Freitag, 3. Juni 2022

Eine Einordnung des Ukrainekriegs – Vortrag von Prof. Klaus Gestwa (Teil 2: Fragen)

 


Die folgenden Fragen kamen von den Zuhörenden und sind, genauso wie Gestwas Antworten, paraphrasiert. Es handelt sich also nicht um wörtliche Mitschriebe, sondern sinngemäße Notizen dessen, was gesagt wurde. Deswegen ist die Reihenfolge mitunter nicht so kohärent wie im eigentlichen Vortrag. Ich habe auf ein Lektorat verzichtet, um die Integrität nicht zu zerstören.

Frage: Zum Nazismus-Begriff: wir verbinden damit auch Antisemitismus. Aber die ukrainische Rechte beschwört ja auch Überlegenheit der ukrainischen Rasse und war im Maidan 2014 aktiv. Wie ist das zu beurteilen?  

Gestwa: Ja, die Rechtsextremen in der Ukraine trugen zu der Gewalteskalation bei. Es gibt die Swoboda (10% zusammen mit dem rechtsextremistischen Sektor), die einige Monate mit an der Regierung waren. Aber: sie verloren in den Wahlen 2014 mehr als die Hälfte ihrer Mandate. Bei den Wahlen 2019 hat sich der Anteil noch einmal halbiert. Im ukrainischen Parlament sitzt heute nur ein Rechtsextremist (von 450 Abgeordneten), da sind im deutschen Parlament mehr. Diese Kräfte waren daher am Identitätsfindungsprozess praktisch nicht beteiligt.

Das Asow-Regiment auf der anderen Seite war in der ersten Phase des Krieges ein Zusammenschluss von Rechtsradikalen. Auf die Gefahr ist von europäischer Seite immer wieder hingewiesen worden, und die Ukraine versuchte auch, das Regiment einzubeziehen, was man durchaus kritisch sehen kann. Die Zusammensetzung des Regiments hat sich seither aber verändert; es hat sich entradikalisiert (wenngleich es immer noch gewaltbereit und rechts). Und es war auch das Asow-Regiment, das das Stahlwerk Mariupol verteidigte. Da sind von den Russen Schauprozesse an den Gefangenen zu erwarten.

Niemand leugnet die rechtsradikalen Umtriebe in der Ukraine; das Entscheidende ist aber, dass diese keinen großen Einfluss in Kiew haben und hatten. Man sollte nie vergessen, dass Selensky ein russisch sprechender Jude ist; die Vorwürfe Russlands sind also offenkundig absurd. Für Russland ist der Antisemitismusvorwurf politisch sehr wichtig, weil er im Westen (besonders in Deutschland) bestimmte politische Milieus leicht ansprechen lassen. Die ukrainischen Rabbis betonen auch jedes Jahr, dass es keinen organisierten Antisemitismus gebe (während es einzelne Übergriffe gibt), man fühlt sich nicht verfolgt; das jüdische Gemeinschaftsleben blüht.

Die russische Propaganda hebt dazu ja sehr auf den Status als „Befreiernation“ vom Nationalsozialismus ab, mitsamt Gleichsetzung Russlands und Sowjetunion. Nazi-Elemente (siehe Eurasismus) finden sich eher in der russischen Regierung, die auch begriffliche Anleihen vornimmt (Endlösung, Blitzkrieg). Es gibt eine neue Ideologie des „Raschismus“ (Verbindung von Nazismus und Großrussentum). Die Faschismusdebatte ist wenig tragfähig; es ist eine politische Debatte, und es fehlen vernünftige Konzepte, autoritäre Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu labeln, weswegen wir die alten Vokabeln nutzen. Es ist kein „neuer Kalter Krieg“, Putin kein „Putler“ (Mischung aus Putin und Hitler).

Frage: Zur NATO-Osterweiterung: Putin nimmt die Eskalation ja für die Konsolidierung des Feindbilds NATO bewusst in Kauf. Wollte er vielleicht bewusst den Krieg nutzen, um dieses Feindbild zu schaffen? Um in einem neuen multihegemonialen System eine Rolle zu spielen?

