durch Diktatur  einer Partei und Beseitigung des parlamentarischen Systems unter der  Propagandaformel der Volksgemeinschaft. Dadurch rücken die  Nationalsozialisten bis in die Nähe der 40%, ohne jemals die absolute  Mehrheit zu erreichen; die Akzeptanz des Nationalsozialismus und die  Ablehnung des parlamentarischen Systems jedoch sind im Volk breit  verankert. Es handelt sich also um keine Machtergreifung, sondern eine  Homogenisierung von Politik und Gesellschaft, die aus Aversion vor dem  demokratischen Prinzip selbiges abgeschafft sehen wollte. Der  Nationalsozialismus ist so nicht über die Deutschen gekommen, sondern  genuin aus ihnen hervorgewachsen. 
| Ausstellung zum Thema Lebensraum 1942 | 
Der  Jurist Carl Schmitt hatte sofort bei der Machtergreifung 1933 daran  mitgewirkt, die bürgerliche Rechtsordnung so umzuinterpretieren, dass  etwas vollkommen anderes herauskam: „Je mehr sich die alte  Gesetzesjurisprudenz selbst ad absurdum führt, umso mehr wird unsere  Bewegung wachsen.“ Oder: „Überall schafft der Nationalsozialismus eine andere Ordnung.  Von der NSDAP angefangen bis zu den zahlreichen neuen Ordnungen, die wir  vor uns wachsen sehen. Alle diese Ordnungen bringen ihr inneres Recht  mit sich. Unser Streben hat die Richtung lebendigen Wachstums auf seiner  Seite und seine neue Ordnung kommt aus uns selbst.“ Daraus ergibt sich  ein System der reinen Willkür und Rechtsbeugung. Heidegger sagte in  seiner Rektoratsrede: „Sich selbst das Gesetz geben ist höchste  Freiheit.“ Damit wird der aufklärerische Freiheitsbegriff widerrufen.
| Titelblatt der Rassengesetze | 
Der  Siegeszug des Faschismus und Nationalsozialismus hatte viele  Konsequenzen. Erstens wurde die Sowjetunion vom internationalen Pariah  zum anerkannten Staat. Das hängt auch damit zusammen, dass der  Kommunismus seine Wurzeln ebenso wie der Liberalismus in der Aufklärung  und der französischen Revolution hat. Zweitens gab es eine gewaltige  Emigrationsbewegung, besonders der „Feinde der Bewegung“ - Kommunisten,  Gewerkschaftler, Sozialdemokraten, Juden, Wissenschaftler, Künstler. Zum  Dritten steht natürlich der extreme Antisemitismus, der seinen Niederschlag  nicht erst in der Shoah, sondern auch in den Pogromen der 1930er Jahre  fand. Die Voraussetzung für die Emigration war meist, die tödliche  Gefahr zu erkennen, die der Nationalsozialismus in sich barg. Unter den  Emigranten gab es auch die Hoffnung, dass das Ganze nicht allzu lange  anhalten könnte. Besonders für Wissenschaftler war es logisch nicht  nachvollziehbar, dass aus rassischen Motiven (vulgo: irrationalen) ein  solcher Kulturverlust impliziert werden könnte. Der Kulturverlust ist  für Deutschland bis heute nicht ersetzbar gewesen. Die Aufweichung  bekannter Fronten durch den Hitler-Stalin-Pakt und die Anti-Hitler-Koalition  birgt für viele vormals überzeugte Kommunisten die Umwendung zu  radikalen Antikommunisten und auch den Nährboden für die  Totalitarismustheorie. Diese erlangte im so genannten "Historikerstreit" große Bedeutung. 
Der Historikerstreit
Ernst  Nolte publizierte 1963 das Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“. Es  entstand zwischen 1957 und 1962, der Phase der Berlin- und der  Kubakrise. Es ist insofern geprägt vom Kalten Krieg, was sich dergestalt  niederschlägt, als dass die Definition „Faschismus ist Anti-Marxismus“ ohne  Einbezug des Antisemitismus getätigt wird. Als nächstes erschien 1974  „Deutschland und der Kalte Krieg“, das in der HZ (Historische Zeitschrift) massiv angegriffen  wird, weil es enthält, dass es unter bestimmten Bedingungen eintreten  könnte, dass jeder Staat seine „Hitlerzeit“ durchlaufe. Der  zeitgeschichtliche Zusammenhang besteht in diesem Fall aus den Kriegen  des Nahen Ostens und dem palästinensischen Terrors. 1983 erschien dann  „Marxismus und industrielle Revolution“. Es beschäftigt sich mit England  im 19. Jahrhundert und der Frage, welches die Vordenker der  marxistischen Theorie waren. An diesem Buch arbeitet Nolte seit etwa  1976/77. Alles, was er in dieser Zeit zum Faschismus publiziert, ist von  diesen Forschungen geprägt. So entdeckt Nolte bei einem englischen  Bevölkerungstheoretiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Erkenntnis,  dass der Boden die Bevölkerung irgendwann nicht mehr ernähren könne. Er  postuliert zur Lösung die Trennung von Geschlechtern bei den  Proletariern, um deren Vermehrung einzuschränken. Darin zeigt sich auch  die Abneigung der Bürger vor den Proletariern. Die Kinder könnten durch  Gas eliminiert werden. Die Assoziation zur Judenvernichtung der  Nationalsozialisten ist damit klar. In dem Buch formuliert Nolte auch  die These, dass, wenn es dahin komme, dass eine gesellschaftliche  Schicht ohne individuelles Verschulden mit Vernichtung bedroht ist (wie  die Bourgeoisie durch die marxistische Theorie), dann muss sie sich auch  von der Vernichtung bedroht fühlen. Das Besondere ist, dass hier eine  Schicht ohne Verschulden bedroht ist. Auf diese anonyme  Vernichtungsdrohung reagiert die Bourgeoisie mit „Angst“. Die „Angst“  der Bourgeoisie macht sie potenziell dazu bereit, auf die  Vernichtungsdrohungen seitens des Marxismus’/des Proletariats mit  eigenen Vernichtungsgedanken zum Schutz zu reagieren. Diese Thesen  beeinflussten Noltes Reflexion auf den Nationalsozialismus. Diese Thesen  wurden um 1980 im Umfeld der Arbeiten am Marxismusbuch geäußert.
