Montag, 26. April 2021

Die verdrängte Dekade, Teil 1: Das kürzeste Jahrhundert aller Zeiten

 

Im Jahr 1997 gründeten Dick Cheney, Robert Kagan und Bill Kristol den Thinktank "Project for a new American Century". Die Denkfabrik, die schnell auf eine prominente Mitgliederliste verweisen konnte, die zahlreiche spätere Mitglieder der Bush-Regierung sowie viele ehemalige Reaganites enthielt, formulierte in einem "statement of principles":

As the 20th century draws to a close, the United States stands as the world's preeminent power. Having led the West to victory in the Cold War, America faces an opportunity and a challenge: Does the United States have the vision to build upon the achievements of past decades? Does the United States have the resolve to shape a new century favorable to American principles and interests? [...] We seem to have forgotten the essential elements of the Reagan Administration's success: a military that is strong and ready to meet both present and future challenges; a foreign policy that boldly and purposefully promotes American principles abroad; and national leadership that accepts the United States' global responsibilities.

Bereits 2006 wurde die Denkfabrik wieder aufgelöst, nicht ohne sich den berechtigten Ruf erarbeitet zu haben, eine der einflussreichsten Lobbyorganisationen aller Zeiten gewesen zu sein. Spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten 2016, der eine Strategie des "America First" und eine völlige Ablehnung wertebasierter Außenpolitik formulierte, war diese Theorie am Ende. Das "neue amerikanische Jahrhundert" hatte also kaum zwei Jahrzehnte geschafft. Das war mehr als das tausendjährige Reich zustandebekommen hatte, zugegeben.

Aber da die USA nicht einen Weltkrieg entfesselt und verloren hatten, stellt sich durchaus die Frage, was hier passiert ist. Warum wurde das kraftstrotzende Amerika, das in den 1990er Jahren eine Stellung als "Weltpolizist" beanspruchte und eine "unipolare Weltordnung" durchzusetzen gedachte, innerhalb zweier Dekaden zu einer Macht, die erst ihr Heil in einem neuen Multilateralismus zu finden hoffte und dann einen radikalen Schwung zum Nationalismus hinlegte?

Die erste Ursache liegt sicherlich im "War on Terror" begründet. Nach dem Angriff auf das World Trade Center 2001 genoss Amerika eine Welle internationaler Sympathie und Solidarität, die sich sogar auf globale Rivalen wie Russland erstreckte. In schneller Folge wurde Afghanistan angegriffen, wo man die Herrschaft der Taliban beendete, die Osama bin Laden und seiner Al Qaida Unterschlupf gewährt hatten.

Dieses Kapital verschwendete die Regierung allerdings schnell, als sie mit aller Gewalt auf Krieg gegen den Irak drängte. Ohne Chance auf ein UN-Mandat entschied sich die Bush-Administration, den Völkerrechtsbruch stattdessen als Tugend zu verkaufen und sich als hemdsärmelig handelnder Weltpolizist mit einer "Koalition der Willigen" allein an den "regime change" zu machen. Das Ziel war ambitioniert: der Irak sollte befreit und in eine liberale Demokratie verwandelt werden, ein Modell für die Umgestaltung der gesamten Region.

Wo der Afghanistankrieg noch als Verteidigung hatte gerechtfertigt werden können (man denke an Peter Strucks berühmte Worte, Deutschland werde "auch am Hindukusch verteidigt"), war der Irakkrieg ein klar aggressiver Akt, der dazu diente, eine Nation nach dem Willen ihrer Eroberer umzuformen. Hierfür konnten die USA nicht einmal ihre Verbündeten zuverlässig mobilisieren. Frankreich und Deutschland versagten ihm die Gefolgschaft, wenngleich die Rekrutierung besonders Osteuropas aber bereits auf deutliche Defizite in der europäischen Integrationskraft hindeutete (mehr dazu in Teil 4).