Gestwa: Putin dachte sicherlich von Anfang an nicht nur an die Ukraine. Die Gelegenheit, noch einmal in die Offensive zu gehen und die als ungünstig empfundenen Bündnisstrukturen zu zerbrechen, wollte er nutzen. Man sieht das gut an den lächerlichen Vertragsentwürfen vom Dezember 2021 und der dahinterstehenden Drohung mit Krieg. Diese sind im Rahmen dieser strategischen Überlegungen zu sehen. Die Fehlkalkulation ist besonders bei Finnland und Schweden sichtbar, die erst durch diese Drohungen einen Meinungsumschwung hatten und vorher nie Mitglied werden wollten. Der Plan war aber eine immer Schwächung der NATO und der USA durch Abzug der letzteren.

Der Zeitpunkt war auch gut gewählt: die Corona-Krise hatte den Westen schwer erschüttert und die politischen Prioritäten verschoben, und die Traumata der Trump-Zeit und der furchtbar gelaufene Abzug aus Afghanistan hatten das US-Ansehen schwer beschädigt, dazu kamen Macron und sein Kommentar der „hirntoten NATO“ sowie steigende Energiepreise und dadurch volle Kriegskassen. Es schien also ein guter Moment zu sein. Die Zeit lief aus Sicht Putins wegen der Entkarbonisierung (Stichwort Klimakrise) ab; mittelfristig verschlecherte sich Russlands Situation massiv. Auch Selensky war innenpolitisch schwer in der Kritik, die Ukraine war gespalten.

Frage: Hätte man das alles mit der Rede 2007 in München nicht kommen sehen müssen? Warum haben wir keine Konzepte, wir haben doch Think-Tanks etc.?

Die US-Politik war fehlgeleitet; die Neocons haben es auf Konfrontation ankommen lassen. Russland seinerseits wehrte sich gegen die Möglichkeit einer Einbindung in die NATO-Sicherheitsstruktur; einerseits wegen seiner Großmachtattitüde („Wir sind nicht Slowenien“) und andererseits wegen seiner Ablehnung westlicher Werte, die heute Voraussetzung für eine Einbindung in die NATO/EU sind. Dazu kommt, dass Artikel 5 bei einer russischen Einbindung Kriegsgefahr in Asien mit sich bringen würde. Weitere Streitereien 2007 umfassten die russischen Ansprüche auf den Nordpol, die damals erhoben wurden. Damals begann auch der Beginn des Einzugs der Kalter-Krieg-Rhetorik. Diese Spannungen nahmen durch die Neocons 2008 mit ihrer verfehlten Georgien-Politik ein weiteres Mal zu.

Die intellektuellen Fähigkeiten der Thinktanks sind überschätzt. Besonders die amerikanischen konservativen Thinktanks stehen noch in der Tradition des 20. Jahrhunderts und haben deswegen nichts anzubieten. Mersheimer, Kissinger, Kenan etwa werden von Moskau und Wagenknecht ständig begeistert zitiert. Diese Leute verstehen nicht, dass sich alles neu sortiert hat. Es braucht neue Strukturen des Multilateralismus. In ökonomischen Thinktanks gibt es interessante Ansätze. Der Kommentar der Konzeptlosigkeit war weitgehend auf das eigene Fach bezogen, also osteuropäische Zeitgeschichte.

Frage: Es wird viel zwischen Putin und Russland differenziert. Inwiefern hülfe regime change à la Blinken und ist das realistisch?

Gestwa: Blinken sprach nicht von regime change, sondern davon, Russland zu schwächen. Biden wich im emotionalen Überschwang ab, aber das war kein Ausdruck von Strategie. Regime change wäre zu begrüßen, wenn er auf reformerischem und nicht blutigem Weg geschehen würde. Es ist nicht möglich, mit Putin und Lawrow Frieden zu schließen und zu halten, sie sind nicht mehr glaubwürdig. Sie haben offen gelogen und in bad faith verhandelt. Die Hoffnung wäre die auf Wandel im Kreml von innen, aber Putin hat die Kontrolle offensichtlich (noch) in der Hand. Es gärt zwar, aber der Druck reicht noch nicht. Man muss sehen, was passiert, die Lage ist schwer vorhersehbar. Die Strategie Putins ist irgendeine Form von Waffenstillstand und Herausschleichen aus den Sanktionen, um das Militär wieder aufzurüsten. Es geht um die Ukraine als Ganzes. Der Vernichtungswille gegenüber Ukraine wurde und wird massiv unterschätzt.