| Jürgen Habermas | 
1980 endet endgültig „Das Rote Jahrzehnt“. Damals dominierten neo-marxistische Gesellschaftsanalysen. Die Gesellschaft war hochgradig politisiert. Stefan Aust meinte einmal, in den 1970er Jahren sei jeder Tag das „Jahr der Geisteswissenschaften“ gewesen, um das entsprechende Schavan-Projekt zu zitieren. In dieser Zeit der 1980er Jahre entstand hochgradige Nervosität in der Gesellschaft, als die 1970er Modernisierung an ihr Ende kam. In dieser Zeit entstand eine Nostalgie und Rückbesinnung; Kohl forderte einen „aufrechten Gang“ und ein Bekenntnis zu Geschichte und Nation. Auf Druck verschiedener Interessensgruppen entstanden zwei Museen, das Haus der Geschichte und das Deutsche Historische Museum. Historiker wie Habermas, Wehler und Mommsen fürchteten nun, dass ein Geschichtsbild von der Kohlregierung festgeklopft werden sollte. Neben Kohl trat auch dessen Konkurrenz Weizsäcker auf, der im Bundestag eine Rede zum „Tag der Befreiung“ im Ton der damaligen political correctness hielt, die implizit der Kohl’schen Geschichtspolitik widersprach. Zwischen dem Syndrom Kohl (Suche nach Identität) und dem Syndrom Weizsäcker (Schuldbewusstsein) hatte sich um 1985/86 ein tiefer Graben aufgetan. Deswegen nimmt es nicht wunders, dass 1986 der Historikerstreit begann. Die bundesdeutsche Linke hatte seit 1970 nur einen stabilen Bezugspunkt, nachdem der Marxismus 1959 bzw. 1963 (DGB) eliminiert wurde: Modernisierung. Das ging solange gut, wie die Modernisierung mit dem Geist der Sozialdemokratie harmonisierte. Um sich links zu fühlen, blieb damit nur das Element des Antifaschismus übrig. Deswegen konnte das an sich abseitige Thema des Historikerstreits auch diese Brisanz erreichen. Die Linke gewann den Streit und sicherte das sozialliberale Klima bis in die frühen 1990er Jahre hinein. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus war allerdings auch das am Ende, besonders mit dem Beginn der Diskussion nicht-deutscher Historiker über Mordzahlen von Kommunismus und Faschismus.
Bildnachweise:
Abzeichen - unbekannt (gemeinfrei)
Eisner - Robert Sennecke (gemeinfrei)
Himmler - Friedrich Franz Bauer (CC-BY-SA 3.0)
Goebbels - Heinrich Hoffmann (CC-BY-SA 3.0)
ausstellung - Krajewsky, M (CC-BY-SA 3.0)
Gesetzblatt - Lumu (gemeinfrei)
Habermas - Wolfram Huke (CC-BY-SA 3.0)
 
Hmmm....war der sowjetische Sozialismus jetzt national oder international angelegt und war er weniger aggressiv ? Die SU hat ja bis 1941 auch ein paar Länder überfallen...
AntwortenLöschenIn seiner Natur eher national und aggressiv, aber seine Außendarstellung, seine Präsentation, waren international und pazifistisch.
AntwortenLöschenHallo,
AntwortenLöschenschöner Artikel (wie immer :-) )
Möglicherweise ein kleiner Fehler: War die Weimarer Fahne nicht Schwarz-Rot-Gold?
Ups, ja, korrigiert.
AntwortenLöschen@ Stefan Sasse
AntwortenLöschen"In seiner Natur eher national ...."
Hmmm, was meinst Du mit "national" ?
Dass er in Begriffen von Nation denkt und weniger in den Begriffen des Internationalismus. Stichwort "Sozialismus in einem Land". Stalin dachte nicht in Begriffen der Weltrevolution, sondern in Reichen und Einflusssphären.
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