Der Versuch, die fehlende Unterstützung mit umso markigerem Auftreten zu kaschieren, zerschlug weltweit eine Menge Porzellan. Das positive Image der USA erhielt innerhalb weniger Monate einen Schlag, von dem es sich bis heute nicht erholen konnte. Der Anti-Amerikanismus feierte weltweit fröhliche Urständ; 2002 sollte Gerhard Schröder damit eine Wahl gewinnen, eine Leistung, die er 2005 beinahe wiederholt hätte ("Wer Frieden will, muss standhaft sein", plakatierte die SPD seinerzeit). Es war, als hätte sich die Nation eine Maske vom Gesicht gerissen. Der "hässliche Amerikaner" (ugly American) stand vor aller Welt als Kriegstreiber dar, wie es seit den Vietnamprotesten der 1960er Jahre nicht mehr gesehen worden war. Immerhin blieb uns eine Solidaritätswelle mit Saddam Husseins Regime erspart.

Militärisch und machtpolitisch dagegen schien sich der Zug auszuzahlen. Noch 2003 konnte George W. Bush, sich als "Kriegspräsident" inszenierend, in Fliegermontur auf einem Flugzeugträger unter einem riesigen Banner verkünden, dass die Mission abgeschlossen sei ("mission accomplished"). Selten war die Haut des Bären so offenkundig verkauft worden, bevor man ihn erlegt hatte. Zwar war das morsche Hussein-Regime unter dem Hammerschlag des geradezu lächerlich überlegenen US-Militärs schnell in sich zusammengefallen, Hussein selbst bald gefangen und hingerichtet, aber die versprochene Demokratisierung wollte sich nicht einstellen. Stattdessen begann im Irak ein Bürgerkrieg, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist und der ohne Intervention anderer Mächte wohl längst zur Auflösung des Landes geführt hätte.

Damals aber galt immer noch die Devise, dass man gegen den weltweiten Terrorismus kämpfe. Wen auch immer amerikanische Militär im Irak tötete, war genauso per Definition ein Al-Qaida-Terrorist wie in Vietnam beim bodycount nur Vietcong gezählt wurden. Diese Fiktion, die Bush 2004 noch einen klaren Wahlsieg ermöglichte, brach nur Wochen später zusammen. In der "zweiten Schlacht von Falludjah" im Dezember 2004 kämpften die USA in den "heftigsten Stadtkämpfen seit der Schlacht um Hué 1968", dem blutigsten Einzelgefecht des ganzen Krieges, bereits vollständig gegen Aufständische, die nichts mehr mit dem Ba'ath-Regime oder Al-Qaida zu tun hatten. Die Fiktion, dass das Land in einem überschaubaren Zeitraum befriedet werden könnte, endete für viele Beobachter*innen auf den Schlachtfeldern der Stadt.

Der Irakkrieg blieb jedoch durch die ganze Bush-Regierung hindurch ein Dauerthema. 2006 wurde die Zahl der US-Truppen massiv aufgestockt (die "surge"), wodurch die Gewalt kurzfristig ein wenig zurückging. Den Neocons gilt die "surge" seither als Beweis, dass der Irakkrieg hätte gewonnen werden können. Im Wahlkampf 2008 versuchte John McCain, einer der stärksten Proponenten dieser Politik, damit Punkte zu machen, konnte aber bereits gegen Obamas Ablehnung des Krieges und seiner Ankündigung, im Fall seiner Wahl die Truppen aus dem Irak abzuziehen, bereits nicht mehr ausrichten. Im Wahlkampf 2012 vermied Mitt Romney das Thema bereits, während Donald Trump 2015 seinen Konkurrenten Jeb Bush offen damit angreifen konnte, den Krieg unterstützt zu haben. Das ist ein massiver Meinungsumschwung innerhalb einer sehr kurzen Zeit.