Frage: Welche politische Sicht haben Ägypten und andere von Weizenlieferungen aus der Ukraine abhängige Länder auf Russland? Machen sie Putin verantwortlich? Oder den Westen?

Ägypten bezieht sehr viel aus der Ukraine und versucht nun, stattdessen über die internationalen Organisationen Hilfe zu beziehen, bevor die Lage im Spätherbst kritisch wird. Ägypten ist auch eine Militärdiktatur, aber sehr westlich orientiert, und sieht deswegen Moskau in der Pflicht. Aber: wenn man so abhängig ist wie viele afrikanische Länder, lässt man sich auf viele mögliche Deals ein. Im Spätherbst ist damit zu rechnen, dass vieles in Bewegung geraten wird. Russland hat eine unglaubliche Arroganz gegenüber Afrika und nutzt Hunger aktiv als Waffe. Die Drohung wurde explizit gemacht. Man versucht mit aller Macht, die eigene Agenda durchzusetzen.

Frage: Was ist die Motivation der Putin-Versteher? Was ist das Spektrum? Was sind ihre Gründe?

Gestwa: Zur AfD gibt es wenig sagen, die ist indiskutabel. Mit der LINKEn gab es einen heftigen politischen Konflikt in Tübingen, aber es war schnell das Muster tiefer anti-amerikanischer Reflexe und „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ erkennbar. Eine gewisse kritische Selbstreflexion ist etwa bei Gysi und Bartsch erkennbar. Das „ja aber“ der LINKEn ist jedoch zu simpel, unerträglich, ein ideologischer Irrweg. Es gibt wenig Anlass, an eine innerparteiliche Erneuerung zu glauben.

Bedenklicher sind die Ostpolitik-Nostalgiker in der SPD. Die Ostpolitik war ein Glücksfall in den 70er und 80er Jahren, der Misstrauen ab- und Brücken aufbaute und Gorbatschow ermöglichte, indem sie einen Rahmen für Austausch schaffte. Aber Putin ist ein anderer Führer als Breschnew. Der russische Revanchismus ist nicht vergleichbar mit der Kommunistischen Internationale unter Breschnew. Die russische Propaganda wirkt heutzutage viel effizienter als in der UdSSR, auch im Westen.

Nordstream 2 war ein entscheidender Konstruktionsfehler wegen der Umgehung Osteuropas, weil Deutschland damit bereit war, bilateral mit Russland gegen die Interessen Osteuropas zu handeln. Diese Leute dachten rein wirtschaftlich, was, wie im Vortrag gesehen, ein Fehler war. Dass das 2015 unterschrieben wurde, ein Jahr nach Krimkrise, ging gar nicht. Die Ostnostalgie mit „Wandel durch Handel“ trug viel dazu bei.

Wir haben in Deutschland zudem ein sehr positives Russlandbild, vor allem durch Gorbatschow und kulturellen „Russland-Kitsch“. Das macht uns politisch blind gegenüber Russland. Wir müssen selbstkritisch schauen, wie sehr die russische Kultur vom Kreml benutzt wurde, um den Westen zu beeinflussen. Diese trug sehr zum Bild eines „friedlichen“ Russland bei.

Frage: Wie wird die Rolle Ungarns beurteilt?

Gestwa: Orban verschleierte seine engen Verbindungen zum Kreml sehr geschickt, indem er seine Politik innenpolitisch als „wir halten Ungarn aus dem Krieg heraus“ framte. Die enge Verbindung Orbans und Putins wurde propagandistisch ausgenutzt, und die Abhängigkeit Ungarns, der Slowakei und Tschechiens ist nicht zu leugnen. Aber dass Orban etwa die EU erpresst, um den Patriarchen von der EU-Sanktionsliste zu bekommen, ist ein No-Go. In Ungarn wie in Deutschland 2015 ist es die Zivilgesellschaft, die die Flüchtlinge integrieren muss, weil der Staat es nicht schafft. Orban scheint ziemlich fest im Sattel zu sitzen. Wünschenswert wäre, dass NATO und EU vom Einstimmigkeitsprinzip abrücken. Orban, PiS und Erdogan werden weiterhin Probleme machen. In Polen scheint die Lage weniger dramatisch, aber gerade die Türkei macht schwere Probleme bei der Frage der NATO-Erweiterung und spaltet den Westen ebenso.