Dieser Meinungsumschwung betraf nicht nur den Irak. Die Rechtfertigung des Krieges als Projekt des "regime change", dem Gestalten einer ganzen Region nach amerikanischen Prinzipien, wurde damit ein tödlicher Stoß versetzt. Das "neue amerikanische Jahrhundert" war bereits 2006/2007 am Ende. Das Töten und Sterben im Irak ging weiter und zieht sich bis heute fort, wenngleich unter ständig wechselnden Vorzeichen. Aber der Legitimitätsverlust, den die Intervention mit sich brachte, zeigte bereits kurze Zeit später deutliche Konsequenzen.

Als 2011 im Rahmen des beginnenden "Arabischen Frühling" ein Aufstand gegen den lybischen Diktator Gaddafi ausbrach, hielten sich die USA bereits merklich zurück. Obama, der die Devise des "leading from behind" ausgegeben hatte, drängte die europäischen Verbündeten, diesen Konflikt selbst zu regeln. Dies schlug spektakulär fehl (siehe Teil 4). Anstatt beim Schutz Benghasis zu bleiben, der durch ein UN-Mandat geregelt war, setzten sich innerhalb der US-Administration aber diejenigen Kräfte durch, die eine Maximallösung begrüßten.

Der folgende Luftkrieg beseitigte zwar Gaddafi. Er schürte aber gleichzeitig neues, weltweites Misstrauen (siehe Teil 3) und fachte einen Bürgerkrieg in Libyen an, der bis heute nicht abgeschlossen ist und der das Land in einen Tummelplatz von Stellvertreterkriegen gemacht hat. Von der Türkei über Russland zu Italien haben zahlreiche Regionalmächte irgendwelche bevorzugten Milizen und verschleppen jede Auflösung des Konflikts ins Unendliche.

Das Libyen-Desaster führte zu einer endgültigen Abkehr von großen Interventionen, die sich dann 2012 in Syrien zeigte: Obwohl der syrische Diktator die "roten Linien" der US-Regierung überschritt und in brutalen Massenmorden gegen die eigene Bevölkerung vorging, fand sich in den USA keine Mehrheit mehr für eine Intervention. Bemerkenswert ist, dass selbst die Republicans, die noch kaum sechs Jahre vorher mit Begeisterung zehntausende Soldaten in die Region mobilisierten, nun kein Problem hatten, jede Intervention zu verurteilen - ein Sinneswandel, den Kandidaten wie Jeb Bush 2015 völlig übersahen und der die Türe für Trump öffnen half.

Militärisch waren die USA immer noch die unangefochten stärkste Nation der Welt. Aber der Glaube an die Kapazitäten dieser Armee war schwer erschüttert, die Grenzen amerikanischer Militärmacht deutlich aufgezeigt. Seither ist ein klarer Strategiewechsel auszumachen .Es geht mehr um Verteidigung der eigenen Interessen, um das Eindämmen möglicher und aktueller Rivalen und das Abschrecken von Konflikten. Zwar feuert man noch den einen oder anderen Marschflugkörper in Bürgerkriege hinein, aber "boots on the ground" finden sich dort nicht mehr.

Diese Krise des amerikanischen Selbstvertrauens (oder seine Gesundschrumpfung, je nach Sichtweise) erstreckte sich aber nicht nur auf den militärischen Bereich. 2005 tobte der Hurrikan Katrina über der amerikanischen Südostküste und verheerte besonders die Metropole New Orleans in Louisiana, einem der ärmsten US-Bundesstaaten. Dass die noch nie sonderlich funktionsfähige Infrastruktur des Bundesstaates zusammenbrechen würde, konnte niemanden überraschen. Sehr wohl dagegen die katastrophale Reaktion der Bundesbehörden.

Nicht erst seit 9/11 waren diese mit einer gewaltigen Machtfülle ausgestattet worden, die innerhalb der USA für zahlreiche Proteste gesorgt hatte. Unter Bush war eine komplett neue Mega-Behörde, das "Department of Homeland Security", entstanden. Doch während die massiven Gelder dort der Abwehr echter oder eingebildeter terroristischer Bedrohungen investiert wurden, wurden die Budgets anderer Behörden im Einklang mit der Ideologie der Konservativen massiv zusammengestrichen - unter anderem das der Katastrophenschutzbehörde FEMA.