Frage: Das alte Blockdenken wurde als veraltet markiert. Aber gibt es ein Risiko, dass Russland NATO-Staaten angreifen würde, auch wenn quasi ganz Europa in der NATO und/oder EU ist?

Gestwa: Geografie und Sozialwissenschaften beschäftigen sich schon lange mit der „Macht der Karten“, die Weltbilder im Kleinen transportieren. Wir müssen hier vorsichtig sein, weil auch Länder, die in einer Farbe auf der Karte angemalt sind, können trotzdem eigene Interessen vertreten (siehe Ungarn). Bündnisverpflichtungen sind also kein Automatismus zur Blockbildung; diversifizierte Außenpolitik ist weiterhin möglich. Genau das ist ja nach 1991 auch passiert.

Russland hat zudem so viele Ressourcen im Ukrainekrieg verloren, dass mittelfristig keine weiteren Aktionen möglich sind. Deswegen ist das Ziel der Moskauer Politik auch die Russifizierung des Donbass, um diesen annektieren zu können (Krim-Szenario) und sich dann aus den Sanktionen zu schleichen und gegen Ende der 2020er Jahre wieder aggressiv gegen die Ukraine zu werden. Daher ist weniger ein Angriff auf die NATO zu erwarten. Ein NATO-Beitritt der Ukraine ist völlig unrealistisch, auch mittelfristig. Weitere Ziele Putins sind eher Moldawien und Georgien. Auch (Nord-)Kasachstan ist ein potenzielles Einsatzfeld, weil das vorher putinfreundliche Land sich jetzt gegen ihn stellt; auch Belarus verwehrt sich gegen Putins Einfluss. Also gibt es auch hier agency der Nationalstaaten, die ihre eigenen Interessen durchsetzen. Stärkung der Ostflanke der NATO ist daher gegenwärtig alternativlos.

Frage: Welche Rolle werden die arabischen und afrikanischen Staaten spielen?

Gestwa: Der einzige klar auf Putin ausgerichtete Staat ist Syrien. Staaten wie Algerien und Marokko sind von russischen Getreidelieferungen abhängig. Es wird daher versucht, die Lieferungen zu kompensieren, aber zwei weitere Lieferanten (China und Indien) halten ihre Vorräte wegen der Dürre (da ist wieder der Bezug zur Klimakrise) zurück. Uns droht in Europa kein Getreidemangel, aber die Preise werden steigen.

Frage: Was ist im Falle eines Trump-Wahlsiegs 2024 zu erwarten?

Gestwa: Europa ist nicht in der Lage, ohne die USA die Stirn zu bieten. Die EU hat wiederholt als internationale Krisenmanager zu versagen, und eine „europäische Armee“ steht weiter nicht in den Sternen. Der Brexit schafft weitere Probleme. Das russische Atomwaffenpotenzial ist außerdem viel größer als das europäische; das Gleichgewicht kann nur dank amerikanischen Waffen aufrechterhalten werden. Ein amerikanischer Rückzug würde also das russische Erpressungspotenzial steigern. Das Versagen der russischen Armee in der Ukraine beruhigt demgegenüber ein klein wenig. Es wäre nicht auszudenken, wenn Trump immer noch im Amt wäre. Das ist extrem gefährlich.

Frage: Auch die UNO-Strukturen sind ja an ihre Grenzen geraten. Wird der Sicherheitsrat Raum für Symbolpolitik bleiben oder wird da etwas passieren?

Gestwa: Die Ebenen müssen auseinandergehalten werden. Der Sicherheitsrat ist das wichtigste UN-Kriterium und bräuchte eigentlich eine Reform. In der Generalversammlung konnte der Westen einige Prestigeerfolge erreichen. Dass auch die UN reformiert werden sollte, ist ja nicht unbedingt neu.

Nicht unterschätzt werden sollten aber die anderen UN-Organisationen wie das Welternährungsprogramm oder die WHO, die wichtige Rollen gespielt haben. Auch der IStgH ist zwar kein besonders scharfes Instrument für die Beilegung von Konflikten und für das Sorgen von Gerechtigkeit, aber wir haben schlichtweg keine anderen Instrumente.

Positiv ist zudem die schnelle Intervention der Internationalen Gemeinschaft, eine klare Verbesserung gegenüber der Jugoslawienkriege.

Frage: Die internationale Unterstützung Putins etwa durch südamerikanische Staaten oder China beruht ja auch auf dem Argument, dass die USA eigene Verbrechen begangen haben, etwa in Abu Ghraib. Wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen?

Frage: Es geht nicht um Messung mit zweierlei Maß, sondern die Kriegsverbrechen nicht miteinander zu vermischen. RT Großbritannien und RT Spanien waren sehr gut und erfolgreich darin, die Öffentlichkeiten entsprechend zu beeinflussen. Sie waren bis 2014 kritisch und gut darin, westliche Widersprüche aufzudecken. Nach 2014 kippte das aber, und die Sender wurden zu reinen Propagandamaschinen. Die Kritik an Abu Ghraib und Guantanamo bleibt zwar absolut berechtigt. Diese sind aber in der historischen Forschung gut aufbereitet und ist in der fachlichen Diskussion sehr präsent. Dies sollte nicht miteinander vermengt werden. Man kann putinkritisch sein und trotzdem die US-Politik kritisieren.

Frage: Eine Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte hat in Russland ja kaum stattgefunden. Was trifft hier am eher zu? Verleugnung? Oder ist das eine china-ähnliche Zensur?

Gestwa: Genauer ist das im Aufsatz „Putin als Chlio-Therapeut“ beschrieben. Die russische Geschichtspolitik lässt einem tatsächlich die Haare zu Berge stehen. Aber es gibt/gab in Russland viele Menschen, die sich um die Aufarbeitung verdient gemacht haben (etwa „Memoria“). Die Aufarbeitung vieler stalinistischer Verbrechen ist, wenn man sie denn lesen will, gut verfügbar. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach Aufarbeitung war in der späten Perestroika-Zeit sehr hoch. In den 1990er Jahren konnten etwa die Vergewaltigungen durch die Rote Armee oder die Bedeutung von Lend-Lease noch diskutiert werden; das ist heute praktisch nicht mehr möglich. Die wenigen verbliebenen Aktivist*innen sind hier massiver Repression ausgesetzt. Da in Russland die Elite zu zwei Dritteln aus Armee- und Sicherheitspersonal besteht, gibt es ein reges Interesse von oben, diese Aufarbeitung aktiv zu unterbinden, weil sie eigene Legitimität untergräbt. Deswegen werden die stalinistischen Verbrechen als eine Art Akt Gottes dargestellt (wo auch die orthodoxe Kirche wieder massiv eingebunden ist). Eine Beschäftigung mit der jüngeren Geschichte wurde also praktisch stillgelegt. Das Geschichtsnarrativ ist in sich auch völlig inkohärent; der Rote Faden sind Kriegserfolge und imperialistische Triumphe. So wird das auch in den Schulen vermittelt.

Frage: Wie sieht es mit dem organisierten Sport?

Gestwa: Die Rückabwicklung der „oligarchischen Spielwiesen“ (Kauf der westlichen Clubs durch Oligarchen) absolut angebracht. Auch hätten schon die Winterspiele in Soji nicht mehr stattfinden sollen. Russland sollte aus IOC und Co ausgeschlossen werden. Sportler*innen, die sich gegen Putin stellen, sollte Teilnahme unter internationaler Flagge ermöglicht werden. Gleiches gilt für Künstler*innen etc. Viele von ihnen haben sich in den Dienst von Putins Propaganda gestellt, und auch hier haben sich deutsche Institutionen immer wieder instrumentalisieren lassen.

Frage: Was ist Putins Endszenario?

Gestwa: Putin will nicht mit Selensky verhandeln, sondern ein neues Jalta, mit Xi Xinping, Biden und Co. Wir können Verhandlungen zwar begleiten, aber die Verhandlungen sind unbedingt auf Ukraine und Russland zu begrenzen. Deswegen war der Offene Brief auch so verheerend. Wenn Russland sein Ziel der Donbass-Annexion erreicht, dann liegt die Ukraine offen für eine neue Attacke und kann den Dnjepr als Grenze etablieren. Wir reden von rund 25% des ukrainischen Staatsgebiets!

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