Der Zusammenbruch dieser Infrastruktur und die anarchischen Zustände im Katastrophengebiet enthüllten deutlich die innere Verfasstheit der USA, die eher einem Entwicklungsland als einer Supermacht angemessen schien. Ohne die Katastrophe überbewerten zu wollen zeigte sich aber exemplarisch, wie wenig die Kompetenz Amerikas dem oftmals propagierten Leitbild entsprach.

Die größten Langzeitfolgen für die Position der USA dürfte aber das fast gleichzeitige Scheitern der Handelsabkommen TTIP und TPP haben.

Das "Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership" sollte ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA sein, das Handelshemmnisse zwischen den beiden größten Wirtschaftsräumen der Erde abbauen und die wirtschaftliche Integration stärken sollte. Dieses Abkommen stieß zunehmend auf höhere Hürden politischer Natur. Die Institution der Schiedsgerichte sorgte für Kritik, aber wesentlich stärker nahmen sich populistisch-reißerische Attacken der Boulevardpresse aus. In Deutschland besonders prominent pushte die BILD das "Chlor-Hühnchen" und das Grünen-nahe Alternativenmileu die Ablehnung genetisch modifizierter Landwirtschaftsprodukte. Auch in den USA wurde mit solchen Ängsten Kapital geschlagen.

Die Verabschiedung des Abkommens, das durch ständig neue Verhandlungsrunden modifiziert wurde, verzögerte sich eins ums andere Jahr. Am Ende stand zunehmend in Zweifel, ob die Ratifizierung in allen EU-Staaten würde gelingen können; mehrere Regierungen waren wenigstens unsichere Kandidaten. Auch in den USA verlor es zunehmend Unterstützer*innen. Als Trump Präsident wurde, war das Abkommen dann auch klinisch tot.

Wesentlich einseitiger verlief dagegen die Entwicklung der "Trans Pacific Partnership", die so disparate Partner wie Australien, Vietnam und Südkorea mit den USA in eine gemeinsame Freihandelszone bringen sollte. TPP war integraler Bestandteil von Obamas "pivot to Asia", einer strategischen Neuausrichtung der USA auf den pazifischen Raum und, vor allem, der Eindämmung Chinas. Die betroffenen Staaten waren aus diesen geopolitischen Erwägungen heraus mehr als daran interessiert, sich stärker in die amerikanische Sphäre zu integrieren.

Trump zog nach seiner Wahl auch hier den Stecker. Die Tatsache, dass die anderen Staaten auch ohne die USA das Abkommen zu Ende brachten zeigt, dass - anders als bei TTIP - die TPP ein rein amerikanischer Rückzug war. Ob Biden die USA in das Abkommen zurückführen wird bleibt offen. Die Eindämmung Chinas jedenfalls ist ein Fixpunkt amerikanischer Außenpolitik seit der Obama-Ära, wird aber bislang ohne eine kohärente Strategie verfolgt. Das Bekenntnis der Supermacht zum Pazifik aber geht stets einher mit einem Rückzug aus Europa und dem Nahen Osten. Der globale Führunganspruch, der globale Machtanspruch, wie ihn noch George W. Bush mit Selbstvertrauen und Selbstverständlichkeit vertreten hatten, war bereits unter Obama einem Realismus der eigenen beschränkten Möglichkeiten gewichen.

Das Scheitern der beiden Handelsabkommen aber sollte für die USA eher Baustein des liberalen Gebäudes sein, unter dem die amerikanische Politik bis dahin selbstverständlich gehandelt hatte. Dieses Gebäude wurde 2007 von einem Erdbeben erschüttert, das es zum Einsturz bringen sollte. Von den USA als Epizentrum breitete sich zum zweiten Mal innerhalb von 80 Jahren eine Weltwirtschaftskrise über den Globus aus, die die liberale Weltordnung in ihren Grundfesten erschütterte.

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